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Ein alter Fliederstrauch steht in voller Blüte, die knorrige Linde wickelt gerade ihre Blätter aus. Ein Rosenstock, dessen Haupt eine rote Glaskugel schmückt, streckt zartgrüne spitze Finger vor. Die drei alten Gesellen sind der einzige Schmuck des Gärtchens, wenn man den Efeu, der die hohen, häßlichen Feuermauern ein Stück hinanklettert, nicht mitrechnet. Der Frühling hat harte Arbeit in diesem schmalen Gartenstück, das wie eine vergessene Märcheninsel zwischen dem alten Winkelwerk sich birgt. Der Flieder muß doppelt süß duften, will er die Küchengerüche besiegen, die aus den offenen Fenstern ringsum herausflattern. Und auf das junge Gras fallen oft Glasscherben, leere Konservenbüchsen, auch alte Schuhe und Orangenschalen, wenn einer das grüne Fleckchen als Schuttplatz ansieht, derweil von dem armen Volk mit der lichtlosen Seele keine Rücksichtnahme auf ein winziges Gärtlein verlangt werden kann.

Im Fenster einer Parterrewohnung sitzt ein kleiner, fetter Kerl mit rotem Haar, läßt die Beine über den Efeu baumeln, hält eine Geige in der Hand – und zieht langsam und fleißig den Bogen über die Saiten. In dem bartlosen Gesicht leuchten scheue, braune Augen so warm und innig, daß nicht einmal der breite Froschmund und die häßlichen Henkelohren dieser Schönheit Abbruch tun können. Auf dem spärlichen Gras zu seinen Füßen hocken zwei Kinder, ein Bub und ein Mädel.

Der Junge horcht mit stiller Andacht auf die schwirrenden Töne, die Beethoven für sein Violinkonzert fand, horcht wie einer, der die Englein musizieren hört; sie spielt mit Sardinenbüchsen und stopft Orangenschalen hinein, auch kleine Kiesel und Gartenerde, die ihrem Kindersinn eitel Süßigkeit scheinen. Eine häßliche Fetzenpuppe liegt nicht weit davon im Schatten des Fliederbaumes.

 

So spielte Joseph Italiener ganz versunken seinen Beethoven, schlug auf dem armen Efeu den Takt und drückte das Kinn über die Geige. Die kleine Schwester warf plötzlich die Sardinenbüchse fort, ergriff die geliebte Puppe, deren hauptsächliche Toilette aus den Resten eines Betschales bestand, bei den Armen und begann mit ihr, sich leise in den Hüften wiegend, über den Nasen zu tanzen, mit wunderbarer Gelenkigkeit des siebenjährigen Körperchens, die schwarzen Augen ernsthaft aufgerissen, den blonden Kopf in den Nacken gelegt, gliederschnell und leicht wie ein Elflein auf dem Libanon. Ganz zierliche Schritte machte sie, hob die Beinchen mit den häßlichen, groben Strümpfen, ließ sie kunstgerecht Wippen und schwingen, und schließlich stand sie bloß auf einem Bein wie ein Storch und drehte den Körper und das zweite Bein wie Windmühlenflügel um die feste Achse. Die kleine Miriam Italiener war ja ein Ballettkind, dem man schon vor drei Jahren Gelenke und Knochen biegsam und elastisch gemacht hatte.

Und die Geige des Bruders reizte sie, ihre Kunst zu zeigen.

Wie eine Sehnsucht war es, loszukommen aus dieser Enge voll Schmutz und Düster, in der Blumen und Kinder nicht gedeihen wollten. Mit den winzigen Händen warf Miriam dem Geiger Kußhände zu. Joseph lächelte schwermütig und übte weiter seine springenden Läufe, ganz in sich gekehrt, mit einer stumpfen, schier verzweifelten Beharrlichkeit. Der kleinen Miriam fiel alles so leicht, sie sah keine Schwierigkeiten, nur die Grazie ihrer kleinen Persönlichkeit, und freute sich darüber. Für sie war das arme Gärtlein der richtige Gan Eden Paradies., in dem winzige Mägdlein Königinnenrecht haben.

In ihrem Übermut traf sie beim Tanzen mit der Fußspitze die Nase des kleinen Knaben, der mit halb offenem Munde dem Geigenspiel lauschte.

»Himmelsgucker!« lachte sie und zeigte die spitze Zunge, die wie ein rotes Schlänglein der Bosheit vorschnellte.

Der Kleine fuhr mit der seinen, schmalfingerigen Hand nach der getroffenen Nasenspitze und glitt von dort nachdenklich aufwärts über die breite, niedrige Stirn zum dunkelbraunen Haar, das wild und zerzaust durcheinanderhing; dann sagte er langsam: »Auch Geige spielen!«

Aber Joseph geigte weiter, und Miriam tanzte.

Da riß der kleine Karl Maria ein Gänseblümchen aus, das neben ihm aus dem Gras guckte, hielt das weißrote Sternchen in der Hand und pfiff leise vor sich hin.

Joseph Italiener ließ den Bogen ruhen.

