Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

So saß er am Abend im Zirkus, hoch oben auf der Galerie, eingepfercht zwischen fragwürdigen Gestalten aus der Vorstadt, die den Wert praller Muskeln und schneller Fäuste gar wohl abzuschätzen wußten und mit rauher Stimme die heutigen Kämpfe besprachen, Partei wider Partei, Anhänger des tour de hanche wider solche des tour de bras.

Noch aber hatte die Manege ihr buntes und lautes Leben, das aus einer andern Zeit stammt und mit verzweifeltem Zorn wider das Unkraut sich wehrt, das aus neuen Wünschen wächst und über Clownspäße und Pferdedressur rettungslos fortwuchert. Das Orchester lärmte seine Blechmusik, gelber Staub hing in der Luft, der Geruch der Tiere mengte sich mit der Ausdünstung der vielen erregten Menschen, scharf roch die Lohe bis in den letzten Winkel. Manchmal zog noch Pulverrauch durch diese absonderliche Mischung.

Karl Maria lächelte. In solch grellen Farben kam also der Ruhm daher, von Pauken und Posaunen umlärmt, von geschäftskundigen Händen als Lockspeise bereitet. Und dazu redeten noch die Radaubrüder ringsum weise und entschieden von Gelenk und wieder Gelenk, von blitzschnellen Rouladen und Pirouetten, als müßte alle Fertigkeit bloß im Gelenk sitzen, lose und leicht und mit der Schnellkraft einer Feder. Karl Maria legte die Arme auf die Balustrade und starrte in die leere Luft. Galt in der Welt wirklich nur das, was roh und grob ins Auge sprang? Ein Frösteln rann durch sein Blut. Mußte alles erst mit Geschrei und Lärm in Szene gesetzt werden, damit die Menschen daran glaubten? Karl Maria biß die Zähne zusammen und wollte es nicht wahr haben. Hier Giacomo Williguth und dort Miriam Italiener. Er aber blieb abseits und verkroch sich in sein Schneckenhaus. Dann wußte er allerlei Entschuldigungen für sein irdisches Zurückbleiben. Seine Sehnsucht war reiner und heller, ging nach seinen Mußestunden, in denen die Musik andächtigen Menschenseelen verwandt ist, ging nach dem Ausarbeiten verborgener Schönheiten, nach der treuen Wiedergabe edler Zartheit. Oberirdisch süß suchte er seinen Geigenton zu halten, wie Goldrauch in purpurner Abendluft, grotesk und gespenstisch zog er seine Schnörkel, wie Silhouetten von der Hand des Königsberger Hoffmann. So rechtfertigte er seine überlangen Tölpeljahre vor sich selbst.

Und jetzt saß er mit heißen Wangen in diesem Zirkus, wo alles grell, derb und bunt war, und verteidigte sein heimliches Heiligtum wider den gierigen Lärm ringsum.

Die hohen Gagen, von denen die Vorstadtgesellen erzählten, wirbelten in sein Ohr, und er grollte ein wenig seiner Armut, die es zu nichts gebracht hatte. Stubenhocker nannte er sich und war doch zwei Jahre durch die reiche Gotteswelt gewandert, glücklich und traurig, Tag auf Tag häufend, wie Heiligenbildchen in ein Buch. Heute aber brannte der Ehrgeiz in ihm und ein stummer Zorn über seine Nichtigkeit.

Jetzt zogen da unten die Riesen heran, die von ihrer Muskelkraft lebten, in Trikots von allen Farben, die Gladiatoren von heute, deren keuchende Leiber für einen kurzen Abend kluge Geschäftskniffe mit billiger Romantik umkleideten und die das müde Verlangen nach Kraft sättigen halfen. Dann trat ein großer und dicker Mann vor, hob den Zylinder und begann die Ringer nach Namen und Land vorzustellen, gab auch besondere Siege einzelner Meister mit großer Wichtigkeit an. Und plötzlich erkannte Karl Maria in dem Sprecher Mr. S. Lewis. Mit Tanzmeistermiene wies der Impresario auf einen riesenhaften plumpen Kerl, der ein feuerrotes Trikot trug und der Weltmeister Kara Mustapha sein sollte. Die Radaugesellschaft auf der Galerie trampelte und schrie ihren Beifall. Der türkische Lastträger hob gönnerhaft die Hand zum Dank.

