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Viertes Kapitel.

Und sie ist eine Fremde!
Vor Weibern hütet, Weiber, Euch!

Middleton.

Wie man das jüngste Kind am meisten liebt,
So ist der Spätling unsrer Neigung auch,
Auf was sie auch sich richten mag,am stärksten;
Ist es doch unser spätster Herbstgenuß,
Die letzte Freude vor dem Winter!

Webster. Des Teufels Prozeß.

Ich wüßt' gern, was für 'n Ding des Menschen Herz.
Ich will's Euch sagen: 's ist ein Ding, gefügt
Aus unterschiednen Kammern.

Rowley.

Ich habe gesagt, Gawtreys Erzählung habe tiefen Eindruck auf Philipp gemacht; – dieser Eindruck ward noch verstärkt durch spätere Unterredungen, die noch offenherziger sogar waren, als ihre bisherigen Gespräche. Sicherlich hatte dieser Mann einen verhängnißvollen Zauber an sich, der seine Laster verhüllte. Er entsprang vielleicht aus der Vollkommenheit seiner physischen Constitution – einer Gesundheit, die unter allen Umständen seine Laune übersprudelnd und herzlich machte, und einem so frischen und leichten Blute, daß nothwendig die Poren seines Herzens dabei immer offen bleiben mußten.

Aber er war nichts destoweniger, trotz aller seiner gutherzigen Regungen und Aufwallungen, und seiner großmüthigen Gefühle, und trotz des Benehmens, mittelst dessen er, natürlich darauf bedacht, Philipp das möglichst wenig ungünstige Bild von sich zu entwerfen, die schlimmen Streiche und Praktiken seines Lebens überfirnißt und gemildert hatte, – durch und durch ein völliger Spitzbube, ein gefährlicher, verzweifelter, rücksichtsloser Teufel von Wagehals; man sah ihm, wenn ihn etwas verdroß, an der Umwölkung seiner buschigten Braunen, an dem Anschwellen der Adern auf seiner Stirne, an der Erweiterung seiner breiten Nüstern, leicht an, daß er der Mann dazu war, sich durch jedes Hemmniß hindurch den Weg zu seinem Ziele zu bahnen, – cholerisch, ungestüm, trotzig, entschieden; – dies waren in der That die Eigenschaften, die ihn unter seinen Genossen geachtet, so wie sein freundliches und humoristisches Wesen ihn beliebt machte; er war wirklich eine Inkarnation jenes gewaltigen Geistes, den die Gesetze der Welt gegen die Welt erwecken, und durch den die Ungerechtigkeit der Welt, im Großen, furchtbar gezüchtigt wird, im Kleinen nur geneckt und geängstigt – etwa wie die Ratte am Fuß des Elephanten nagt; – von dem Geist, der auf einem großen Theater erhaben und gigantisch aufsteigt in den Helden des Kriegs und der Revolution, in einem Mirabeau. Marat, Napoleon; auf einer kleinen Bühne sich in Demagogen, fanatischen Philosophen und Pöbelschriftstellern offenbart; und auf den verbotenen Brettern, vor deren rauchenden Lampen Auswürflinge sitzen, Publikum und Schauspieler zugleich, brachte er nie einen Spitzbuben hervor, vollendeter in seiner Rolle, oder der sie mit tragischerer Würde durchzuführen verstand, als William Gawtrey. Ich nenne ihn bei seinem ursprünglichen Namen; denn was seine angenommenen betrifft, so hatte selbst Bacchus nicht so viele.