»Jetzt pfeift mir der Knirps gar die Melodie nach, und fehlerlos auch noch!«

Es war ein dünnes, mühseliges Pfeifen, wie Grillenzirpen, aber Takt lief nach Takt ab, ganz rein und klar. Joseph ließ wieder den Bogen hüpfen und kniff den breiten Mund zusammen, was gar komisch aussah. Miriam wenigstens fand die Komik heraus. Flugs hielt sie mit dem Tanzen inne und sang noch ganz atemlos mit ihrer glockenhellen Kinderstimme:

»Klein's Männele, klein's Männele, was kannst du machen?
Ich kann wohl spielen auf meiner Geig'.
Ging, Ging, Ging, so macht meine Geig'.«

Und Karl Maria pfiff innig vergnügt auch diese Melodie, die er gar nie gehört hatte.

Jetzt aber lief die Geige wie ein Ritter in Brünne und Selm fort über Kindersang und Pfeifen. Bub und Mädel lauschten. Plötzlich hob der Knabe den Arm. Den Kopf hielt er gesenkt, wie in angestrengtem Lauschen, dann glitt die rechte Hand wie ein Bogen über den linken Arm, und er spielte stumm mit.

»Dummerle,« lachte die Miriam.

Mitten im Spiel riß Joseph den Bogen ab und den Mund weit auf, als sei er hungrig und warte auf den größten und besten Bissen vom Leviathan. Unentwegt geigte Karl Maria mit der Hand auf dem Arm, ein Zwerglein im schüchternen Frühling dieser armen Umwelt. Miriam schlich herbei und legte ihre Orangenschalen dem Buben auf das dunkelbraune Haar.

Er merkte es garnicht.

Da lachte die Miriam und klatschte in die Hände. Die Abendsonne aber glitt hernieder und ließ ihr Spiel über das Gärtlein tanzen, über das rote Haar des Joseph, über das feine Blond der Miriam und über die zerquetschten grellroten Orangenschalen auf dem Kopfe des Karl Maria Tredenius, der sein stummes Abendlied der Sonne vormusizierte.

 

Der Glanz dieser Abendstunde blieb bei Karl Maria, als er längst in der düsteren Elternwohnung beim kargen Abendessen saß.

Mit den Händen deckte er die Ohren, weil die scharfe Stimme des Vaters seine Träume zerriß. Der Postoffizial Franz Tredenius schimpfte wieder einmal über alles. Amt und Abendessen waren ihm gleich zuwider. Und als er gar bemerkte, daß der Bub sich die Ohren zuhielt vor seinem Poltern, gab er ihm eine Ohrfeige und schrie: »Verdammter Balg!«

Der Junge duckte sich, zog die Schultern ein, aber er weinte nicht. Groß und starr lag sein Blick auf dem roten, feisten Gesicht des Franz Tredenius, der zornig seinen langen, blonden Schnurrbart zauste. Die sechzehnjährige Martha, ein hübsches Ding mit einem klugen, nichtsnutzigen Grisettenkopf, lachte schadenfroh und nickte dem Vater zu. Frau Lisbeth zog die feinen, schwarzen Brauen hoch und wandte die Augen ab. Tag für Tag gab es solche Szenen, und ihre Widerstandskraft, die Karl Maria in Schutz nehmen wollte, wagte sich allgemach nicht mehr hervor. Scheu, und wortkarg tat sie ihre Pflicht nur heimlich; wenn sie mit dem Kleinen allein war, ward ihre Seele licht und froh und suchte die eigene verkümmerte Jugend im Kerzen ihres Kindes. Ließ sie sich aber doch einmal hinreißen, der Roheit ihres Gatten zu widersprechen, gab es wüsten Zank und gemeine Schimpfworte, welche die Gegenwart der Kinder nicht scheuten. Dann saß sie wie unter Peitschenhieben und biß die Lippen wund vor Scham.

Drum schwieg sie auch heute und wartete, bis Franz Tredenius ins Wirtshaus eilte und Martha, die längst ihre eigenen Wege ging, zu Freundinnen an die Haustür lief, mit denen sie an diesen Frühlingsabenden die Gasse auf und nieder zog.

Karl Maria saß lautlos und sah der Mutter zu, die den Tisch abräumte. Seine Seele fror, er kroch ganz in sich hinein und ließ die Umwelt versinken. Nur seine Kinderträume behielten ihr Recht. In seinen Ohren war das Geigenspiel des Joseph Italiener, die Noten sprangen zum offenen Fenster herein, wie winzige Knaben, mit denen er spielen durfte.

Auf einmal riß er die Augen weit auf und erschrak, wie stark und schnell sein Herz ging. Klaviertöne kamen aus dem Nebenzimmer. Die Mutter spielte, – wie immer, wenn Vater und Schwester fort waren. Es war ein Wiegen und Gleiten wie vorhin, als Miriam tanzte. Ganz leise glitt er von seinem Stuhl und schlich der Musik nach. An der Tür blieb er stehen und barg sich in den Falten des alten roten Vorhangs. Da saß seine Mutter vor dem Klavier, hoch aufgerichtet und schön, und spielte. Ihre Augen waren jetzt hell, und auf den blassen Wangen lag eine leichte Röte, als wüchsen aus dem Halbdunkel des Abends rosarote Rosen.