Ein blatternarbiger Bursche neben Karl Maria brummte: »Gib acht, Türke, der schwarze Jakob ist schneller als du.«

Und jetzt sah Karl Maria den starken Giacomo, mit Muskeln bepackt, doch noch immer hoch und schlank in seinem schwarzen Trikot, das ein silbernes, kunstreich verschlungenes Monogramm Q. W. trug. Gundl Williguth hatte es vor der Ausfahrt des Bruders gestickt. Heiß quoll es in dem jungen Tredenius auf, als er so von der Höhe dieses Zirkus einen Blick in seine schnöde verlassene Heimat tat.

Drunten verlas der Impresario die Namen der vier Paare, die heute miteinander ringen sollten. Auch Giacomo Williguth, Meister von Amerika, war darunter, als Gegner hatte er den schwerfälligen Türken mit dem rohen Blick.

»Die kommen beide in die Entscheidung,« erklärte freundlich ein alter Strolch, der zum Troste hie und da ein Fläschchen hervorholte.

»Woher wissen Sie das?« fragte Karl Maria.

»Ist ja alles Schwindel,« antwortete der wohlwollende Schnapsbruder, »heute machen sie es unentschieden.«

Er wischte den feuchten Schnurrbart trocken und legte den Kopf auf die Arme. So starrte er aus verglasten Augen in die Arena, wo gerade ein flinker Neger mit einem fettleibigen Italiener raufte.

Karl Maria aber blickte erst hinab, als wildes Schreien durch das Haus brauste und die beiden Champions in den Ring traten. Die Musik gab einen Tusch. Sie reichten sich die Hand und begannen das Werk. Roh und langweilig schien es Karl Maria, so fein und geschickt Angriff und Abwehr einander folgten. Einmal faßte der starke Williguth seinen Gegner und schwang ihn durch die Luft. Als er jedoch merkte, daß der Türke zum Werfen zu schwer war, stellte er ihn wieder ganz säuberlich auf die Beine. Dann schickte er ein breites, entschuldigendes Lachen zur Galerie hinauf, und Trampeln und Johlen belohnten seine Aufmerksamkeit. Manchmal nickte er auch zu einer Bankreihe hin, weit unter Karl Maria, und hatte ganz lachende Augen, wenn er sich dann wieder dem Türken zuwandte. Dort saßen vielleicht die vom »Blauen Herrgott«. Dieser Gedanke weckte in Karl Maria eine neue Sehnsucht nach dem bescheidenen Glück, das im alten Klösterlein und in dessen schrullenhaften Menschen Sitz und Herrschaft hatte.

Der Türke hatte Giacomo gepackt und zwang ihn zu Boden. Schwarz und Rot wälzten sich durcheinander, auf den prallen Muskeln stand dicker Schweiß. Die Menge brüllte die Namen der beiden Kämpfer, höhnte den einen, lobte den andern, geriet auch untereinander in Streit, daß schlimme Worte durch die Luft zischten. Die vornehmen Herren in den Logen standen auf und reckten die Hälse, nervöse Hände fingerten mit dem Stecher. Es ging um hohe Wetten.

»Halbnelson,« brummte der Schnapsbruder neben Karl Maria.

Der Kampfleiter rannte wie eine Henne, die ihre Kücken verteidigt, um die zwei verschlungenen Leiber, die Pfeife in der Hand. Lautlos und erbittert wogte der Kampf. Das Schiedsgericht setzte sachverständige Mienen auf, wackelte mit den Köpfen und blickte dann in überlegener Langweile in die Luft.

Karl Maria Tredenius war aufgesprungen und starrte auf den Teppich, als würde dort über sein eigenes Schicksal entschieden. Die Muskeln spielten über das feine Gesicht, der schwere Mund war trotzig gefaltet, als müßte er einen wilden Zuruf krampfhaft zurückhalten. Giacomo aus dem »Blauen Herrgott« war ein junges Blut wie er selbst. Und Karl Marias eigenwillige Phantasie knüpfte sein eigenes Schicksal an die Entscheidung dieses Kampfes. So lächelte er nur in zorniger Trauer, als der Türke Giacomos Kopf immer tiefer niederdrückte.

Da geschah etwas Sonderbares.

