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Zwölftes Kapitel.

Ihr habt des Berges Höh erreicht; zu, Sitze
Nehmt seine friedliche, begrünte Spitze;
Beschaut, erlöst schon von des Steigens Qual,
        Uns und die Wolk' im Thal!

Cowley.

Es war wahr, daß Sidney sich glücklich fühlte in seiner neuen Heimath, und dahin müssen wir ihm nun folgen.

Als sie die Stadt erreichten, wo die Reisenden in der Kalesche waren gebeten worden, Sidney abzusetzen, war des Königs Wappen gerade die Herberge, welche Mr. Spencer geflissentlich vermied. Während die Pferde gewechselt wurden, ließ er den Arzt der Stadt holen, um das Kind zu besichtigen, das sich schon sehr erholt hatte; und indem man ihm die Kleider auszog, ihn in warme Decken hüllte, und ihm stärkende Mittel beibrachte, ward er so weit gebracht, daß man eine weitere Station mit ihm zurücklegen konnte, um in dieser Nacht jede Verfolgung zu vereiteln; und binnen drei Tagen hatte Mr. Spencer seinen neuen Pflegling schon zu seinen jungfräulichen Schwestern gebracht, hundert und fünfzig Meilen von dem Ort entfernt, wo er gefunden worden war.

Er wollte ihn noch nicht in sein eignes Haus bringen. Er fürchtete die Ansprüche Arthur Beauforts. Er schrieb listig an diesen Gentleman, er habe die Jagd auf Sidney verzweifelnd aufgegeben, und wünsche sehnlichst zu wissen, ob er ihn entdeckt habe; und eine Bestechung von 300 Pfund an Mr. Sharp, nebst einer aufrichtigen Auseinandersetzung seiner Gründe, warum er Sidney verborgen halten wollte, Gründe, mit welchen der würdige Beamte vollkommen zu sympathisiren versicherte, erkaufte ihm die Verschwiegenheit seines Bundesgenossen. Aber er wollte sich selbst nicht die Freude versagen, in demselben Hause mit Sidney zu seyn, und war deßwegen einige Monate lang der Gast seiner Schwestern.

Endlich hörte er, daß der junge Beaufort seiner Gesundheit wegen ins Ausland geschickt worden sey, und jetzt hielt er es für gefahrlos, sein neues Idol zu seinen Laren an den Seen zu versetzen. Während dieser Zwischenzeit war das Leben des jüngern Mortons in Wahrheit wie unter Blumen dahin geflossen. In seinem Alter war ihm weibliche Pflege und Sorgfalt beinahe Bedürfniß ebenso sehr als Annehmlichkeit, und die Schwestern verwöhnten und hätschelten ihn so sehr, als nur immer ältliche Nymphen in Cytherea Die Insel Kythere ist in der antiken Mythologie der Geburtsort der Liebesgöttin Aphrodite. – Anm.d.Hrsg. den Amor verhätschelten. Es waren gute, treffliche alte Jungfern, mit hohen Nasen und plattem Busen, voll sentimentaler Zärtlichkeit für ihren Bruder, den sie »den Dichter« nannten, und voll Affenliebe für Kinder. Die Sauberkeit, die Ruhe, die gute Kost in dem neuen, hübschen Aufenthaltsort – Alles trug bei, den Muth und Geist ihres jungen Gastes wieder zu beleben und zu stärken, und Alle schienen zu wetteifern, Wer ihm am meisten Liebe erweisen könne.

Dennoch blieb Mr. Spencer sein besondrer Liebling; denn Spencer ging nie aus, ohne Kuchen und Spielsachen mitzubringen; und Spencer schenkte ihm sein Pferdchen; und Spencer ritt auf einem kleinen, stutzohrigen Klepper neben ihm; und kurz, Spencer hatte Theil an allen seinen Freuden und Launen. Er erzählte ihnen seine kleine Geschichte; und als er sagte, wie Philipp ihn lange Stunden aneinander fort allein gelassen, wie Philipp ihn zu seiner letzten, ihm beinahe tödtlich gewordenen Reise gezwungen, da jammerten und ächzten die alten Mädchen, und der alte Junggeselle seufzte und Alle schrieen in einem Athem: »Philipp sey ein recht böser Bube.«

Es war nicht nur ihre naheliegende Politik, daß sie ihn von seinem Bruder abzuziehen suchten, sondern es war auch ihre aufrichtige Ueberzeugung, daß sie daran ganz Recht thaten. Zwar nahm Sidney Anfangs Philipps Partei; aber sein Geist war lenksam, und er blickte immer mit Schauder auf die bestandenen Mühsale zurück; und so lernte er ganz allmählig all die zärtliche, pflegende Liebe vergessen, die Philipp ihm erwiesen; seinen Namen in Verbindung setzen mit finstern, räthselhaften Befürchtungen; der Vorsehung danken, daß er von ihm errettet worden, und hoffen: sie würden sich nie wieder sehen.

