Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Das Herbstwetter brach an, man übersiedelte in die Stadt, und Therese studierte in den Zeitungen, wie früher die Stellenangebote, andere, die ihr augenblicklich von Nutzen sein konnten. Eines Nachmittags stieg sie in einem alten Haus der inneren Stadt eine winkelige Treppe hinauf und saß wenige Minuten später einer freundlichen Dame von mittleren Jahren gegenüber, die von der Farbe der Fenstervorhänge in blaßrötliches Licht gebadet war. Der behagliche, in der Art eines bürgerlichen Salons ausgestattete Raum ließ den Beruf der Mieterin in keiner Weise ahnen, und Therese brachte ohne Scheu, wenn auch mit einiger Vorsicht, ihr Anliegen vor. Die freundliche Dame erwähnte, daß vor kaum einer halben Stunde eine junge Baronesse in gleicher Angelegenheit bei ihr vorgesprochen habe, und zwar schon zum zweitenmal in diesem Jahr. Sie erzählte Weiteres von ihrem vornehmen Kundenkreis, der sich bis in die allernächste Nähe des Hofes zu erstrecken schien, scherzte mild über den Leichtsinn der jungen Mädchen, kam dann ziemlich unvermittelt auf einen steinreichen Fabrikanten zu sprechen, der neulich mit einer Schauspielerin hier gewesen sei, und trug Theresen an, zwischen ihr und dem Fabrikanten, der seiner Geliebten schon müde sei, eine Bekanntschaft zu vermitteln. Therese empfahl sich mit dem Bemerken, daß sie sich die Sache überlegen und morgen wiederkommen 117 wolle. Als sie aus dem Tor trat, stand ein Herr da in dunklem Überzieher mit schwarzem, abgeschabtem Samtkragen und einer Aktentasche und musterte Therese von oben bis unten. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals hinauf, schon sah sie sich verhaftet, angeklagt, verurteilt, im Gefängnis – und erst als sie wieder in der Menge untergetaucht war, beruhigte sie sich allmählich.

Diese erste Erfahrung entmutigte sie übrigens nicht, und schon am Abend darauf begab sie sich zu einer Frau, die gleichfalls in der Zeitung Damen Rat und Hilfe angeboten, doch ihre Adresse erst auf briefliche Anfrage angegeben hatte. In einer vorstädtischen Hauptstraße, im dritten Stockwerk eines neugebauten Hauses, stand auf einer Tafel in goldenen Lettern der Name Gottfried Ruhsam zu lesen. Das nett gekleidete Stubenmädchen führte Therese in einen kleinen, beinahe eleganten Salon, wo sie eine Weile wartete und in einem Photographiealbum mit allerlei Familienporträts und Bildern bekannter Bühnenkünstler blätterte. Endlich trat ein Herr ein, der flüchtig grüßte und durch eine andere Tür wieder verschwand. Nach wenigen Sekunden schon kam er in Begleitung einer schlanken, nicht mehr ganz jungen Dame in bequemem, aber gut fallendem Hauskleid zurück, murmelte ein leises Pardon und verschwand wieder. Therese sah noch, wie Frau Ruhsam einen zärtlichen Blick der Türe zusandte, die er hinter sich geschlossen hatte. »Mein Mann«, sagte sie, und wie entschuldigend setzte sie hinzu: »Er ist meistens auf Reisen. Also, womit kann ich dienen, mein liebes Kind?« Therese drückte sich noch vorsichtiger aus, als sie es gestern getan; doch die 118 Frau verstand sie ohne weiteres und fragte sie einfach, wann sie die Wohnung bei ihr zu beziehen gedächte. Als sie aus Theresens Erwiderung entnahm, daß diese keineswegs plante, hier ihre Entbindung abzuwarten, wurde sie etwas steif und erklärte, daß sie sich zu dem, was Therese offenbar wünschte, nur in den seltensten Fällen zu entschließen pflege, und nannte dann sofort einen Betrag, für den sie ausnahmsweise das Risiko auf sich zu nehmen bereit sei. Er war unerschwinglich für Therese. Daraufhin riet ihr Frau Ruhsam, doch lieber keine Dummheiten zu machen, erzählte ihr von einem Herrn, der ein junges Mädchen erst geheiratet hatte, nachdem er erfahren, daß es von einem andern Mann ein Kind gehabt hatte, warnte Therese vor den annoncierenden Damen und erwähnte zwei, die erst in den letzten Tagen verhaftet worden seien.

Therese ging, hochrot und verwirrt. Wie traumbefangen wandelte sie unter einem lauen Herbstregen durch die Straßen der Stadt. Zufällig kam sie an dem Hause vorüber, in dem sie zuletzt mit Kasimir zusammengewesen war. Einem plötzlichen Einfall nachgebend, fragte sie beim Hausbesorger nach, ob Herr Tobisch vielleicht indes Briefe hier abgeholt habe, und erfuhr zu ihrem Erstaunen, daß es tatsächlich, und zwar erst gestern, der Fall gewesen war. Eine neue Hoffnung durchzuckte sie. Im nächstgelegenen Kaffeehaus schrieb sie an Kasimir einen Brief, der keinerlei Vorwürfe enthielt, nur leidenschaftliche Versicherungen ihrer unwandelbaren Liebe. Sie wolle nicht fragen, sie wisse ja, daß es im Leben eines Künstlers immer geheimnisvolle Dinge gäbe, ihr selbst gehe es vorzüglich, und sie sehne sich unendlich, ihn wiederzusehen, wo immer es sei, 119 wäre es auch nur für eine Viertelstunde. Sie hinterlegte den Brief bei dem Hausbesorger, schlief in dieser Nacht ruhig und erwachte mit einem unklar-wohligen Gefühl, als wenn ihr gestern etwas Angenehmes begegnet sei.


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