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Vec. Ihr seht, was folgt.
Herzog. O, guter Herr! noch einmal die Gestalt.
Die Wechselfälle.
An diesem Abend kam Sidney Beaufort in London an. Es ist das Eigenthümliche der Einsamkeit, daß sie die Leidenschaften auf der Oberfläche ruhig erscheinen – in der Tiefe ungestüm macht. Sidney hatte sein ganzes Daseyn auf Einen Gegenstand gesetzt. Als der Brief ankam, der ihn seine Hoffnung aufgeben hieß, empfand er zuerst mehr die schreckliche, grausenhafte Leerheit – den »öden Abgrund,« wozu plötzlich seine ganze Zukunft verdammt schien, als daß er in heftige, stürmische Aufregung ausgebrochen wäre. Aber Camilla's Brief hatte, wie wir gesehen, seinen Muth gehoben und sein Herz belebt. An den Gedanken ihrer Treue klammerte er sich mitten in der Verzweiflung mit dem Instinkt der Hoffnung an.
Die Nachricht, daß sie wirklich mit einem Andern verlobt sey, und so kurz nach seiner Zurückweisung, entfesselte gänzlich seine finstereren und stürmischeren Leidenschaften. In einem Gemüthszustand, der an Wahnsinn grenzte, eilte er nach London, sie zu suchen – sie zu sehen; mit welcher Absicht – welcher Hoffnung, wenn noch Hoffnung war – wußte er eigentlich selbst nicht. Aber welcher Mann, der glühend und wahrhaft geliebt hat, verstände sich dazu, den Urtheilsspruch ewiger Trennung aus einem andern Munde zu vernehmen, als aus dem der Angebeteten und Treulosen?
Der Tag war bitter kalt gewesen. Gegen Abend fiel der Schnee stark und dicht. Sidney war seit seiner Kindheit nicht mehr in London gewesen; und die unermeßliche Stadt, bedeckt von einem eisigen Winternebel, durch welchen die hastigen Fußgänger und die zur Langsamkeit gezwungenen Fuhrwerke sich gespensterhaft bewegten, die schlüpferigen, traurigen Straßen entlang, empfing den Fremden eben nicht mit gastlich offenen Armen. Er wußte keinen Weg und Schritt – er ward hin und her gestoßen – seine kaum verständlichen Fragen mit Ungeduld beantwortet – der Schnee hüllte ihn ein – der Frost wühlte sich in seine Adern ein. Endlich verschaffte ihm ein Mann, freundlicher als die Uebrigen, da er sah, daß er in London fremd war, eine Miethkutsche und wies den Kutscher in das entfernt liegende Quartier Berkeley-Square.
Der Schnee ballte sich unter den Hufen der Pferde – das ächzende Fuhrwerk ging den Schritt eines Leichenwagens weiter. Endlich, nach einer Frist voll solcher Gemüthsbewegung und Bangigkeit, daß Sidney in seinem spätern Leben nie ohne Schauder daran denken konnte, hielt die Kutsche – der erstarrte Kutscher stieg schwerfällig ab – der Ton des Thürklopfers gellte laut durch die trübe Luft – und das Licht aus Beauforts Vorsaal strahlte blendend den umnebelten schwindelnden Augen des Besuchs entgegen.
Er stieß den Pförtner bei Seite und sprang in den Vorsaal. Zum Glück erkannte ihn einer der Bedienten, welcher Mr. Beaufort an den See begleitet hatte, und antwortete auf seine athemlose Erkundigung:
»Ei, freilich, Mr. Spencer, Miß Beaufort ist zu Hause – oben im Besuchzimmer, mit dem Herrn und der Frau und Monsieur de Vaudemont. Aber –«
Sidney wartete nicht mehr ab. Er sprang die Treppen hinauf, öffnete die erste Thüre, an die er kam, und stürzte, unangemeldet und unerwartet, unter die innen sitzende Gruppe hinein. Er sah nicht das erschrockene Auffahren des Mr. Robert Beaufort – er achtete nicht auf den schwachen Ausruf der in allen Nerven erschütterten Mutter – er bemerkte nicht den dunkeln, verwunderten Blick des neben Camilla sitzenden Fremden – er sah nur Camilla selbst, und in einem Augenblick lag er zu ihren Füßen.
»Camilla, ich bin hier! – Ich, der ich Dich so liebe! der ich Nichts auf der Welt habe als Dich! – Ich bin hier – um von Dir, und von Dir allein, zu hören, ob ich wirklich aufgegeben, verlassen bin – ob Du wirklich einem Andern angehören sollst!«
Er hatte den Hut vom Kopfe geschleudert, indem er vorwärts sprang – seine langen, schönen Haare, feucht vom Schnee, fielen unordentlich über seine Stirne – seine Augen blickten starr, wie der Entscheidung über Leben und Tod harrend, auf Camilla's blasse, zitternde Lippen.