 

Eines Tages ward eine reichgekleidete Dame von Mr. Birnie in das Bureau des Mr. Love, alias Gawtrey, eingeführt. Philipp saß am Fenster und las zum ersten Mal den Candide »Candide oder der Optimismus«, ein 1759 erschienener satirischer Roman des französischen Philosophen Voltaire; die Satire richtete sich unter anderem gegen die optimistische Weltanschauung des deutschen Philosophen Leibniz, der die beste aller möglichen Welten postulierte. Voltaire setzt Skeptizismus und Pessimismus dagegen; er rückt dieses Postulat in den Kontext der Zeit und stellt es in Frage, indem er den überheblichen Adel, die kirchliche Inquisition, Krieg und Sklaverei anprangert und die naive Utopie des einfachen Mannes von einem sorglosen Leben verspottet. – ein Werk, nächst Rasselas Samuel Johnson: »Prince of Abissinia. A Tale.« 1759, ab 1790 unter dem Titel »Rasselas; Prince of Abissinia« veröffentlicht. Im Gegensatz zu »Candide« ist trotz ähnlicher Thematik das Werk keine Satire, sondern fragt nach der grundsätzlichen Möglichkeit des Menschen, Glück zu erlangen, ohne religiöse Antworten auf diese Frage pauschal zu verwerfen. – Anm.d.Hrsg. vielleicht das hoffnungsloseste und schwärzeste Spiel, das das boshafte Genie mit der Menschheit trieb. Die Dame schien etwas verwirrt, als sie Mr. Love nicht allein fand. Sie trat zurück, hüllte sich noch dichter in ihren Schleier und sagte auf Französisch:

»Verzeiht, ich wünschte eine geheime Besprechung.«

Philipp stand auf, um sich zu entfernen, als die Dame, ihn mit einem Auge prüfend, dessen Glanz selbst durch den Schleier leuchtete, mit sanfter Stimme sagte:

»Aber vielleicht ist der junge Mann verschwiegen.«

»Er ist nicht verschwiegen – er ist die Verschwiegenheit selbst! – mein Adoptivsohn. Ihr könnt ihm trauen – auf meine Ehre. Ihr könnt es, Madame!« und Mr. Love legte die Hand aufs Herz.

»Er ist sehr jung,« sagte die Dame im Ton unwillkürlichen Mitleids, indem sie mit einer sehr weißen Hand das Schloß an ihrem Mantel aufmachte.

»Um so besser kann er den Fluch der Ehelosigkeit verstehen,« versetzte Mr. Love lächelnd.

Die Dame schlug ihren Schleier theilweise zurück und ließ einen schönen Mund und eine Reihe kleiner, weißer Zähne sehen; denn auch sie lächelte, obwohl ernst, indem sie sich gegen Morton wandte und sagte:

»Ihr scheint, Herr, mehr geeignet zu einem Jünger und Besucher des Tempels, als zu einem Beamten desselben. Indeß, Monsieur Love, damit wir uns nicht mißverstehen: ich komme nicht hieher, um eine Heirath zu schließen, sondern um eine zu verhindern. Ich höre, daß Monsieur le Vicomte de Vaudemont Eure Dienste in Anspruch genommen hat. Ich gehöre zu des Vicomtes Familie; es liegt uns Allen sehr am Herzen, daß er keine Verbindung von so sonderbarer, und verzeiht mir den Ausdruck, so ungeziemender Art eingehe, als eine in einem öffentlichen Bureau vermittelte Heirath doch immer ist.«

»Ich versichere Euch, Madam,« sagte Mr. Love mit Würde, »wir haben mitgewirkt zu dem aller – –«

» Mon Dieu!« unterbrach ihn die Dame mit großer Ungeduld, »erspart mir eine Lobpreisung Eures Etablissements; ich zweifle nicht daran, daß es sehr respektabel ist; und für grisettes und épiciers mag es äußerst angemessen seyn. Aber der Vicomte ist ein Mann von Geburt und Connexionen Mit Einem Wort, was er beabsichtigt, ist eine Verkehrtheit. Ich weiß nicht, welche Gebühren Monsieur Love erwartet; aber wenn er es zu machen weiß, Monsieur de Vaudemont zu kurzweilen, und jede Verbindung, die er zu schließen im Sinne hat, zu vereiteln, sollen diese Gebühren, welche sie immer seyen, verdoppelt werden. Versteht Ihr mich?«

»Vollkommen, Madame; aber dennoch ist es nicht Euer Anerbieten, das mich umzustimmen vermag, sondern der Wunsch, eine so reizende Dame zu verbinden.«

»Also ist es eine ausgemachte Sache?« sagte die Dame in gleichgültigem Tone, und unter dem Reden richtete sie wieder ihren Blick auf Philipp.

