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An diesem Abend also kam die Guarneri mit einigen Zeilen von der Hand der Trix in das Dachstübchen, wo Karl Maria in Schöpferwonne schwamm, wenn auch die erste Hitze schon verflogen war. Aber sonst rumorte es noch ganz gewaltig hinter seiner eigenwilligen Musikerstirn, so daß die Freude über die wiedererlangte Geige nicht gleich Platz fand. Die Arpeggios des Klaviers jubelten mit den Triolen der Violine um die Wette. Da vergaß man Liebesweh, knappe Barschaft und ein Ziel im Nebel und diente nur dem neuen Gott.

Heim in den »Blauen Herrgott«! Ja, dazu hatte auch Andreas Katzenkopf geraten. Dort hatte man Geduld mit einem armen Tropf, der groß und stattlich geworden und doch noch immer ein Sterngucker war, trotzdem Freunde nur warteten, daß er die Hand hob und bat: »Helft mir!« Aber sein Trotz war dawider. Der Habenichts Karl Maria hatte immer und jederzeit verschwendet und verschenkt und dann den Kopf geschüttelt, wenn kein Dank kam. In Weimar und anderswo. Die Miriam aber marschierte durch das Tor des Glücks. Der Brief der Trix knisterte in seiner Hand. Langsam strich er mit den schlanken Fingern über das Papier. Treue Menschen sorgten sich um ihn. Das gab ihm Kraft. Jetzt hätte er seine Armut wider keinen Reichtum getauscht, so tief selig war er, daß er seine Geige wieder hatte, ein Brieflein der lieben Frau noch obendrein und zwei Manschetten mit Noten bekritzelt.

Und jetzt versuchte er sein Werk auf der Guarneri. Rot brannten die Wangen, die Lippen wölbten sich, als schlürften sie köstlichen alten Wein.

Und war nur ein Notenwirrsal, aber sein Eigentum ganz allein. Heimweh packte ihn, als müßte er seinen Schatz möglich schnell in den »Blauen Herrgott« bringen. Alte Bilder tauchten wieder in Farbe und Licht, verklungene Stimmen summten altvertraute Lieder, so wob in tausend schillernden Fäden das Wunder der Alltäglichkeit um den Geiger Tredenius. Als er tags darauf hörte, daß die Gräfin Rothenwolff allein abgereist sei, faßte er einen schnellen Entschluß. Er brach alle Brücken hinter sich ab. Seine Schulden zu bezahlen, brauchte er freilich den Rest seines Geldes und mußte noch Wäsche und Kleider dareingeben. Die übrige Herrlichkeit ging in den Ranzen, worin auch die Geige des Katzenkopf noch Raum fand. So zog er los, warf allen Schmerz in den Wind und stellte sich auf die eigene Kraft.

In Dörfern und Flecken strich er die Geige, in rußigen Wirtszimmern und unter breitästigen Linden, bei fröhlichen und bei traurigen Leuten, bei solchen, die ihm die Hand mit Münzen füllten, und bei anderen, die bloß ein mißvergnügtes Greinen für seine unbekümmerte Jugend hatten. In den Nächten aber kamen Träume, die brannten wie die Küsse der Miriam und tranken sein Blut. Dann lief er die Füße wund, bis ein bunter Herbsttag sein Herz wieder froh und leicht machte. An die Mutter hatte er noch aus Weimar geschrieben, allerdings nur vergnügliche und hoffnungsvolle Worte, keine Silbe von seinem Mißgeschick und von seiner Wanderung in die Heimat. Ihm war, als wachte er erst jetzt so recht aus seinem Himmelsguckertum auf, und mit dem fallenden Laub, das von Baum und Strauch sank, glitt auch manches Welke und Dürre von Karl Maria Tredenius.