Robert Beaufort, in großer Unruhe, weil er Philipps heftiges Temperament wohl kannte, richtete seine Blicke, einen gewaltsamen, ungestümen Ausbruch vermuthend, auf seinen künftigen Schwiegersohn. Aber in dem Antlitz von diesem zeigte sich Nichts von Zorn und Stolz. Philipp war aufgestanden, aber sein Körper war vorgebeugt – seine Kniee schlugen einander – sein Mund stand offen – seine Augen starrten auf das Gesicht des Knieenden hin.
Plötzlich stand Camilla, ihres Vaters Furcht theilend, selbst halb auf, streckte mit unbewußtem Pathos die eine Hand, wie zum Schutz, über Sidneys Haupt und sah Philipp an. Sidneys Auge folgte dem ihrigen. Er sprang auf.
»Wie, also ist es wahr? Und das ist der Mann, dessen willen ich bin aufgegeben worden? Aber wenn nicht Ihr – Ihr – mit Eurem eignen Munde – mir sagt, daß Ihr mich nicht mehr liebt – daß Ihr einen Andern mehr liebt – trete ich Euch nicht ab, als mit meinem Leben!«
Er ging finster und ungestüm auf Philipp zu, der zurückwich, als sein Nebenbuhler sich ihm näherte. Die Charaktere der beiden Männer waren plötzlich wie ausgetauscht. Der schüchterne Träumer schien sich zum furchtlosen Soldaten ermannt zu haben. Der Soldat schien zurückzubeben – zu zagen – in namenloser Angst. Sidney faßte diesen starken Arm, während Philipp noch immer zurückwich, mit seinen schlankem zarten Fingern – er faßte ihn heftig und drohend an; und finster in das Gesicht schauend, aus welchem das dunkle Blut verscheucht war, flüsterte er in hohlem Tone:
»Hört Ihr mich? Versteht Ihr mich? Ich sage, sie soll nicht zu einer Heirath gezwungen werden, gegen die sich, so glaube ich noch, ihr Herz empört. Meine Ansprüche sind heiliger als die Eurigen. Entsagt ihr, oder gewinnt sie nur mit meinem Blute!«
Philipp schien die an ihn gerichteten Worte nicht zu hören. Alle seine Sinne schienen verschlungen von dem Einen Sinne des Gesichts. Er starrte fortwährend den Redenden an, bis sein Auge sich auf die Hand senkte, die noch seinen Arm gefaßt hielt, und aus diesen Blick hin stieß er einen unartikulirten Schrei aus. Er ergriff die Hand mit der seinigen und deutete auf den Ring an einem Finger, blieb aber sprachlos.
Mr. Beaufort näherte sich, und stammelte einige begütigende Worte gegen Sidney; aber Philipp winkte ihm zu schweigen; und endlich, wie mit einer gewaltsamen Anstrengung, sagte er, nicht zu Sidney, sondern zu Beaufort:
»Sein Name? – Sein Name?«
»Mr. Spencer – Mr. Charles Spencer!« rief Beaufort. »Hört mich an – ich will Alles erklären – ich –«
»Still, still!« schrie Philipp und zu Sidney sich wendend, sagte er, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte und ihm scharf ins Gesicht sah:
»Habt Ihr nicht einen andern Namen gehabt? Seyd Ihr nicht – ja! es ist so – es ist – es ist so! Folgt– mir – folgt mir!«
Und noch immer Sidney festhaltend und diesen, der jetzt eingeschüchtert – scheu, und eine Beute neuen, seltsamen Verdachtes war, mit sich führend, ging er sachte, Schritt für Schritt weiter – die Augen auf dies schöne Antlitz geheftet mit murmelnden Lippen – bis die Thüre sich hinter ihnen Beiden schloß, und sie den Augen der drei Zurückgebliebenen entzog; und mit welchen Ahnungen, Vermuthungen und Befürchtungen diese zurückblieben, kann sich der Leser eher vorstellen, als ich beschreiben.