»Wenn Madame wieder vorsprechen will, werde ich sie von meinen Planen in Kenntniß setzen,« sagte Mr. Love.

»Ja, ich werde wieder vorsprechen!« Wie sie aufstand und an Philipp vorbeiging, schob sie ihren Schleier ganz bei Seite, und sah ihn mit einem von aller Koketterie freien, aber neugierigen, forschenden und vielleicht bewundernden Blick an – mit dem Blick, den ein Künstler etwa einem Gemälde schenken mag, das von größerem Werthe scheint, als der Platz, an dem er es findet, eigentlich andeutet. Das Angesicht der Dame selbst war schön und edel, und Philipp fühlte eine seltsame, schaudernde Regung in seinem Herzen, als sie mit einem leichten Kopfnicken aus dem Zimmer trat.

»Ha!« sagte Gawtrey lachend, »das ist nicht das erstemal, daß ich von Verwandten dafür bezahlt worden bin, daß ich von mir angeknüpfte Verbindungen wieder auflöste. Bei Gott! wenn Einer ein Bureau dafür errichten könnte, verheirathete Leute wieder ledig zu machen, er würde in der kürzesten Zeit ein Crösus seyn! Nun gut, dies bestimmt mich vollends, die Verbindung zwischen Monsieur Goupille und Mademoiselle de Courval ins Reine zu bringen. Ich hatte bisher ein Wenig geschwankt zwischen dem épicier und dem Vicomte. Jetzt will ich die Sache abschließen. Wißt Ihr wohl, Philipp, ich glaube, Ihr habt eine Eroberung gemacht?«

»Pah!« sagte Philipp erröthend.

Wirklich sprach Mr. Love noch an diesem Tag den éspicier und Adèle und setzte den Tag der Trauung fest. Da Monsieur Goupille eine sehr bedeutende Person im Faubourg war, so war diese Heirath eine solche, zu welcher sich Mr. Love besonders Glück wünschte und mit Freuden nahm er eine Einladung für sich und seine Genossen an, les noces mit ihrer Gegenwart zu beehren.

Ein paar Nächte vor dem Tag, welcher zur Vermählung des Monsieur Goupille mit der aristokratischen Adèle festgesetzt war, machte Gawtrey, nachdem Mr. Birnie sich entfernt, seine gewöhnlichen Zurüstungen, sichs wohl seyn zu lassen. Aber diesmal schienen Cigarre und Punsch ihre Wirkung zu verfehlen; Gawtrey blieb trübsinnig und schweigsam; und Morton dachte an die glänzenden Augen der Dame, die so lebhaft Partei nahm gegen die Liebe des Vicomte de Vaudemont.

Endlich brach Gawtrey das Stillschweigen:

»Mein junger Freund,« sagte er, »ich habe Euch von meiner kleinen protégée gesagt; ich habe diesen Morgen Spielsachen für sie gekauft; es ist eine schöne Kreatur; morgen ist ihr Geburtstag – da wird sie sechs Jahre alt. Aber – aber –« hier seufzte Gawtrey – »ich fürchte, sie ist hier nicht ganz richtig,« und er berührte seine Stirne.

»Ich wäre sehr verlangend, sie zu sehen,« sagte Philipp, die letzte Bemerkung nicht beachtend.