Da weinte der Sechsjährige, als seine Mutter so überirdisch schön wurde in der geliebten Musik. Karl Maria rührte sich nicht. Mit gefalteten Händen, wie ein betender kleiner Engel stand er in stiller Andacht. Und sein Gebet flehte den lieben Gott an, daß Mutter jeden Abend so spielen möchte, so feierlich einsam und so wunderschön. Sein Kindergesicht hatte plötzlich einen willensstarken, fast harten Zug, als müßte er alle Kraft seines Herzens in diese Bitte legen. Derweil perlten die Töne fort, verklangen in die Nacht, die alle Farben löschte, und kamen wieder zu Frau Lisbeth und ihrem kleinen Jungen. Karl Maria sah in der Dunkelheit nur mehr das feine, leicht erregte Antlitz seiner Mutter, alles andere verschwand in der Finsternis, die heute mit vielen und süßen Stimmen zu Karl Maria redete, wie sonst nur ein Sonnentag, wenn die ersten Bienen summten und der Wind Melodien pfiff.

Plötzlich seufzte die Mutter und ließ das Spiel. Sie stützte den Kopf in die Hand und sann vor sich hin. Ein Schluchzen kam zu dem Bübchen, das in jähem Erschrecken sich in die Vorhangfalten hängte, als suchte es da Hilfe. Zitternd betete Karl Maria: »Lieber Gott, schick' einen Engel.« Der sollte der Mutter helfen. Und im Dunkel schwebte wohl ein Engel herein. Denn Frau Lisbeth richtete sich auf, blickte zum offenen Fenster wie in stiller Dankbarkeit und griff dann wieder in die Tasten.

Ein Stürmen geschah da, ein Hinjagen und Rennen, als liefen viele, viele Menschen der Sonne entgegen. Karl Maria lächelte glücklich und schlich lautlos in sein Kämmerlein. Wenn der liebe Engel da war, durfte er nicht stören und mußte artig schlafen gehen. Still lag er in seinem Bett, da kamen Schritte, und die Mutter trat herein.

»Schläfst du, Kleiner?«

Er gab keine Antwort, öffnete nur die Arme und wartete. Dann schlang er sie um den Nacken der Mutter und blieb ganz still. Sie küßte ihn, da faßte er kecken Mut und bettelte: »Darf ich auch Geige spielen, wie der Joseph?«

»Du bist noch zu klein dazu, Liebling.«

»Aber die Miriam tanzt doch auch und ist noch klein.«

»Vater würde es nicht erlauben.«

»Spielst du deshalb nur am Abend?«

Statt zu antworten, legte sie ihm die Hand auf den Mund. Eine Weile schwieg er und blieb glücklich in dieser sicheren Liebe. Dann aber bat er wieder um seine Geige und ließ sich nicht davon abbringen.

»Es geht nicht, Karli, glaub' mir's doch!«

»Ich will so fleißig sein, Mutter, da lerne ich es ganz allein!« Angst war in Frau Lisbeth, als sie sah, wie ihre eigene Sehnsucht in ihrem Kinde Wurzel schlug und die Musik auch ihn in Bann und Zauber nahm. Aber sie dachte, wie Franz Tredenius ihr Klavierspiel verlachte und haßte, wie er es im Laufe der Jahre allmählich zum Schweigen gebracht hatte, daß es sich nur mehr am Abend hervorwagte, wie ein Dieb auf lichtlosem Pfade. Sie wollte dem Kleinen dies Leid ersparen und seine Seele vor ihres Mannes Fäusten schützen, die diese Kinderfreude mit rauhem Griff ersticken würden.

Und da sie Karl Maria nicht mit einem unwiderruflichen »Nein« kränken wollte, schob sie die Aussicht einfach hinaus und versprach ihm eine kleine Geige zu seinem nächsten Geburtstage, wenn er sehr brav wäre und aus der Schule, in die er im Herbst kommen sollte, gute Noten heimbrächte. Damit war er ganz zufrieden, hielt die Hand der Mutter fest und schlief ein. Im Traum hörte er wieder seine geliebte Geige klingen. Aber es war nur seine Schwester Martha, die beim Nachhausekommen eine Operettenmelodie pfiff.

Als auch Martha zu Bett gegangen war, stand Frau Lisbeth noch am offenen Fenster und starrte in die Nacht. Sie wollte jedes Opfer bringen, wenn nur ihr Bub etwas Rechtes wurde. Das war ihr Gebet.

Um Mitternacht schrak sie auf. Drei Männer taumelten Arm in Arm einher, die Hüte schief auf den Köpfen, schwangen die Stöcke und brüllten dazu einen Gassenhauer. In der Mitte schwankte Franz Tredenius. Sein schönes, wildes Gesicht war rot und verzerrt. Mit einem harten Lachen schloß Lisbeth das Fenster.

 


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