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Rosenkranz. Glücklich ist er das zweitemal zu ihnen gekommen.
Hamlet.
Es war der Abend nach dem, an welchem die im letzten Kapitel berichteten Gespräche statthatten, ein Abend in der ruhigen Vorstadt H***. Die Verlassenheit und Stille der Metropole im September hatte sich auch auf die benachbarten Flecken ausgedehnt; ein Dorf im Herzen des Landes konnte kaum stiller erscheinen; die Lampen waren angezündet, viele Läden bereits geschlossen; einige wenige der ehrsamen Paare und der zurückgezogen lebenden alten Jungfern des Ortes sah man wohl da und dort nach ihrem Abendspaziergang langsam heimwandeln; zwei bis drei Hunde spielten, trotz der an den Mauern angeschlagenen Verbote der Ortsbehörden, (Manifeste, welche allen solchen Vagabunden mit dem Tode, und allen Einwohnern mit der Wuth drohten!) in der Hauptstraße von Zeit zu Zeit gestört, wenn die langsame Kutsche, die zwischen der Stadt und der Vorstadt fuhr, über das Pflaster holperte, oder die raschen Posten vorübersausten, angekündigt durch Staubwolken und das tönende Horn des Conducteurs.
Allmählig verschwanden auch diese Spuren von Leben – die Spaziergänger wurden unsichtbar, die Posten waren vorüber, die Hunde wichen den späteren verstohleneren Lustwandlungen ihrer Nachfolger, der Katzen, »die den Mond lieben.« In sparsamen Zwischenräumen strömten die bedeutenderen Läden der Leinwandhändler, der Apotheker und der Branntweinpallast über die schattige Straße aus noch nicht geschlossenen Fenstern ihr Licht aus. Aber mit diesen Ausnahmen standen die Geschäfte des Orts still.
Um diese Zeit trat aus dem Haus einer Putzmacherin (ein Laden war es, nach dem äußeren Ansehen, nicht, und bewies seine Vornehmheit und seine Erhabenheit über die Kapelokatrie Die Klasse der Ladenbesitzer. – Anm.d.Hrsg., um einen gewissen klassischen Neologismus zu gebrauchen, durch eine Metallplatte über einer eichenen Thüre mit der Inschrift: »Miß Semper, Kleider- und Putzmacherin von Madame Devy«), um diese Zeit, sage ich, und aus diesem Hause trat die leichte und anmuthige Gestalt eines jungen Frauenzimmers heraus. Sie hatte in der linken Hand einen kleinen Korb, dessen Inhalt (denn er war leer,) sie allem Anschein nach eben abgegeben; und wie sie über die Straße schritt, fiel das Licht der Laternen auf ein Angesicht in der ersten Blüthe der Jugend, das einen charakteristischen Ausdruck kindlicher Unschuld und Offenheit hatte. Es war ein regelmäßiges, ausgesucht liebliches Angesicht, aber doch lag Etwas darin, was Einen traurig machte; man wußte nicht warum, denn es selbst war nicht traurig; im Gegentheil, der Mund lächelte und die Augen strahlten.
Wie sie jetzt mit leichtem, raschem Schritt über die nächtliche Straße schwebte, trat ein Mann, der bisher durch das Portal von eines Advokaten Hause versteckt gewesen, verstohlen hervor und folgte ihr in geringer Entfernung. Ahnungslos, daß man ihr nachspüre und dem Anschein nach durchaus keine Gefahr fürchtend eilte das Mädchen rasch weiter, schwang ihr Körbchen lustig hin und her, und summte mit leiser aber musikalischer Stimme einige Verse, die mehr der Ammenstube, als dem Alter anzugehören schienen, das die schöne Sängerin erreicht hatte.
Als sie an eine Ecke kam, die Die Vorlage hat hier ein syntaktisch falsches »das«. – Anm.d.Hrsg. die Hauptstraße mit einem schmalen und nur theilweise erleuchteten Gäßchen machte, sah ein hier aufgestellter Polizeimann sie scharf an und berührte dann seinen Hut mit einem Ausdruck von Achtung, worin auch etwas Mitleid zu liegen schien.