So zog er durch die Lande, unbekannt und doch willkommen als ein Stückchen Romantik in der allzu geometrischen und mechanischen Zeit. In irgendeinem sächsischen Fabriknest kam er ums Abenddämmern in eine Gruppe von Arbeitern, die truppweise heimtrabten. Da hob er seine Geige und marschierte geigend voraus, zuerst hörte er unwilliges Brummen hinter sich, dann aber ermunternde Zurufe, und schließlich baten ihn alle, die einen im Ernst, die andern im Scherz, in ihrem Stammwirtshause; da es just Samstag war, ein Konzert zu geben. Manche rußige Seele schlug da mit den Flügeln, und mancher Greis senkte sinnend den Kopf. Und in Schweiß- und Bierdunst jubelte die Guarneri in sorgloser Leichtigkeit. So übte Karl Maria seine Kraft. In den sonnigen Mittagsstunden aber lag er in Busch und Ried und gab seinen Träumen gnädigst Gehör. Sein Ohr spielte mit dem Flügelton der Brummfliegen und mit dem Summen der Bienen, die den letzten Honig sammelten. Die herbstschöne Natur und die neue Macht in seiner Seele wirkten Buntheit und Freude in diese Tage, daß alles zu murmeln schien: »Nimm es so gern, wie ich es dir gebe!« So überwand er alles Weh, das er aus Weimar mitgetragen hatte. Alles geriet in einen feierlichen Zusammenhang, den er freilich nur dunkel erriet, und er erwachte jeden Morgen voll Neubegier, was der Tag ihm bringen werde.

Karl Maria wanderte also in die Heimat, wie in eine Pflicht, die ihm früher lästig gewesen war und ihn jetzt beinahe lockte. Es lag ihm sogar leicht auf, daß er mit leeren Händen kam und seinen Reichtum, den er heimlich in der Tasche hatte, doch keinem weisen konnte, ohne Lachen oder mitleidiges Kopfschütteln zu erregen. Aber er hatte auch Menschen und Dinge in Morgen- und Abendbeleuchtung gesehen und seinen Ranzen mit allerlei nützlicher Kenntnis gefüllt. Zur Übung probierte er seine Weltklugheit hie und da gleich mal praktisch, fuhr jedoch stets ziemlich jammervoll die Treppe hinab. Ein alter Musikprofessor hatte genug von ihm, als er das H-Dur-Trio von Brahms pries, ein anderer verlangte Papiere, sichere, dickbestempelte Papiere, weil sonst alles aufs Vagabundentum hinauslaufe, ein dritter kanzelte ihn ab, als Karl Maria auf die Frage, wen er für den größten Geiger der Gegenwart halte, frischweg Hans Geßner nannte, ohne zu bedenken, daß der größte Geiger einfach der Mann war, mit dem er zu sprechen gerade die Ehre hatte. Karl Maria wurde rot, knickte zusammen, packte sein Schicksal auf und ging. Aber die Trauer hielt nicht vor. Der alte Musikant Katzenkopf hatte doch zu viel Lichtfünkchen in sein Herz gesenkt, daß auf das Stückwerk mißglückter Hoffnungen stets von ganz innen her ein milder Schimmer siel.

Als Karl Maria in die Heimat kam, war es Dezember, ein sonniger, fast warmer Weihnachtsmond, ohne Schnee und Sturm, da unser Herrgott auch schon die Romantik an einen goldenen Himmelsnagel gehängt hat. In einem billigen Gasthause stieg er ab und begann mit verzweifelter Hartnäckigkeit wieder die Suche nach einer bescheidenen Stelle in einem Orchester oder als Hilfe bei einem Regens chori, alles nur, weil er nicht mit leeren Händen antreten und neuerlich das Brot des Onkels essen wollte. Der kleine Unterschlupf, um den er so heißhungrig warb, sollte das Weihnachtsgeschenk für seine Mutter sein. Aber wieder blieb ihm das Pech treu. So sehr er sich mühte, weil seine Sehnsucht ihn doch in den »Blauen Herrgott« trieb, klappten alle Türen hinter ihm zu, ohne daß er etwas erreicht hatte.

