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Franz Tredenius lauerte auf eine günstige Stunde, um kurzerhand in den »Blauen Herrgott« einzudringen. Für alle Fälle trug er stets die vielen Briefe und Kärtchen bei sich, die im Laufe der Zeit gekommen und unbeantwortet geblieben waren, lauter Einladungen reicher und vornehmer Leute, die den Wunderknaben geigen hören wollten. Wenn er bloß den Karl Maria allein vor sich hatte, dann war ihm nicht mehr bange um seinen Sieg.

Heute nun war, wie er ausgekundschaftet hatte, Williguth mit den Seinen und Frau Lisbeth bei einem Orgelkonzert in der Kirche zu St. Pankraz. Und Karl Maria war allein im »Blauen Herrgott«.

Das gab Franz Tredenius Mut. Er faßte nach dem Engelskopf, der den Handgriff des Glockenzuges bildete. Wie ein schriller Schrei lief es durch das leere Haus.

Schritte kamen näher, hastige, eilige Kinderschritte. Ein blonder Mädchenkopf guckte heraus, zwei große dunkelblaue Augen betrachteten mißtrauisch den fremden Mann.

»Ist Karl Maria Tredenius daheim? Ich bin sein Vater.«

Wie ein Räuber schob sich der Postoffizial zwischen Tür und Angel.

Ein goldgrüner Schein fiel aus dem Garten durch die hohen Fenster in den Korridor, in dem nun Kunigunde Williguth in ratloser Angst vor dem schlimmen Onkel stand.

»Guck' mich nicht so dumm an. Kleine! Ich will bloß meinen Buben heimholen.«

Mit einem breiten Lachen schloß er die Tür und blickte sich in dem »Blauen Herrgott« schier spöttisch um. Es roch hier förmlich nach Biederkeit, nach Scheuerseife und frischgewaschener Wäsche. Die neu gebohnten Holztreppen spiegelten vor Reinlichkeit und waren glatt wie Eis.

»Karl Maria ist oben,« murmelte Gundl und wies dem Onkel den Weg wie einem Menschenfresser. Geigentöne schwirrten Franz Tredenius entgegen. Er lächelte stolz. Das war sein Bub. Er kannte den Strich. Ein siegesgewisses Lächeln ging um den vollen Mund, langsam zwirbelte er den rotblonden Schnurrbart. Dann klopfte er kurz. Vor ihm stand sein Kind und spielte Geige.

Gundl ließ Vater und Sohn allein. In dunkler Furcht lief sie aus dem Sause, um Giacomo zu suchen, der irgendwo im Garten oder im nahen Birkenwäldchen das Baumklettern übte. Wie ein gehetztes Wild rannte sie ihm nach. Sie mußte ja den Karl Maria retten. Wie eine strenge Pflicht stand dieser Gedanke vor ihr.

»Bub!« rief Franz Tredenius und öffnete die Anne, »gib mir einen Kuß!«

Karl Maria aber zögerte.

Die Fäuste hielt er geballt wie zu einem Kampf auf Leben und Tod. Der Vater kam, heimlich ihn zu holen, ins frühere bunte Leben! Alle Sehnsucht wachte wieder auf und aller gekränkte Trotz, den Johann Sebastians rauhe Erzieherfaust nicht hatte brechen können. Dazwischen warnte ihn etwas und wollte ihn im »Blauen Herrgott« zurückhalten. Aber Geduld und Warten ist bitter und schal, wenn man zwölf Jahre alt ist und nach dem Ruhm fiebert. So fragte er zitternd: »Was willst du von mir?«

»Bist du glücklich, Karl Maria?«

Schwer war das Schweigen und gab Franz Tredenius eine willkommene Antwort.

»Haben sie dich hier schon ganz klein und verzagt gemacht, die klugen Schulmeister mit den butterweichen Herzen und den groben Händen?« Er zog alle Karten und Briefe, die er bei sich hatte, aus der Tasche und warf sie in regellosem Durcheinander auf den Tisch, gerade neben die Geige. Der Junge lief hin und kramte darin herum, wie in lange verschlossenen Schätzen. Dann wandte er sich mit heißen Wangen und zuckendem Mund zum Vater: »Ich kann nicht fort. Sie sind alle so gut mit mir.«

»Dann bleib!«

»Ich weiß ja nicht, was ich tun soll, Vater!«

»Komm mit mir, Karl Maria. Die vornehmen Leute warten auf dich.«

»Aber die Mutter –«.