»Gute Nacht Euch!« sagte das Mädchen an ihm vorbeigehend, in offnem, munterem Tone.
»Soll ich Euch nach Hans begleiten, Miß?« sagte der Mann.
»Wofür? Ich bin ja ganz wohl!« antwortete das junge Geschöpf mit dem Ton und der Miene unschuldigen Erstaunens.
Gerade in diesem Augenblick erreichte der Mann, der ihr bisher gefolgt war, die Stelle, und bog in das Gäßchen ein.
»Ja,« antwortete der Polizeimann, »es wird aber dunkel, Miß.«
»So ist es jede Nacht, wenn ich heimgehe, außer wenn Mondschein ist. Lebt wohl. Der Mond,« fuhr sie im Weitergehen fort, vor sich hinredend, »ich fürchtete den Mond als ein kleines Kind; und dann nach einer Pause summte sie leise:
Der Mond, der ist ein irrer Geist,
Zur Strafe wandelnd nächtlich;
Wie traurig ist der irre Mond,
Obgleich er scheint so prächtig;
Als jung ich ihm in die Augen sah,
Bis das Hirn mir ging im Kreis,
Und jetzt denk' oft mit Weinen ich:
Es kommt nie mehr ins Gleis!«
Als das Summen dieser Worte in der Ferne des Gäßchens verhallte, in welchem das Mädchen verschwunden war, schüttelte der Polizeimann, der horchend stillgestanden, traurig den Kopf, und sagte im Weitergehen:
»Armes Ding! Man sollte sie nicht immer allein umherlaufen lassen; und doch – Wer sollte ihr ein Leid thun?«
Mittlerweile schritt das Mädchen weiter in dem Gäßchen, das von kleinen aber nicht ärmlichen Häusern eingefaßt war, bis es in einen Kreuzsteig auslief, der in einen Kirchhof führte. Hier hing die letzte Laterne, die den Pfad beleuchtete, und einige wenige dämmernde Sterne schienen bleich herab auf das lange Gras und die zerstreuten Grabsteine, ohne den tiefen Schatten zu durchdringen, den die Kirche über einen großen Theil des geweihten Grundes warf. Gerade als sie über den Steig gingen, näherte sich der Mann, dessen wir oben erwähnt, und der, wie auf Jemand wartend, sich an den Zaun gelehnt hatte, und sagte in sanftem Tone:
»Ach, Miß, das ist ein öder Platz für Jemand, der so schön, wie Ihr, um allein zu seyn. Ihr solltet nie zu Fuße gehen!«
Das Mädchen blieb stehen und schaute voll, aber ohne irgend eine Besorgniß in ihrem Blicke, dem Manne ins Gesicht.
»Geht weg!« sagte sie in halb unmuthigem, halb freundlichem Ton des Befehlens. »Ich kenne Euch nicht!«
»Aber ich bin abgeschickt, mit Euch zu sprechen, von Einem, der Euch wohl kennt, Miß – von Einem, der Euch bis zum Wahnsinn liebt – er hat Euch schon gesehen bei Mrs. West. Er ist so betrübt, wenn er denkt, daß Ihr zu Fuß gehen sollt – Ihr, die Ihr, wie er sagt, jeden Luxus haben solltet – daß er Euch seinen Wagen geschickt hat, Er steht auf der andern Seite des Kirchhofs. Kommt jetzt!« und er faßte sie jetzt, obwohl ganz leicht, am Arme.