»Und das sollt Ihr – Ihr sollt morgen mit mir kommen. Ach Gott! um ihretwillen wünsche ich mir, noch nicht zu sterben!«

»Macht ihre elende Verwandte Versuche, sie in ihre Hände zu bekommen?«

»Ihre Verwandte? Nein, sie ist nicht mehr – sie ist vor etwa zwei Jahren gestorben! Arme Mary! Ich – nun, das ist Thorheit. Aber Fanny ist dermalen in einem Kloster; sie sind Alle freundlich gegen sie, aber ich bezahle auch gut; wenn ich todt wäre und die Bezahlung stockte, – ich sage noch einmal, was würde aus ihr werden, wenn nicht, wie ich zuvor gesagt, mein Vater –«

»Aber Ihr erwerbt ja jetzt ein Vermögen?«

»Wenn das so fortgeht, ja; aber ich lebe in beständiger Besorgniß; die Polizei in dieser verfluchten Stadt hat Luchsaugen; doch, das ist die glänzende Seite der Frage.«

»Warum habt Ihr das Kind nicht in Eurem Hause, wenn Ihr es doch so sehr liebt? Es würde Euch eine große Freude und Trost seyn.«

»Ist das ein Ort für ein Kind – ein Mädchen?« sagte Gawtrey ungeduldig auf den Boden stampfend. »Ich würde wahnsinnig, wenn ich dieses schurkischen Leichengesichts Auge auf sie geheftet sähe!«

»Ihr sprecht von Birnie. Wie könnt Ihr ihn um Euch dulden?«

»Wenn Ihr in meinem Alter seyd, werdet Ihr auch wissen, warum wir diejenigen dulden, die wir fürchten – warum wir uns diejenigen zu Freunden machen, die sonst unsre entsetzlichsten Feinde wären; nein, nein – Nichts kann mich von diesem Menschen befreien als der Tod. Und – und –« fuhr Gawtrey fort und wurde blaß – »ich kann einen Menschen nicht morden, der mein Brod ißt. Es gibt stärkere Bande, mein Junge, als Neigung, welche die Menschen wie Galeerensklaven an einander fesseln. Einer, der Euch kann hängen lassen, legt Euch den Strick um den Hals und führt Euch daran herum wie einen Hund.«

Ein Schauder befiel seinen jungen Zuhörer, und welche finstre Geheimnisse, nur diesen Beiden bekannt, mochten wohl den starken Willen und den entschlossenen Charakter William Gawtrey's an einen Mann gebunden haben, der dem Anschein nach sein Untergebner und sein Werkzeug war?

»Aber fort mit trübseligen Sorgen!« rief Gawtrey sich aufraffend. »Und am Ende ist doch Birnie ein nützlicher Kerl und darf sich so wenig gegen mich mucksen, als ich mich gegen ihn! Warum trinkt Ihr nicht mehr?

Hörtet je Ihr vom trefflichen Kapitän Wattle?«

und Gawtrey stimmte eine laute bacchanalische Hymne an, in welcher Philipp nichts Lustiges finden konnte; und plötzlich hielt auch der Sänger abbrechend inne und rief:

»Merkts Euch und sprecht vor Birnie Nichts von Fanny; meine Geheimnisse mit ihm sind nicht von dieser Art. Zwar könnte er ihr Nichts zu Leide thun, dem armen Lamm! – wenigstens so weit ich sehen kann. Aber man kann nie ganz beruhigt seyn wegen seines Lammes, wenn man es einmal dem Schlächter vorführt.«

 

Am nächsten Tag, als einem Sonntage, war das Bureau geschlossen, und Philipp und Gawtrey begaben sich in das Kloster. Es war von Außen ein unfreundliches Gebäude; aber innen war ein großer Garten, in gutem Stand gehalten, und trotz des Winters erschien er schön und erquickend, verglichen mit den häßlichen Straßen. Das Fenster des Zimmers, in das man sie wies, sah hinaus auf den grünen Rasen, und die Mauern am entlegenen Ende waren mit Epheu bedeckt. Philipp trat seine eigne Kindheit wieder vor die Seele, als er auf die Ruhe dieses einsamen Platzes hinabschaute.

Die Thüre ging auf – eine Kinderstimme ward gehört – eine Stimme der Freude, des Entzückens; und ein Kind, leicht und schön wie eine Elfe, sprang an Gawtreys Brust.

Sich eng an ihn schmiegend, küßte ihm die Kleine Angesicht, Hände, Kleider, mit einer Leidenschaft, die über ihr Alter zu seyn schien, und lachte und schluchzte beinahe in Einem Athem.

