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Sechstes Kapitel.

»Er kommt …
Gleichgültig was er bringt; ihm liegt nur an
Es abzuliefern am bestimmten Gasthaus:
Ab gibt er das Erwartete, eilt weiter –
Ihn ficht nicht an, ob's Leid ob Freud enthält.«

Cowper, Beschreibung des Postboten.

Der blasse Gentleman trat in Mr. Mortons Laden, und indem er sich umsah, spähte er nach dem würdigen Herrn des Ladens, der einer kürzlich verheiratheten Frau Shawls zeigte. Er setzte sich auf einen Stuhl und sagte zu dem sich verbeugenden ersten Ladendiener:

»Ich will warten bis Mr. Morton selbst frei wird.«

Nachdem die junge Frau sieben Shawls genau besichtigt, und erklärt hatte, sie seyen wirklich schön, sagte sie: sie wolle sich bedenken, und ging weg. Jetzt näherte sich Mr. Morton dem Fremden.

»Mr. Morton,« sagte der blasse Gentleman, »Ihr habt Euch sehr wenig verändert. Ihr erinnert Euch meiner nicht mehr?«

»Guter Gott, Mr. Spencer! seyd Ihr es wirklich? Ei, wie lange Zeit es ist, daß wir uns zuletzt sahen! Ich bin sehr erfreut, Euch zu sehen, und was führt Euch nach N***? Geschäfte?«

»Ja, Geschäfte. Laßt uns hineingehen.«

Mr. Morton führte ihn in das Wohnzimmer, wo Mr. Tom, wieder auf seinem Schemel sitzend, die gestohlene Semmel hastig verdaute. Mr. Morton schickte ihn weg, um zu spielen, und der blasse Gentleman nahm einen Stuhl.

»Mr. Morton,« sagte er, mit einem Blick auf seinen Anzug, »Ihr seht, ich bin in Trauer. Sie gilt Eurer Schwester. Ich habe dieser frühen Neigung mich nie entschlagen können – nie!«

»Meiner Schwester! Guter Himmel!,« sagte Mr. Morton und wurde sehr blaß; »ist sie todt? Arme Katharine! – Und ich weiß nichts davon? Wann starb sie?«

»Vor wenigen Tagen erst; und – und,« sagte Mr. Spencer in großer Bewegung, »ich fürchte in Dürftigkeit. Ich war einige Monate auf Reisen abwesend gewesen; bei meiner Rückkehr letzte Woche las ich, als ich die Zeitungen durchsah (denn ich lasse sie immer heften), den kurzen Bericht von ihrem Prozeß gegen Mr. Beaufort vor einiger Zeit. Ich beschloß sie aufzusuchen. Es gelang mir, sie zu entdecken durch den Advokaten, dessen sie sich bediente; es war zu spät; ich kam in ihrer Wohnung an, zwei Tage, nachdem sie sie mit dem Grabe vertauscht hatte. Da beschloß ich, der armen Katharine Bruder aufzusuchen, um zu erfahren, ob Etwas geschehen könnte für die Kinder, die sie hinterlassen.«

»Sie hinterließ blos zwei. Philipp, der Aeltere ist recht gut untergebracht in R*** ; der Jüngere hat seine Heimath bei mir; und Mrs. Morton ist ihm eine Mut– das heißt, sie gibt sich viele Mühe mit ihm. Ach! und meine arme – arme Schwester?«

»Gleicht er seiner Mutter?«

»Sehr, in der Zeit, wo sie jung war, – arme, gute Katharine!«

»Wie alt ist er?«

»Etwa zehn Jahre, denk' ich; ich weiß es nicht genau; – viel jünger, als der Andere, und so ist sie also todt!«

»Mr. Morton, ich bin ein alter Junggesell,« (hier flog ein trübes Lächeln über Mr. Spencers Gesicht), »ein kleiner Theil meines Vermögens ist zwar meinen Verwandten zugesichert; aber das Uebrige ist mein, und ich brauche meine Einkünfte nicht. Der Aeltere ist vermuthlich alt genug, um anfangen zu können, sich selbst fortzuhelfen. Aber der Jüngere – vielleicht habt Ihr eigene Familie und könntet ihn entbehren?«

Mr. Morton bedachte sich und zog seine Beinkleider hinauf.

»Ha,« sagte er, »das ist sehr gütig von Euch. Ich weiß nicht – wir wollen sehen. Der Knabe ist jetzt außer dem Hause; kommt und speist mit uns um zwei Uhr – Hausmannskost! Ach, so ist sie also nicht mehr! – Ach leider! Ich will es aber inzwischen mit Mrs. Morton besprechen.«

»Ich werde mich einfinden,« sagte Mr. Spencer und stand auf.