»Bei Mrs. West!« sagte sie; und jetzt erst zeigte ihre Stimme und Miene Furcht. »Geht sogleich weg! Wie wagt Ihr, Fanny anzurühren?«
»Aber, meine liebe Miß, Ihr habt gar keine Vorstellung davon, wie sehr mein Auftraggeber Euch liebt und wie reich er ist. Seht, er hat Euch all dies Geld geschickt; es ist Gold, gutes Gold. Ihr könnt haben, was Ihr wollt, wenn Ihr nur kommt. Nun seyd nicht einfältig, Miß!«
Das Mädchen gab keine Antwort, sondern eilte mit einem plötzlichen Sprung an dem Manne vorbei, und lief leicht und rasch den Pfad entlang in der entgegengesetzten Richtung von der, wohin der Versucher gedeutet, als er ihr den Wagen anbot. Der Mann, überrascht, aber nicht irre gemacht, holte sie im Augenblick wieder ein und faßte sie bei den Kleidern.
»Halt! Ihr müßt kommen – Ihr müßt!« sagte er drohend; und ihr Halstuch fahren lassend, schlang er seinen Arm um ihren Leib.
»Laßt mich!« schrie das Mädchen stehend, und dem Anschein nach eingeschüchtert, ihr schönes, sanftes Gesicht gegen den Verfolger wendend und die Hände faltend. »Laßt mich in Frieden. Fanny ist einfältig! Niemand ist hart gegen die arme Fanny.«
»Es wird auch Niemand hart gegen Euch seyn, Miß,« sagte der Mann anscheinend gerührt. »Aber ich darf nicht ohne Euch kommen. Ihr wißt nicht, was Ihr ausschlagt! Kommt;« und er versuchte sie sanft zurück zu ziehen.
»Nein, nein!« sagte das Mädchen, vom Flehen zur Entrüstung übergehend und die Stimme zu lautem Kreischen erhebend, »nein! ich will –«
»Nun dann!« unterbrach sie der Mann, indem er sich ängstlich umsah; und mit einer raschen und geschickten Bewegung warf er ihr ein großes Tuch über den Kopf, und während er es ihr mit der einen Hand fest auf den Mund hielt, hob er sie vom Boden empor. Noch immer heftig sich sträubend, wußte das Mädchen sich des Tuches zu entledigen, und wieder ertönte ihr Angstgeschrei durch das entweihte Heiligthum.
In diesem Augenblick hörte man eine laute, tiefe Stimme: »Wer ruft?« und eine große Gestalt schien wie aus dem Grabe sich zu erheben und aus dem Schatten der Kirche emporzutauchen. Noch ein Augenblick und eine gewaltige Faust packte die Schulter des Räubers. »Was soll das? Und noch dazu auf Gottes geheiligtem Grunde? Laß sie los, Elender!«
Der Mann, zitternd, halb vor abergläubischem, theils aus körperlichem Schrecken, ließ seine Gefangene los, die sogleich ihrem Befreier zu Füßen fiel.
»Thut mir doch Nichts zu Leid!« sagte sie, indem ihr die Thränen aus den Augen stürzten. »Ich bin ein armes Mädchen und mein Großvater ist blind.«
Der Fremde beugte sich herab und hob sie auf: dann, als er mit einem Auge, dessen dunkles Feuer durch die Dämmerung leuchtete, sich nach dem Angreifer umsah, bemerkte er, wie die Memme sich fortschlich. Er verschmähte es, ihn zu verfolgen.
»Mein armes Kind,« sagte er mit jener Stimme, welche die Starken gegen die Schwachen annehmen – oder der Mann gegen ein verwundetes Kind – die Stimme der zärtlichen Ueberlegenheit und des Mitleids, es ist jetzt kein Grund zur Furcht mehr. Tröstet Euch. Wohnt Ihr in der Nähe? Soll ich Euch heim geleiten?«
»Dank Euch! Das ist gütig! Bitte, thut es!« Und mit einem kindlichen Vertrauen ergriff sie seine Hand, wie ein Kind die eines Erwachsenen; so gingen sie mit einander weiter.
»Und,« sagte der Fremde, »kennt Ihr diesen Mann? Hat er Euch sonst schon mißhandelt?«
»Nein – sprecht nicht von ihm; cela me fait mal!«
Und sie legte die Hand an die Stirne.