Philipp führte seinen Nebenbuhler in das anstoßende Zimmer. Es war erleuchtet nur von einer kleinen Studirlampe, und von der hellen, stetigen Glut des Feuers; und bei diesem Licht starrten Beide einander, wie vor einem Zauber gefesselt, fortwährend in völligem Schweigen an. Endlich fiel Philipp, von einem unwiderstehlichen Gefühl ergriffen, Sidney an die Brust, drückte ihn mit krampfhafter Heftigkeit an sich, und keuchte:
»Sidney! Sidney! – Meiner Mutter Sohn!«
»Was!« rief Sidney, gegen seine Umarmung sich sträubend und endlich sich befreiend; » Ihr also seyd es! Ihr – mein eigner Bruder! Ihr – der bisher der Dorn auf meinem Pfade – die Wolke in meinem Schicksal gewesen! Ihr, der jetzt gekommen, mich auf Lebenszeit elend zu machen! Ich liebe dies Weib, und Ihr reißt sie von mir! – Ihr – der Ihr mich als Kind schon Mühsalen ausgesetzt, und, ohne die Vorsehung, vielleicht mich als Jüngling durch Euer Beispiel zu Schande und Verbrechen entwürdigt hättet!«
»Halt ein! halt ein!« schrie Philipp mit einer in der Todesqual so gellenden Stimme, daß sie Allen im anstoßenden Zimmer ins Herz schnitt wie der Schrei einer verzweifelnden Seele. Sie sahen einander an, aber Keines hatte den Muth, die Besprechung zu stören.
Sidney selbst war über diesen Ton entsetzt. Er warf sich auf einen Stuhl, und überwältigt von ihm so neuen Leidenschaften – von so seltsamer Aufregung – verhüllte er sein Angesicht und schluchzte wie ein Kind.
Philipp schritt einige Augenblicke hastig im Zimmer auf und ab; endlich blieb er Sidney gegenüber stehen, und sagte mit der tiefen Kälte eines verkannten und mißhandelten Gemüths:
»Sidney Beaufort, höre mich! Als meine Mutter starb, vertraute sie Dich meiner Sorge, meiner Liebe, meinem Schutz an. – In den letzten Zeilen, die ihre Hand niederschrieb, bat sie mich, weniger an mich zu denken, als an Dich – Dir ein Vater, nicht blos ein Bruder zu seyn. In der Stunde, wo ich diesen Brief las, fiel ich auf meine Kniee, und gelobte diese Aufgabe zu erfüllen – mich selbst aufzuopfern, wenn ich Dir Vermögen oder Glück verschaffen könnte, und dies nicht blos Deinetwillen, Sidney! nein! sondern weil meine Mutter – unsre mißhandelte, unsre verläumdete, mit gebrochnem Herzen gestorbene Mutter – O Sidney, Sidney, hast Du nicht auch Thränen für sie?« – er fuhr sich einen Augenblick mit der Hand über die Augen und fuhr dann fort: »sondern weil unsre Mutter, in diesem letzten Briefe mir sagte: ›laß meine Liebe für ihn in Deine Brust übergehen,‹ darum, Sidney, darum wähnte ich bei Allem, was ich für Dich thun konnte, meiner Mutter Lächeln schaue auf mich herab, und indem ich Dir diene, gehorche ich meiner Mutter. Später vielleicht, Sidney, wenn wir von der Periode meines frühem Lebens sprechen, wo ich für Euch arbeitete, wo ich die Herabwürdigung, von der Ihr sprecht (war doch keine Sünde daran!) freudig ertrug um Euretwillen – wo Ihr den Feiertag hattet und ich die Arbeit – später vielleicht werdet Ihr mir mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ihr verließt mich, oder wurdet mir geraubt, und ich gab all das kleine Vermögen, das meine Mutter uns hinterlassen, hin, um einige Nachrichten von Euch zu bekommen. Ich erhielt Euren Brief – Euren bittern Brief – es kümmerte mich jetzt nicht mehr, daß ich ein Bettler, weil ich ja allein war. Ihr sprecht davon, was ich Euch gekostet – Ihr! und jetzt verlangt Ihr von mir, daß – daß – barmherziger Himmel! laßt mich Euch recht verstehen; liebt Ihr Camilla? Liebt sie Euch? Sprecht – sprecht – erklärt Euch – welche neue Qual wartet meiner?«
Jetzt erzählte Sidney, trotz allem seinem mehr selbstsüchtigen Kummer gerührt und gedemüthigt durch seines Bruders Sprache und Benehmen, so gedrängt als möglich die Geschichte seiner Neigung für Camilla, die Umstände ihrer Verlobung, und legte ihm zuletzt den Brief von Mr. Beaufort vor.
Trotz aller Anstrengungen sich zu bezwingen, war Philipps innere Pein so gewaltig, so sichtbar, daß Sidney beim Anblick seiner heftig arbeitenden Züge, seiner zitternden Hände, all die irdischeren Elemente seiner Natur in einen Strom großherziger Sympathie und Reue sich auflösen fühlte. Er warf sich an die Brust, vor der er zuvor zurückgebebt, und rief:
»Bruder! Bruder! vergib mir! Ich sehe, welches Unrecht ich Dir gethan. Wenn sie mich vergessen hat, wenn sie Dich liebt – nimm sie und sey glücklich!«
Philipp erwiederte seine Umarmung, aber ohne Wärme, und trat dann weg; von Neuem durchschritt er in großer Aufregung das Zimmer. Nur sein Bruder vernahm vereinzelte Ausrufungen, die ihm unbewußt zu entfallen schienen: »Man sagte mir, sie liebe mich! der Himmel gebe mir Stärke! – Mutter! Mutter! laß mich mein Gelübde erfüllen! – Oh, daß ich vor diesem gestorben wäre!« Er blieb endlich stehen, und große Schweißtropfen rannen ihm die Stirne herunter.