»Ach!« seufzte Mr. Morton, »wenn doch Katharine Euch geheirathet hätte! sie wäre eine glückliche Frau geworden!«

»Ich hätte mir alle Mühe gegeben, sie dazu zu machen,« sagte Mr. Spencer, indem er das Gesicht wegwandte und sich verabschiedete.

Zwei Uhr schlug es – aber kein Sidney kam. Man hatte an den Ort geschickt, wohin man ihn gesendet; er war dort nicht angekommen. Mr. Morton wurde unruhig; und als Mr. Spencer zum Essen kam, war sein Wirth fort, um den Entlaufenen zu suchen. Er kehrte erst um drei Uhr zurück. An diesem Tage dazu verurtheilt, beim Frühstück und beim Mittagessen verspätet zu werden, beschloß er deßhalb, sich von Sidney zu trennen, falls man ihn fände. Mrs. Morton war überzeugt, daß das Kind nur trotze, und bald genug heimkommen werde, wenn es hungrig sey.

Mr. Spencer suchte sich zu zwingen, ihr zu glauben, und aß seinen Hammelsbraten, der zu Kohlen verbrannt war; aber als es fünf, sechs, sieben Uhr wurde, und der Knabe immer noch fehlte – da stimmte selbst Mr. Morton mit ein, daß es hohe Zeit sey, eine regelmäßige Nachforschung anzustellen. Die ganze Familie machte sich nach verschiedenen Richtungen auf den Weg. Es war zehn Uhr, als sie sich wieder vereinigten; und dann war Alles, was sie von Nachrichten zusammengebracht, dieß, daß ein Knabe, auf den die Beschreibung Sidney's paßte, mit einem jungen Mann in drei Gegenden der Stadt gesehen worden sey; zuletzt noch in der Vorstadt, auf der Straße nach den Manufakturdistrikten.

Diese Nachrichten beruhigten Mr. Morton in so weit, daß er die ihn mit Schauder erfüllende Furcht aufgab, welche seine Seele beschlichen hatte: Sidney möchte sich ertränkt haben! denn Knaben ertränken sich wirklich manchmal! Die Beschreibung des jungen Mannes traf so auffallend zusammen mit dem Aeußern von Mr. Spencers Reisegefährten, daß er nicht zweifelte, es sey Einer und derselbe; und um so mehr bestärkte er sich in dieser Ueberzeugung, als er sich erinnerte, ihn unter dem Portikus mit einem blondhaarigen Kind gesehen zu haben, und noch mehr, als er sich der Aehnlichkeit mit Katharinen erinnerte, die ihm in der Kutsche aufgefallen, und der Grund gewesen war, daß er an Philipp die dessen Argwohn erregenden Fragen gerichtet.

Das Räthsel war somit klar – Sidney war mit seinem Bruder geflohen. Jedoch konnte in dieser Nacht Nichts weiter geschehen. Am nächsten Morgen sollten kräftige Maßregeln ergriffen werden; und als der Morgen kam, brachte die Post folgende zwei Briefe an Mr. Morton, der eine war von Arthur Beaufort.

»Sir, – nur durch eine ernste Krankheit bin ich verhindert worden, früher an Euch zu schreiben. Noch jetzt kann ich kaum eine Feder halten; aber sobald meine Gesundheit wieder hergestellt ist, werde ich bei Euch in N*** seyn.

Auf ihrem Sterbebett hat mir die Mutter des Eurer Obhut untergebenen Knaben, Sidney Morton, ihn feierlich empfohlen, mir – als dem Erben und Stellvertreter seines Vaters. Ich mache sein Glück zur Pflicht meines Lebens und werde mich beeilen, ihn von Eurer gütigen Hand mir zu erbitten. Aber der ältere Sohn – der arme Philipp, der so ungerecht gelitten hat – denn unser Advokat hat den Mr. Plaskwith gesehen und die ganze Geschichte gehört; – was ist aus dem geworden? Alle unsre Nachforschungen haben uns nicht auf seine Spur geführt. Ach! ich war zu krank, sie selbst anzuordnen, so lang es noch Zeit war, vielleicht hat er ein Obdach bei Euch, seinem Oheim, gesucht; wenn dies ist, so versichert ihn, daß er durchaus Nichts vom Gesetz zu fürchten hat – daß seine Unschuld vollkommen anerkannt ist, und daß mein Vater und ich ihn beschwören, unsre Liebe anzunehmen. Ich kann nicht weiter schreiben; aber in wenigen Tagen hoffe ich Euch zu sehen.

Ich bin, Sir, u. s. w.
Arthur Beaufort.