Sie sprach das Französische mit einem so französischen Accent, daß der Fremde mit einiger Neugier einen Blick auf ihre einfache Kleidung warf.
»Ihr sprecht gut Französisch.«
»Ich? Ich wollte nur, ich wüßte mehr Wörter; ich erinnere mich nur weniger. Wenn ich recht glücklich, oder recht traurig bin, fallen sie mir ein. Aber jetzt bin ich glücklich. Ich mag Eure Stimme – ich mag Euch. Oh! ich habe mein Körbchen fallen lassen.«
»Soll ich zurück gehen und es suchen, oder Euch ein anderes kaufen?«
»Ein anderes! Ach nein! kommt zurück es zu suchen. Wie gütig Ihr seyd. – Ach, ich sehe es!« und sie eilte fort und lief hin es aufzuheben.
Als sie es wieder hatte, lachte sie – sie redete zu ihm– sie küßte es.
Ihr Begleiter lächelte, indem er sagte:
»Jemand Liebes muß Euch das Körbchen gegeben haben – es scheint doch nur ein gewöhnlicher Korb zu seyn.«
»Ich habe es seit – oh, immer seit – ich weiß nicht, wie lang! Es kam mit mir von Frankreich – es war voll kleiner Spielsachen. Die sind hin – das thut mir so leid!«
»Wie alt seyd Ihr?«
»Ich weiß nicht.«
»Meine hübsche Kleine,« sagte der Fremde, mit dem Ton tiefen Mitleids in seiner klangvollen Stimme, »Eure Mutter sollte Euch zu dieser Stunde nicht allein ausgehen lassen.«
»Mutter! – Mutter!« wiederholte das Mädchen im Ton des Erstaunens.
»Habt Ihr keine Mutter?«
»Nein. – Einen Vater hatte ich einmal. Aber er starb, so sagen sie. Ich sah ihn nicht sterben. Ich weine manchmal, wenn ich denke, daß ich ihn nie – nie wieder sehen soll! Aber,« sagte sie, vom Ton der Melancholie beinahe in den der Freude übergehend, »er soll ein Grab hier bekommen, wie der andern Mädchen Vater – einen schönen Stein darauf – und das Alles von meinem Gelde!«
»Eurem Gelde, mein Kind?«
»Ja, dem Geld, das ich verdiene. Ich verkaufe meine Arbeit und bringe das Geld meinem Großvater; aber ein Wenig lege ich jede Woche zurück zu einem Grabstein für meinen Vater.«
»Wird der Grabstein auf diesen Kirchhof kommen?« Sie waren jetzt in einer andern Gasse, und im Sprechen hielt der Fremde sie auf, beugte sich, um ihr ins Gesicht zu sehen, herab und murmelte vor sich hin: »Ist es möglich? Ja, es muß seyn – es muß!«
»Ja! ich liebe diesen Kirchhof – mein Bruder hieß mich hier Blumen streuen; und Großvater und ich sitzen im Sommer hier ohne zu sprechen. Aber ich schwatze überhaupt nicht viel, ich singe lieber:
»Was gut und froh und harmlos lebt
Kann singen hell und frisch,
Das Mädchen, das an der Arbeit weilt,
Der Vogel im Gebüsch;
Die Kleinen betend in der Kirch',
Im Himmel die Engelein –
Doch minder
die, wenn geboren ein Kind,
Als wenn ein Greis schlief ein.«
Und unbewußt der verborgenen Moral, traurig oder tröstlich, je nachdem wir den Werth dieses Lebens anschlagen, die in der letzten Zeile des Verses lag, wandte sich Fanny gegen den Fremden und sagte: »Warum sollten denn die Engel sich freuen, wenn die Greise entschlafen?«
»Weil sie erlöst sind aus einer falschen, ungerechten und erbärmlichen Welt, in welcher der erste Mann ein Rebell und der zweite ein Mörder war!« murmelte der Fremde zwischen den Zähnen, mit denen er im Reden knirschte.