In dumpfem Schmerz bohrte er die Fäuste in die Augen. Franz Tredenius lächelte gütig: »Ach, die Mutter. Wenn sie dich glücklich sieht, wird sie gewiß nichts dagegen haben.«

»Aber du mußt versprechen, daß du nichts Schlechtes mit mir tun willst.«

»Was soll das heißen?« brauste Franz Tredenius auf.

»Schau, Vater, sag' mir doch, warum war es schlecht, daß du mich zu den Tanten der Trix geführt hast?«

Vorgebeugt wartete er auf eine Antwort.

»Du hättest nicht die ganze Nacht aufbleiben sollen,« murmelte Franz Tredenius und nagte unbehaglich am Schnurrbart.

»Und ich will nicht mehr um Geld spielen, Vater! Geld ist gemein.«

Mit einem Ruck warf Karl Maria diese Last von sich. Dann streckte er mit einem hellen Lächeln dem Vater die Hand hin: »So will ich mit dir gehen. Aber Mutter wird –«

»Deine Mutter stirbt vor Herzeleid, wenn du fortläufst!«

Klobig und trotzig kamen diese Worte von der Tür. Vater und Sohn fuhren auf. Auf der Stirn des Franz Tredenius schwoll die Zornesader. Mit einem Wutschrei warf er sich dem bärenstarken Burschen entgegen, der ihm da den sicheren Sieg entreißen wollte.

»Wer sind Sie überhaupt, Sie Kerl –?«

»Ich bin der Giacomo Williguth vom ›Blauen Herrgott‹. Und der Karl Maria bleibt da.«

»Nein,« brüllte der Mann und riß den Knaben an sich, wie einen Talisman, der ihn schützen sollte vor der gemeinen Not des Lebens, »das ist mein Bub. Ihr habt ihn mir gestohlen!«

»Karl Maria, was willst du tun?« fragte der starke Giacomo und stand geduckt in lauernder Furcht.

»Ich will mit dem Vater –,« flüsterte Karl Maria und tat sehnsüchtige Blicke nach der offenen Tür, durch die die goldene Freiheit hereinguckte.

»Dann muß es sein,« knurrte Giacomo und schleuderte den Rock von sich.«

»Soll das eine Drohung sein?« fragte der Postoffizial scharf und kramte die Briefe zusammen.

»Herr Onkel Tredenius,« begann Giacomo, ebenso feierlich wie sein Vater, »hören Sie mich gut an! Dieses Kind gehört uns. Sie wollen es zugrunde richten. Ja, Karl Maria, dein eigener Vater will dich um Geld verhandeln, – er und deine saubere Schwester! An deinem armen Geigenspiel kochen sie ihre Bettelsuppe. Verzeih mir Gott, was ich da sage! Aber ich kann nicht anders.«

Da sah Karl Maria, wie sein Vater sich mit geballten Fäusten auf Giacomo stürzte.

»Gib den Weg frei, oder –!«

Aber der junge Williguth gab den Weg nicht frei. Mit raschem Griff blockierte er dem Wütenden beide Arme und hob ihn hoch wie ein zappelndes Kind. »Nichts für ungut, Herr Onkel Tredenius, aber Sie sind ein gemeiner Mensch!«

Franz Tredenius wollte sich losringen. Doch diese jungen Arme waren wie Eisen und hielten fest. Er keuchte vor Scham und Wut, als ihn Giacomo aus dem Zimmer trug.

»Achtung, Herr Onkel, jetzt kommen sechs Stufen,« warnte der gutmütige Giacomo ganz höflich und rief Karl Maria zu: »Bring schnell seinen Hut!«

So ging es die Treppe hinab. Den Hut stülpte er seinem Opfer derb über die Ohren und riß die Haustür auf.

»Adieu, Herr Onkel!«

Krachend flog die schwere Tür ins Schloß. Draußen hämmerte Franz Tredenius dagegen: »Ich hole die Polizei!«

Aber Giacomo gab keine Antwort mehr. Ganz blaß vor Mitleid stand er in dem gründämmerigen Hausflur und flüsterte vor sich hin: »Der arme Bub, der arme Bub!«

Erschreckt schmiegte sich die Gundl an ihn. Da löste er still ihre Arme: »Geh hinauf, Gundl, geh' zu Karl Maria!«

Und sie tat, was er verlangte, wie eine mutige kleine Krankenwärterin.

 


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