Berkeley-Square.«

Der zweite Brief war von Mr. Plaskwith und lautete so:

»Lieber Morton, – Etwas sehr Verdrüßliches ist vorgefallen – nicht meine Schuld, und mir sehr unangenehm. Euer Verwandter, Philipp, war, wie ich geschrieben, ein anstelliger Junge, obwohl sonderbar und von üblem Benehmen – aus Mangel vielleicht, der arme Kerl! einer bessern Anweisung und Erziehung; und Mrs. Plaskwith ist, wie Euch bekannt, eine gar auf Anstand haltende Frau – die Weiber gehen so sehr auf das äußere Benehmen – so fand sie nie großes Gefallen an ihm. Auf den Hauptpunkt aber zu kommen, wie der französische Kaiser zu sagen pflegte: eines Abends verlangte er von mir für seine Mutter, die, wie er – sagte, krank sey, Geld auf sehr unverschämte – ich darf wohl sagen drohende Weise. Es war in meinem eignen Laden, und vor Plimmins und Mrs. Plaskwith; ich war gezwungen mit einem würdevollen Verweis zu antworten und verließ den Laden. Als ich dahin zurückkam, war er fort, und mehrere Schillinge, – vierzehn, glaube ich, und drei Guineen – augenscheinlich aus der Ladenkasse, auf dem Boden herum verstreut. Mrs. Plaskwith und Mr. Plimmins waren sehr in Angst; glaubten es sey klar, daß ich beraubt worden, und wir würden ermordet werden. Plimmins schlief in dieser Nacht unten, und wir entlehnten Fleischer Johnsons Hund. Nichts ereignete sich. Ich glaube nicht, daß ich beraubt worden, da das Geld, als wir rechneten, ganz richtig sich fand. Ich kenne die menschliche Natur; er hatte daran gedacht, es zunehmen, aber es hatte ihn gereut – ganz klar. Aber ich war natürlich sehr zornig, dachte, er würde wieder kommen – hatte im Sinn, ihn gebührend auszuschelten– wartete einige Tage – hörte Nichts von ihm – wurde unruhig – wollte nicht länger dem Rath der Mrs. Plaskwith folgen, denn, wie Napoleon Bonaparte bemerkte; die Weiber sind gut in ihrer Weise, nicht in der unsrigen. Nahm Plimmins mit mir in die Hauptstadt – miethete einen Spürhund von Bow-Street, um ihm auf die Spur zu kommen, kostete mich 1 Pf. 1 Sch. und zwei Gläser Branntwein und Wasser. Die arme Mrs. Morton war just begraben – war ganz entsetzt! Sah plötzlich den Jungen in den Straßen. Plimmins eilte aufs Freundschaftlichste auf ihn zu – ward nieder geschlagen – verletzte sich den Arm – bezahlte 2 Sch. 6 P. für Umschläge. Philipp lief davon – wir liefen ihm nach, konnten ihn nicht bekommen. War gezwungen nach Haus zurückzukehren Am folgenden Tag kommt ein Advokat von einem Mr. Beaufort, Mr. George Blackwell zum Besuch – ein ganzer Gentleman. Mr. Beaufort will alles Billige und Vernünftige für ihn thun. Kann ich Etwas weiter thun? Ich bin in der That sehr unruhig wegen des Jungen, und Mrs. Plaskwith und ich schmollen darüber miteinander; aber das ist Nichts – hielt es fürs Beste, an Euch um Verhaltungsbefehle zu schreiben.

Aufrichtig der Eurige,

K. Plaskwith.

Nachschrift. Oeffne nur geschwind meinen Brief noch einmal, um Euch zu melden, daß ein Beamter von Bow-Street eben hier gewesen – hat herausgebracht, daß der Junge mit einer sehr verdächtigen Person zusammen gesehen worden; sie glauben, er habe London verlassen. Der Polizeibeamte will ihm nach – sehr kostspielig; so könnt denn Ihr jetzt entscheiden.«

Mr. Spencer horchte kaum auf den zweiten Brief, aber bei dem ersten hatte er ein Gefühl von Eifersucht. Er wäre gern der einzige Beschützer von Katharinens Kindern gewesen; aber er war der alleruntauglichste Mann, eine Nachforschung zu leiten, die jetzt nothwendig mit eben so viel Takt als Nachdruck angestellt werden mußte.

Ein Mann von sanftem Herzen und Kopf, bequem und kränklich, ein Tagträumer, der sein Leben hingedämmert und geschmachtet hatte über einfacher Poesie und unter Seufzen um seine unglückliche Neigung – kein Kind, kein Säugling war so hülflos wie dieser Mr. Spencer.

Die Aufgabe der Nachforschung fiel daher Mr. Morton zu, und er griff sie regelmäßig, verständig und kräftig an. Billets wurden herumgeschickt, Constables aufgeboten, und ein Advokat, begleitet von Mr. Spencer, in die Manufakturdistrikte abgeschickt, wohin man die Waisen ihren Weg hatte einschlagen sehen.



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