Das Mädchen verstand ihn nicht; sie schüttelte leise den Kopf und antwortete Nichts. Nach wenigen Augenblicken blieb sie vor einem kleinen Haus stehen.
»Das ist meine Heimath.«
»Es ist so,« sagte ihr Begleiter, das Aeußere des Hauses mit ernstem Blicke prüfend; »und Euer Name ist Fanny.«
»Ja – Jedermann kennt Fanny. Kommt herein;« und das Mädchen öffnete die Thüre mit einem Schnallenschlüssel »Latch-key«: Hausschlüssel. – Anm.d.Hrsg..
Der Fremde bückte sich bei seiner stattlichen Höhe, als er über die Schwelle schritt, und folgte seiner Führerin in ein kleines Wohnzimmer.
Vor einem Tisch, worauf trüb mit ungepflegtem Docht eine einzige Kerze brannte, saß ein Mann von vorgerückten Jahren; und als er sein Gesicht nach der Thüre wandte, sah der Fremde, daß er blind war. Das Mädchen hüpfte an seinen Stuhl, schlang die Arme um des Alten Hals und küßte ihn auf die Stirne; dann zu seinen Füßen sich schmiegend und ihre gefalteten Hände an seine Kniee lehnend, sagte sie:
»Großpapa, ich habe Euch Jemand gebracht, den Ihr lieben müßt. Er ist so gütig gegen Fanny gewesen!«
»Und Keines von Euch erinnert sich meiner mehr!« sagte der Gast.
Der alte Mann, dessen stumpfes Gesicht anzudeuten schien, daß er kindisch geworden, erhob sich halb bei dem Ton der Stimme des Fremden. »Wer ist das?« sagte er mit schwacher und mürrischer Stimme. »Wer will Etwas von mir?«
»Ich bin der Freund Eures verlornen Sohnes. Ich bin der, der vor zehn Jahren Fanny unter Euer Dach brachte und Eurer Obhut übergab – – Eures Sohnes letzter Auftrag, und Ihr habt Euren Sohn gesegnet und ihm verziehen, und gelobt, der Vater seiner Fanny zu seyn.«
Der Alte, der jetzt langsam aufgestanden war, zitterte heftig und streckte die Hände aus.
»Kommt näher – näher – laßt mich meine Hände auf Euer Haupt legen. Ich kann Euch nicht sehen; aber Fanny spricht viel von Euch, und betet für Euch: und Fanny – sie ist mir ein Engel gewesen!«
Der Fremde näherte sich und kniete halb, während der Alte, unvernehmlich murmelnd, die Hände über sein Haupt breitete. Mittlerweile betrachtete Fanny blaß wie der Tod – mit offenem Munde – mit einem lebhaften, peinlich gespannten Ausdruck im Gesicht – forschend das dunkle, scharfgezeichnete Antlitz des Fremden und Zoll um Zoll zu ihm hinschleichend, berührte sie furchtsam seine Kleider, seine Arme, sein Gesicht.
»Bruder!« sagte sie endlich, zweifelnd und schüchtern, »Bruder, ich glaubte, ich könne Euch nie vergessen! Aber Ihr seht meinem Bruder nicht gleich! Ihr seyd älter – Ihr seyd – Ihr seyd – nein! nein! Ihr seyd nicht mein Bruder!«
»Ich bin sehr verändert, Fanny, und Du auch!«
Er lächelte bei diesen Worten; und dies Lächeln – mild und mitleidig – änderte gänzlich den Charakter seines Gesichts, der gewöhnlich streng, ernst und stolz war.