In der That, als Mr. Spencer von Sharp erfuhr, daß durch Kapitän Smith, den Gauner, Philipp hatte Erkundigungen nach seinem Bruder anstellen, nachdem er zuvor schon gehört, und zwar von derselben Person, daß Philipp verwickelt sey in den Verkauf eines Pferdes, wo eine Gaunerei, wo nicht ein Diebstahl, mit unterlief: da glaubte er allen möglichen Grund zu haben, den Strom zwischen dem Wolf und dem Lamm nur noch breiter zu machen. Je älter Sidney wurde, desto besser begriff und würdigte er die Beweggründe seines Beschützers; denn er wuchs auf in einer förmlichen Schule der Schicklichkeit und der Moral, und von Haus aus empörte sich sein Geist gegen alle Vorstellungen von Gewaltthätigkeit und Betrug.

Mr. Spencer änderte Vor- und Familiennamen seines Schützlings, um alle Nachforschungen Philipps, der Mortons und der Beauforts zu vereiteln, und Sidney galt für seinen Neffen von einem jüngern, in Indien verstorbnen Brüder.

So verlebte denn an den ruhigen Ufern des friedlichen Sees, in den schönsten Landschaften des Garteneilands, der jüngere Sohn Katharinens seine harmlosen Tage. Die Einförmigkeit dieses Aufenthalts ermüdete keineswegs einen Geist, der, als er heranwuchs, Beschäftigung fand in Büchern, Musik, Poesie und in den gebildeten Genüssen des feinen und ruhigen Lebens, auf das er sich beschränkte. In die rauhe Vergangenheit blickte er zurück wie in einen bösen Traum, in welchem Philipps Bild finster und drohend stand. Er nannte, als er älter wurde, selten seines Bruders Namen, und wenn er ihn gegen Mr. Spencer einmal erwähnte, wurde seine blühende Wange blässer. Die Anmuth seines Wesens, sein liebliches Gesicht und einnehmendes Lächeln gewannen ihm fortwährend Zuneigung und Liebe, und verhüllten dem Auge des gewöhnlichen Beobachters, was von Selbstsucht noch in seiner Natur verborgen lag, und in der That kam dieser Fehler bei einer so heitern Lebensbahn und unter so zärtlichen Freunden, selten zu thätlicher Aeußerung.

So war er denn getrennt von den beiden Beschützern, Arthur und Philipp, welchen ihn die arme Katharine vermacht hatte. Durch ein seltsames, verkehrtes Geheimniß waren sie, denen die Sorge für das Kind am meisten ans Herz gelegt war, gerade diejenigen, welchen es versagt war, sich dieser Pflicht zu entledigen. Auf unserm Sterbebett, wenn wir glauben, für unsre Zurückbleibenden gesorgt zu haben, würden wir nicht des letzten Lächelns verlustig, das den ernsten Todeskampf vergoldet, wenn wir nur Ein Jahr weit in die Zukunft schauen könnten?

 

Arthur Beaufort bekam, als er nach einer, wie man sich denken kann, unfruchtbaren Nachforschung nach Sidney heimkehrte, eine Erzählung von Philipps Besuch, die nicht ohne Uebertreibungen war, zu vernehmen, und er hörte mit tiefer Erbitterung den entstellten Bericht seiner Mutter von der Sprache, die er gegen sie geführt. Man darf sich nicht wundern, wenn trotz all seines romantischen Edelmuths er sich gekränkt und empört fühlte über eine Gewaltthätigkeit, die ihm ganz unentschuldbar schien. Obgleich kein rachsüchtiger Charakter, besaß er doch nicht jene Weichheit und Sanftmuth, die nie erbittert wird. Er betrachtete Philipp Morton als einen durch schlimme Leidenschaften und schlechte Gesellschaft unverbesserlich gewordenen Menschen.