»Sidney! sagte er, »hier ist ein Geheimniß, das ich nicht verstehe. Aber mein Gemüth ist jetzt sehr verwirrt. Wenn sie Dich liebt – wenn! Ist es für ein Weib möglich, Zwei zu lieben? – Gut, gut, ich gehe, das Räthsel zu lösen. Warte hier!«
Er verschwand in das nächste Zimmer, und beinahe eine halbe Stunde blieb Sidney allein. Er hörte durch die Wand flüsternde Stimmen; er unterschied deutlicher den Ton von Camilla's Schluchzen. Die einzelnen Umstände dieser Besprechung zwischen Philipp und Camilla, die zuerst allein waren, (später wurde Mr. Robert Beaufort auch zugelassen,) enthüllte Philipp nie, auch konnte Sidney selbst nie einen klaren Bericht von Camilla erlangen, die noch nach Jahren nicht ohne große Bewegung daran denken konnte.
Endlich aber ging die Thüre auf, und Philipp trat herein, Camilla an der Hand führend. Sein Antlitz war ruhig, und ein Lächeln um seinen Mund; eine größere Würde als die ihm überhaupt eignende war über sein ganzes Wesen ausgegossen. Camilla hielt ihr Tuch vor die Augen und weinte leidenschaftlich. Mr. Beaufort folgte ihnen mit mißmuthiger, verstörter Miene.
»Sidney,« sagte Philipp, »es ist vorbei. Alles ist abgemacht. Ich weiche Euern frühern, und daher bessern Ansprüchen. Mr. Beaufort willigt in Eure Verbindung. Er wird Euch zu einer gelegneren Zeit sagen, das unser Geburtsrecht endlich aufgeklärt ist, und kein Flecken auf dem Namen haftet, den wir künftig tragen werden. Sidney, umarmt Eure Braut!«
Betäubt, entzückt und noch halb ungläubig, faßte und küßte Sidney Camilla's Hand; und als er sie dann an seine Brust zog, sagte sie, auf Philipp deutend:
»Oh! wenn Ihr mich liebt, wie Ihr sagt, seht in ihm den Großmüthigen, Edeln –« Neues Schluchzen erstickte ihre Worte, aber als Sidney wieder ihre Hand zu fassen suchte, flüsterte sie mit einem rührenden, ächt weiblichen Zartgefühl: »Oh! achtet und schont ihn! seht!« und Sidney, seinen Bruder anblickend, sah, wie, obgleich er noch zu lächeln versuchte, seine Lippe bebte, und seine Züge sich zusammenzogen, wie bei Einem, dessen Leib gefoltert wird, und der kämpft, um nicht zu ächzen.
»Ich habe meine Gelübde erfüllt! Ich habe Euch das einzige Gut, das mein Leben mir zeigte, abgetreten. Genug! Ihr seyd glücklich, und ich werde es auch seyn, wenn es Gott gefällt, diese Wunde zu lindern, und jetzt müßt Ihr Euch nicht wundern, noch mich tadeln, wenn ich Euch, den so spät Gefundenen, für eine Weile verlasse. Erweist mir eine Freundlichkeit – Ihr, Sidney – Ihr, Mr. Beaufort. Laßt die Trauung statthaben in H***, in der Dorfkirche, bei der meine Mutter ruht; verschiebt sie, bis der Prozeß zu Ende ist; bis dahin hoffe ich Euch Allen – hoffe ich Euch, Camilla, entgegentreten zu können, wie es mir geziemt gegen meines Bruders Gattin; bis dahin soll meine Gegenwart Euer Glück nicht trüben. Sucht mich nicht auf – erwartet nicht, von mir zu hören. Still, Ihr Alle! mein Herz ist noch zerschlagen und wund. O du,« und hier erhob er die Arme und seine Stimme wurde inniger, »du, der du meine Jugend vor Schlingen und Gefahren bewahrt, der du meine Schritte geleitet hast von dem Abgrund weg, dem ich entgegen wanderte, und unter dessen Hand ich mich jetzt beuge, geläutert und dankbar – nimm dies Opfer an und segne diese Verbindung: – Lebt wohl!«