»Jetzt kenne ich Dich!« rief Fanny im Ton ungestümer Freude aus. »Und Du kommst zurück aus jenem Grab! Meine Blumen haben Dich endlich zurückgebracht! Das wußte ich wohl! Bruder! Bruder!« Und sie warf sich an seine Brust und brach in leidenschaftliche Thränen aus. Dann, plötzlich sich zurückziehend, legte sie ihren Finger auf seinen Arm und sah bittend zu ihm empor:
»Bitte, sagt mir jetzt, ist er wirklich todt? Er, mein Vater! – auch er war verloren, wie Ihr! Kann er nicht auch wie Ihr zurückkommen?«
»Grämst Du Dich also immer noch um ihn? Armes Mädchen!« sagte der Fremde ausweichend und setzte sich.
Fanny erwartete noch immer eine Antwort auf ihre rührende Frage; aber als sie sah, daß keine erfolgte, schlich sie sich in eine Ecke des Zimmers, lehnte ihr Gesicht an ihre Hände und schien nachzudenken – bis endlich, wie sie so da saß, die Thränen ihr die Wangen herunter zu rieseln begannen, und sie, jedoch still und unbemerkt, weinte.
»Aber Sir,« sagte der Gast nach einer kurzen Pause, »was ist denn dies? Fanny sagt mir, sie ernähre Euch mit ihrer Arbeit. Seyd Ihr denn so arm? Ließ ich Euch ja doch Eures Sohns Vermächtniß da; und auch von Euch hatte ich gehört, Ihr seyet, wenn schon nicht reich, doch nicht dürftig.«
»Es ruhte ein Fluch auf meinem Gold,« sagte der Alte finster. »Es ward uns gestohlen.«
Wieder trat eine Pause ein; Simon unterbrach sie.
»Und Ihr, junger Mann – wie ist es Euch ergangen? Gut und glücklich, hoffe ich?«
»Ich bin, wie ich Jahre lang schon war – allein in der Welt, ohne Verwandte und Freunde. Aber, Gott sey Dank, ich bin kein Bettler!«
»Keine Verwandte und Freunde!« wiederholte der Alte. »Keinen Vater – keinen Bruder – kein Weib – keine Schwester!«
»Nichts! Niemand, der sich kümmert, ob ich lebe oder sterbe,« antwortete der Fremde mit einer Mischung von Stolz und Wehmuth in seinem Tone; »aber, wie das Lied sagt:
›Ich frage nach Niemand, nein, fürwahr!
Denn Niemand fragt nach mir!‹«
Es lag ein gewisses schmerzliches Pathos in der höhnischen Art, womit er die bekannten Zeilen hersagte, obgleich er dabei sich in die Brust warf, wie im Bewußtseyn des Trostes und der Kraft, die er besaß in den Hülfsquellen, welche nicht von andern abhingen, und die er in seinem eignen ehernen Körper und seinem männlichen Herzen gefunden.
In diesem Augenblick – fühlte er einen leisen Druck seiner Hand, und sah Fanny, die ihn durch ihre noch strömenden Thränen hindurch anblickte.
»Ihr habt Niemand, der sich um Euch kümmert? Sagt das nicht! Kommt und lebt mit uns, Bruder. Wir wollen für Euch sorgen. Ich habe nie die Blumen vergessen – nie! Kommt! Fanny wird Euch lieben. Fanny kann für Drei arbeiten!«
»Und man nennt sie blödsinnig!« brummte der Alte, mit einem nichtssagenden Lächeln um den Mund.
»Meine Schwester! Du sollst meine Schwester seyn! Verlorene, die selbst die Natur betrogen und verrathen hat! Schwester! – wir Beide Waisen! Schwester!« rief der finstere, strenge Mann leidenschaftlich und mit gebrochener Stimme; und er öffnete seine Arme, und Fanny, ohne ein Erröthen oder einen Gedanken von Beschämung, stürzte an seine Brust. Er drückte auf ihre Stirne einen Kuß, der in der That rein und heilig war wie der eines Bruders; und Fanny fühlte, daß auf ihrer Wange eine Thräne zurückgeblieben, die nicht die ihrige war.