Gawtrey seinerseits schien ebenso ergriffen; er streichelte mit seiner gewaltigen Hand ihr Haar, und nannte sie mit allen möglichen liebkosenden Schmeichelnamen, in einem zitternden Tone, der umsonst nach dem Ausdruck der Munterkeit rang.

Endlich holte er die mitgebrachten Spielsachen aus seinen geräumigen Taschen, breitete sie auf dem Boden ans, und kauerte sich mit seinem riesigen Leibe dazu nieder; während das Kind über ihn hinpurzelte, bald nach den Spielsachen griff, bald wieder an seine Brust zurückkehrte, ihr Köpfchen daran legte, und ihm ruhig in die Augen sah, als ob ihr der Freude zu viel wäre.

Morton stand, von Beiden unbeachtet, mit gekreuzten Armen daneben. Er dachte an seinen verlornen, undankbaren Bruder, und murmelte vor sich hin:

»Der Thor! wenn sie älter ist, wird sie ihn verlassen!«

Fanny verrieth in ihren Zügen die italienische Abkunft ihres Vaters. Sie hatte jene ausnehmend blühende und üppige Farbe, die, obwohl auch in Italien nicht häufig, doch nur bei den Töchtern jenes Landes sich findet, und welche schön harmonirte mit dem herrlichen Glanz ihrer Haare, und der vollen, klaren Iris der dunkeln Augen. Nie sah man geöffnete Kirschen röther als ihre thauigen Lippen; und die Farbe des bloßen Halses und der runden Arme war von einer Weiße, die nur um so mehr blendete vermöge des Contrastes mit dem schwarzen Haar und der dunkelglühenden Wange.

Plötzlich fuhr Fanny aus Gawtreys Armen auf, sprang auf Morton zu, betrachtete ihn ernst und, sagte französisch:

»Wer seyd Ihr? Kommt Ihr aus dem Mond? Ich glaube fast.«

Dann plötzlich innehaltend begann sie einen Vers aus einem Ammenlied, den sie in leisem, gleichgültigem Tone summte, als verstände sie den Sinn nicht. Wie sie so sang, fühlte Morton, der sie betrachtete, sich von einer seltsamen und peinlichen Vermuthung ergriffen. Die Augen des Kindes, obschon sanft, waren so starr und leer in ihrem Blick.

»Und warum soll ich aus dem Mond kommen? sagte er.

»Weil Ihr traurig und unheimlich ausseht. Ich mag Euch nicht – ich mag den Mond nicht, er macht mir weh hier!« und sie legte die Hände auf die Schläfe. »Habt Ihr etwas mitgebracht für Fanny, – die arme, arme Fanny?« und dieß Beiwort besonders betonend, schüttelte sie traurig ihr Köpfchen.

»Du bist reich, Fanny, mit all diesen Spielsachen.«

»Bin ich? alle Leute nennen mich die arme Fanny – Alle, außer dem Papa;« und sie lief auf Gawtrey zu und legte ihr Köpfchen an seine Schulter.

»Sie nennt mich Papa!« sagte Gawtrey sie küssend; »Ihr hört es! Gesegnet sey sie!«

»Und Du küßst nie Jemand, außer Fanny – Du hast kein andres kleines Mädchen,« sagte das Kind ernst, und mit einem weniger leeren Blick, als der, welcher Morton traurig und bekümmert gemacht hatte.

»Niemand – nein – Nichts unter dem Himmel und vielleicht auch droben, als Dich!« und er preßte sie in seine Arme. »Aber,« fuhr er nach einer Pause fort, »aber höre, Fanny, Du mußt diesen Herrn lieb haben. Er wird immer gut gegen Dich seyn; und er hat einen kleinen Bruder gehabt, den er so zärtlich liebte, wie ich Dich.«

»Nein, ich will ihn nicht haben – ich will Niemand lieb haben, als Dich und meine Schwester.«

»Schwester! – Wer ist Deine Schwester?«

Des Kindes Gesicht nahm wieder den Ausdruck beinahe der Blödsinnigkeit an. »Ich weiß nicht – ich habe sie nie gesehen. Ich höre sie manchmal, aber ich verstehe nicht, was sie sagt. Bscht! kommt her!« Und sie schlich auf den Zehen ans Fenster. Gawtrey folgte ihr und sah hinaus.