Doch trat Katharinens letzte Bitte, und Philipps Brief an ihn, den unbekannten Tröster, oft vor seine Seele, und er hätte auch jetzt noch Philipp willig geholfen, wenn er ihm in den Weg gekommen wäre. Aber so, wenn er sich umsah, und die Beispiele jener Mildthätigkeit sah, welche zu Hause anfängt, woran die Welt Ueberfluß hat, war ihm zu Sinn, als hätte er seine Pflicht erfüllt; und da Glück und gute Tage zwar nicht sein Herz verhärtet, aber doch die Gewöhnung an Beharrlichkeit untergraben hatten, erblaßten allmählig das Bild der sterbenden Katharine und der Gedanke an ihre Söhne in seiner Erinnerung, und darin war er um so mehr zu entschuldigen, nachdem er einen anonymen Brief erhalten, der alle seine Besorgnisse wegen Sidneys zerstreute. Dieser Brief war kurz und meldete einfach, daß Sidney Morton einen Freund gefunden, der ihn sein Leben lang beschützen, aber sich nicht bedenken werde, sich an Beaufort zu wenden, wenn er je seines Beistandes bedürfen sollte.

So war denn Ein Sohn, der jüngste und geliebteste, wohl aufgehoben, und der Andere – hatte sich der nicht selbst seine Laufbahn gewählt? Ach! arme Katharine! wenn Du Dir einbildetest, Philipp sey derjenige, der sich gewiß die Bahn zum Glücke erkämpfen werde, und Sidney, der Hülflose: wie unrichtig beurtheiltest Du das menschliche Herz! Eben die Stärke in Philipps Natur versuchte und lockte an die Stürme, welche die Blüthen zerstreuten und den Stamm bis in die Wurzeln erschütterten; während die leichtere und schwächere Natur sich vor dem Sturm beugte und die Versetzung in einen glücklicheren Boden ertrug.

Wenn Eltern diese Blätter lesen, mögen sie inne halten und recht nachdenken über die Charaktere ihrer Kinder! mögen sie am meisten fürchten und hoffen zugleich für dasjenige, dessen Leidenschaften und Temperament leicht zu Kämpfen mit der Welt führen! Diese Welt ist ein zäher Ringer und hat die Tatzen eines Bären für den Armen!

 

Mittlerweile lenkten Arthur Beauforts eigene Leiden, welche ernsthaft wurden und eine Auszehrung befürchten ließen, seine Gedanken mit jedem Tage mehr auf sein eignes Ich. Er sah sich genöthigt, seine Studien auf der Universität zu verlassen, und Herstellung seiner Gesundheit in der mildern Luft von Nizza zu suchen; und als er nach einigen Monaten sich wieder hergestellt fühlte, ergriff das Verlangen zu reisen mächtig den Geist und die Phantasie des jungen Erben. Sein Vater und seine Mutter, zufrieden mit seiner Genesung, und nicht ungern einwilligend, daß er sich den Schliff gebe, den man durch Reisen auf dem Festland gewinnt, kehrten nach England zurück; und der junge Beaufort, mit muntern Gesellschaftern und einem stattlichen Einkommen, schon ein Gegenstand der Huldigung, der verwöhnenden Zuvorkommenheit, der Schmeichelei, begann seine Tour mit den schönen Ländern Italiens.

So – o dunkles Geheimniß der moralischen Welt! so, ganz anders als in der Ordnung der physischen Natur, schweben mit einander, Seite an Seite, die schattenhaften Rosse Nacht und Morgen dahin! – Prüfe das Leben in seiner eigensten Welt; vermische und verwechsle nicht diese Welt, die innere, die praktische, mit dem mehr sichtbaren, und doch lustigeren und minder substanziellen System, das um die herrschende Sonne kreist, zu deren Thron, fern im unendlichen Raum, zu fliegen, das menschliche Herz keine Flügel hat. Im Leben machen der Geist und das Schicksal die wahren Jahrszeiten, und regeln und bestimmen Finsternis und Licht. Von zwei Menschen, die auf demselben Fußbreit Erde stehen, schwärmt der Eine in wonnigem Mittag, und schauert der Andere in der Einsamkeit der Nacht. Der Hoffnung und dem Glück glänzt das Gestirn des Tages immer. Das »Anmuthstrahlende« lebt immer im Aether. Für Sorge und Armuth schwindet die Nacht mit dem Picken der Uhr, nicht mit dem Schatten des Sonnenzeigers. Morgen ist es für den Erben, Nacht für den Heimathlosen, aber Gottes Auge ist in Beiden.



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