»Nun;« sagte er mit veränderter Stimme und ergriff des alten Mannes Hand, »was sagt Ihr? Soll ich meine Wohnung bei Euch nehmen? Ich habe etwas Geld; ich kann Euch Beide schützen und unterstützen. Ich werde oft abwesend seyn – in London oder sonstwo – und will Euch nicht zu viel belästigen. Aber Ihr blind und sie – (hier brach er plötzlich den Satz ab und fuhr fort) – »Ihr solltet nicht allein bleiben, und diese Nachbarschaft, der Begräbnißplatz, ist mir theuer. Auch ich, Fanny, habe eine Mutter verloren, und dies Grab –«
Er hielt inne und fügte dann mit zitternder Stimme hinzu: »Und Du hast Blumen auf dies Grab gestreut?«
»Bleibt bei uns,« sagte der Blinde; »nicht unsert, sondern Euretwillen. Die Welt ist ein schlimmer Ort. Ich bin längst der Welt überdrüssig. Ja, kommt und wohnt in der Nähe des Begräbnißplatzes – je näher dem Grabe, je sicherer seyd Ihr; – und Ihr habt etwas Geld, sagt Ihr?«
»So will ich denn morgen kommen. Jetzt muß ich zurück. Morgen, Fanny, sehen wir uns wieder.«
»Müßt Ihr gehen?« sagte Fanny zärtlich. »Aber Ihr wollt wieder kommen. Ihr wißt, ich pflegte Jedermann todt zu glauben, wenn er mich verließ. Jetzt bin ich klüger. Aber dennoch ist es wahr, daß, wenn Ihr mich verlaßt, Ihr für Fanny sterbt!«
In diesem Augenblick hatten die drei Personen, so wie sie gruppirt waren, Jedes eine Stellung und einen Gesichtsausdruck angenommen, die ein Maler von gehöriger Einsicht und Geschicklichkeit wohl gerne studirt hätte. Der Besuch hatte die Thüre erreicht, und wie er hier stand, da machte sein edler, hoher Wuchs, die herrliche Kraft und Gesundheit seiner in erster Blüthe stehenden Mannheit einen auffallenden Contrast ebenso mit der beinahe gespensterhaften Schwäche des höchsten Alters, wie mit der reizenden Zartheit Fannys, die halb Mädchen, halb Kind war. Er hatte etwas Ausländisches in seinem Wesen und dem halb militärischen Anzug, gehoben durch das rothe Band der Bourbon'schen Ritterschaft. Seine Gesichtsfarbe war dunkel, wie die eines Mauren, und sein Rabenhaar umwallte in dichten Locken sein stattliches Haupt. Der Soldatenschnurrbart, dicht aber glänzend wie Seide, beschattete die feste Lippe; und der zugespitzte Bart, den die verbannten Carlisten trugen, erhöhte noch den Eindruck der starken, stolzen Züge und den martialischen Ausdruck des Gesichts.
Aber als Fannys Stimme verhallend sein Ohr traf, wandte er dies stolze Angesicht ab; und die dunkeln Augen – in ihrem Glanz und ihrem tiefen Schatten beinah orientalisch – zeigten sich sanft und feucht, und da stand Fanny in einer Stellung voll so unbewußter Traurigkeit – so kindlicher Unschuld – die Arme herabgesunken das Antlitz wehmüthig erst das seinige suchend – und ein halbes Lächeln um die Lippen, das die auf den Wangen noch nicht getrockneten Thränen noch rührender machte.
Und daneben – mager, gebrechlich, schattenhaft, mit weißen Haaren und durchfurchten Wangen, starrte der alte Mann mit seinen Augen ohne Sehkraft ins Leere; und sein Gesicht, gewöhnlich nur aus der Lethargie der überhandnehmenden kindischen Schwäche zu einiger Belebung gebracht durch einen gewissen ungeduldigen Murrsinn, wurde jetzt plötzlich ernst und sogar sinnend, als Fanny vom Tod sprach!