»Hörst Du sie jetzt?« sagte Fanny« »Was sagt sie?«

Wie das Mädchen sprach, ließ ein Vogel in den immergrünenden Gesträuchen einen schrillenden, klagenden Ruf, das war es eher als Gesang, ertönen – einen Ton, wie die Drossel ihn manchmal im Winter von sich gibt, und der Furcht, Schmerz und Ungeduld auszudrücken scheint.

»Was sagte sie? Kannst Du mir es sagen?« fragte das Kind.

»Pah! das ist ja ein Vogel; warum nennst Du den Deine Schwester?«

»Ich weiß nicht; weil er so – weil er – weil – ich weiß nicht– ruft er nicht vor Schmerzen so? – thu Etwas für ihn, Papa!«

Gawtrey warf Morton einen Blick zu, dessen Angesicht sein inniges Mitleid zeigte, und flüsterte ihm ins Ohr, indem er zu ihm hinschlich:

»Glaubt Ihr, daß sie wirklich hier leidet? Nein, nein – es wird sich mit den Jahren verlieren – das wird es, ich weiß gewiß.«

Morton seufzte.

Fanny hatte sich inzwischen wieder mitten auf den Boden gesetzt, und ordnete ihre Spielsachen, aber ohne, wie es schien, Freude zu haben.

Endlich mußte Gawtrey Abschied nehmen. Die Laienschwester, unter deren Obhut Fanny stand, ward ins Zimmer gerufen, und jetzt änderte sich das Wesen und Benehmen des Mädchens völlig – sie wurde purpurroth im Gesicht – sie schluchzte ebensosehr vor Zorn als Schmerz; sie wolle den Papa nicht verlassen; sie wolle nicht gehen; – sie wolle durchaus nicht.

»Es ist immer so,« flüsterte Gawtrey Morton mit beschämter entschuldigender Stimme zu. »Es ist so schwer, von ihr wegzukommen. Geht nur zu ihr und plaudert mit ihr, während ich mich hinausstehle.«

Morton ging zu ihr hin, während sie sich gegen die geduldige, gutherzige Schwester sträubte und wehrte, und fing an, sie zu trösten und zu liebkosen, bis sie ihre großen, feuchten Augen auf ihn heftete und traurig sagte:

» Tu es méchant, toi. Arme Fanny!«

»Aber diese hübsche Puppe – –« begann die Schwester.

Das Kind sah sie freudlos an:

»Und Papa geht und stirbt!«

»So oft Monsieur geht,« flüsterte die Nonne, »sagt sie immer, er sey todt, und weint und schluchzt sich dann in Schlaf; wenn Monsieur wieder kommt, sagt sie, er sey wieder lebendig geworden. Es muß ihr, glaube ich, Jemand vom Tod gesagt haben; und sie meint, wenn sie Jemand nicht mehr sehe, das sey der Tod.«

»Das arme Kind!« sagte Morton mit zitternder Stimme.

Das Kind schaute auf, lächelt, streichelte ihm mit dem Hündchen die Wange und sagte:

»Dank Dir! – Ja! – die arme Fanny! Ach er geht – sieh! – laß mich auch gehen! Tu es méchant

»Aber,« sagte Morton, sie sanft zurückhaltend, »weißt Du nicht, daß Du ihn betrübst? Du machst ihn weinend, wenn Du solche Betrübniß zeigst! Mach ihn nicht so traurig!«

Das Kind schien betroffen, ließ einen Augenblick, wie in Gedanken, das Köpfchen hängen, und dann, von Mortons Schooß wegeilend, sprang es auf Gawtrey zu, spitzte seine schwellenden Lippen und sagte:

»Noch einen Kuß!«

Gawtrey küßte sie und wandte das Gesicht weg.