Nur einmal erwischte er das Glück bei einem Endchen, ließ es aber freilich nach seiner Art wieder los. Mit harter Mühe war er bis zu einem Kapellmeister der Oper vorgedrungen, verbeugte sich kurz und bat um die Erlaubnis, auf seiner Geige etwas vorspielen zu dürfen. Der Gewaltige nickte, und als das Stück zu Ende war, kratzte er sich nachdenklich hinter dem Ohr und fragte nach der Protektion. Einen Augenblick zögerte der junge Tredenius, ob er den Namen Achaz Rothenwolff nennen sollte. Aber nein! Dazu halte er kein Recht. So schüttelte er den Kopf: »Ich habe keine.«

Der Kapellmeister lächelte ungläubig, lobte Ton und Strich, ließ sich Karl Marias Abenteuer erzählen und geleitete ihn selbst zur Tür, versprach auch, bald etwas von sich hören zu lassen. Natürlich blieb alles still.

Nun verkroch sich Tredenius wieder in seine Menschenscheu und Bescheidenheit, die wartete, immer wartete, die Hände in Plage und Arbeit marterte, statt mit geschicktem Griff das Glück zu packen. Jetzt hielt ihn die Scham dem »Blauen Herrgott« fern, und ein kindischer Trotz auch dem Hause der Trix. Wieder gewann der Haß wider alle Welt in ihm Gewalt.

In der Zeitung las er, daß Miriam Italiener, die jetzt sehr prunkvoll Lippa Lippi hieß, an die hiesige Oper engagiert war, daran schloß sich eine etwas romantische Lebensbeschreibung der heimgekehrten Tochter dieser Stadt.

Da spürte der junge Tredenius zum ersten Male, was Neid heißt. Er saß in einem schmutzigen Einkehrgasthause und verzehrte die letzten Pfennige, die er auf der unbekümmerten Herbstfahrt erworben hatte. Die Harmonie bekam einen Knacks, die Dissonanzen tanzten Polka. Grübelnd und trotzig arbeitete er an seiner Violinsonate und üble fleißig allerlei technische Fertigkeiten, wenn die Finger in dem ungeheizten Zimmer klamm und steif wurden. Das war die tiefste Weisheit dieser verlorenen Tage.

Dann fiel etwas Schnee, als hätte Gottvater doch Mitleid mit den Weihnachtserzählern und wollte sie nicht gar so arg Lügen strafen. Und dieser Schnee entschied das Schicksal des Geigers Tredenius. Ein Junge bückte sich, ballte das weiße Zeug zu einem Wurfgeschoß und schleuderte es dem unbefangenen Karl Maria in den Nacken, weil diese gottähnliche Versunkenheit den Zorn des handfesten Schulbuben erregt hatte. Leider oder richtiger zum Glücke verfehlte er den Musikus, und der Schneeball saß platschend auf einem brandroten Plakat mit schwarzer Schrift. Dies schien auch Karl Maria merkwürdig, und er besah den Schneeball mit nachdenklicher Faulheit. So fiel sein Blick auf das rote Plakat. Er rieb die Augen blank, was die Trix ihm schon im Park zu Weimar eifrig geraten hatte, und las. In Rot und Schwarz wurde da der Ruhm von einem verkündet, der das Glück schon längst auf die Knie oder auf die Schultern gezwungen hatte. Genickfallgriff oder verkehrter Gürtelgriff. All das tanzte vor Karl Marias Augen. In der Mitte prangte ein Bild des Körperstarken, dick und massig, blond und helläugig. Karl Maria atmete schwer, als er Giacomo Williguths Konterfei erkannte. Recht vor den Kopf geschlagen und mit einem Ruck wieder in alle Welt gestellt, las er von den preiswürdigen Heldentaten des Giacomo aus dem »Blauen Herrgott«. Mit einem Male war das Heimweh wieder da und warf allen Stolz und Trotz in die Rumpelkammer. Dazu kam noch die Sehnsucht der Schwachen und Pfuscher, die es den sonnenhellen Menschenkindern gerne abgucken möchten, wie diese das Leben zu ihrem Vorteil und Wohlbefinden handhaben. Ein Stückchen Hochmut kroch auch mit unter, weil Karl Maria, so der feinen und stillen Musik diente, mit leisem Lächeln auf die rohe Muskelkraft Giacomos hinabschaute.

 


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