»Fanny ist ein gutes Mädchen,« und mit diesen Worten ging Fanny zu Morton zurück und legte ihre kleinen Finger auf ihre Augen, als wollte sie sie verschließen, um Gawtreys Weggehen nicht zu sehen, oder um die Thränen zurückzudrängen.

»Gib mir jetzt die Puppe, Schwester Marie!«

Morton lächelte und seufzte, gab das Kind, das sich nicht mehr sträubte, der Nonne in die Arme und verließ das Zimmer; aber, indem er die Thüre zumachte, sah er noch einmal zurück, und bemerkte, daß Fanny von der Schwester sich losgemacht und auf den Boden geworfen hatte, und weinte – jedoch nicht laut.

»Ist es nicht ein herziges Kind?« sagte Gawtrey, als sie die Straße erreichten.

»Sie ist in der That ein sehr schönes Mädchen.«

»Und Ihr werdet sie lieb haben, wenn ich sie auch ohne einen Pfennig zurücklasse,« sagte Gawtrey hastig. »Es war Eure Liebe zu Eurer Mutter und Eurem Bruder, was mir von Anfang an Gefallen an Euch einflößte. Ja,« fuhr Gawtrey in sehr ernstem Tone fort, »ja, und was auch mir zustoßen mag, ich will mir alle Mühe geben, Euch, mein armer Junge, vor allem Unheil zu bewahren; und was noch mehr ist, Euch rein und schuldlos zu erhalten, selbst von solchen Dingen, die auf meinem abgehärteten Gewissen leicht genug aufliegen. Dafür, wenn Ihr je die Macht dazu habt, seyd gut gegen sie, – ja, seyd gut gegen sie! Ich würde Euch kein rauhes Wort geben, selbst wenn Ihr als Königszeuge gegen mich aufträtet.«

»Gawtrey!« sagte Morton in vorwurfsvollem, beinahe trotzigem Tone!

»Bah! dergleichen Fälle kommen wohl vor! Aber sagt mir ehrlich, scheint sie Euch sehr verwirrt, sehr leidend?«

»Ich habe sie noch zu wenig gesehen, um urtheilen zu können,« versetzte Morton ausweichend.

»Sie ist so ungleich,« fuhr Gawtrey beharrlich fort; »manchmal könnte man meinen, sie sey ihrem Alter vorangeeilt, so nachdenkliche, gescheite Einfälle bringt sie vor; dann im nächsten Augenblick bringt sie mich zur Verzweiflung. Diese Nonnen sind sehr geschickt in der Erziehung; wenigstens gelten sie dafür. Die Aerzte geben mir auch Hoffnung; seht Ihr, ihre arme Mutter war sehr unglücklich zur Zeit ihrer Geburt – im Delirium, in der That – das mag es erklären. Ich bilde mir oft ein, die beständige Aufregung, in der mich ihr Zustand erhält, ist es, was mich sie so lieben macht; Ihr seht, es ist ein Geschöpf, das sich nie selbst fortbringen kann. Ich muß Geld für sie anschaffen; ich habe schon Etwas bei der Priorin niedergelegt, und ich würde es nicht anrühren, wäre es auch, um mich vom Hungertod zu retten! Wenn sie Geld hat, werden die Leute schon freundlich gegen sie seyn, und dann,« fuhr Gawtrey fort, »müßt Ihr bemerken, daß sie Nichts auf der Welt liebt als mich – mich, den Niemand sonst liebt! Gut, gut, jetzt wieder in den Laden!«

Als sie nach Hause zurückkehrten, benachrichtigte sie die bonne, daß eine Dame vorgesprochen, und nach Monsieur Love und dem jungen Gentleman gefragt habe, und sehr mißmuthig geschienen habe, daß sie Beide verfehlte. Nach der Beschreibung vermuthete Morton, daß es die schöne Unbekannte sey, und empfand Verdruß darüber, daß er um die Begegnung gekommen.



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