Eine mächtige Stimme erscholl, daß die Worte wie Paukenwirbel schmetterten. Karl Maria erkannte diese Stimme. Die Tränen liefen ihm über die Backen, als Johann Sebastian Williguth die väterliche Orgel rollen ließ. Alles wandte den Kopf nach dem Alten, der wie ein Heerrufer brüllte: »Gib's ihm feste, mein Jung'!«

Mit einem Ruck spannte der starke Giacomo seinen Körper, der Türke ächzte, um den Griff festhalten zu können, aber langsam richtete Giacomo das Genick auf und schob die Schulter nach unten. Ein wildes Zerren und Drücken, Schieben und Stoßen. Dann stand Giacomo Williguth auf, und der Türke betrachtete trübsinnig seine leeren Hände. Mit einem Wutschrei warf er sich auf den schwer atmenden Gegner und faßte Untergriff von rückwärts.

Jetzt wurde das Murmeln zum Schreien und wuchs bis ins Brüllen.

Blitzschnell bückte sich Giacomo und fesselte des Gegners rechten Arm.

»Armfallgriff mit Schlüssel,« erklärte der Schnapsselige und gönnte sich einen herzhaften Schluck.

Der Türke riß verzweifelt den Gegner in die Luft, doch der Griff saß fest. Da sank Kara Mustapha zu Boden und versuchte sein Glück auf dem Teppich. Wie ein Panther warf sich Giacomo auf ihn. Ein kurzes Strampeln. Eine verkürzte Brücke zur letzten Rettung. Dann war es zu Ende. Mit beiden Schultern berührte der Türke den Boden.

Die Pfeife des Kampfrichters schrillte. Der besiegte Türke sprang auf und lief aus der Arena.

Giacomo aber lächelte, wie in jener Stunde, als er seinen gewaltigen Vater im Ringkampfe gefällt hatte.

Der Beifall rauschte. Ein dicker Mann schüttelte Giacomo die Hand. Aus den Logen rannten die Herren in die Arena. Buchmacher fochten mit den Armen. Dick hing der Staub in der Luft.

Karl Maria schloß die Augen, als sehnte er sich zurück in seine alte Stille. Dann ging er hinab. Ein trotziges Verlangen trieb ihn, dieser siegreichen Jugend abzugucken, wie man Sieger wird.

Überall schnatterten erregte Menschen, der Impresario Lewis stand mitten unter einigen Kavalieren und fächelte sich mit dem Zylinder Kühlung zu. Sein fettes Gesicht glänzte im Triumph.

Man wies Karl Maria in die Ringergarderoben, die tiefer als die Arena lagen, in engen, schmutzigen Korridoren, wo gelbe Gasflammen trübselig flackerten und die verdorbene Luft noch mit Hitze schwängerten. Ein Stallknecht in knallgelben Gamaschen zeigte grinsend auf eine Tür, als Karl Maria nach dem Ringer Giacomo Williguth fragte. Zaghaft klopfte er; als keine Antwort kam, tat er es noch einmal. Dann drückte er auf die Klinke und trat ein.

Da lag Giacomo splitternackt auf einer teppichbelegten Pritsche, über ihn bückte sich ein baumlanger Neger und massierte mit seinen schwarzen Tatzen kunstgerecht und voll Eifer, daß ihm der Schweiß in dicken Tropfen auf der schwarzen Haut stand. Giacomo rollte sich auf den Rücken und starrte den fremden Jungen an. Der Neger bleckte die weißen Zähne. Dann strich Giacomo die Finger über die Augen und ließ sie eine Weile dort. Plötzlich schleuderte er die Arme in die Luft, schnellte auf und rannte in seiner Nacktheit auf Karl Maria zu.

»Du bist der Karl Maria aus dem »Blauen Herrgott«. Grüß Gott, tausendmal Grüß Gott!«

Aber plötzlich schwieg er bedenklich und sagte ganz langsam: »Woher kommst du denn hereingeschneit? Daheim warten sie seit Monaten auf dich.«

Als echter Williguth mußte er sich selbst schnell ein wenig rühmen: »Na, sage mal, habe ich den Türken nicht brav geschmissen?«

Karl Maria kam gar nicht zu Wort. So eilig hatte es Giacomos Freude: »Weißt du, der alte Johann Sebastian hat sein Teil daran. Als Papa so zornig losschrie, fuhr mir die Bubenangst in die Knochen, daß ich kurzen Prozeß machte. Kara Mustapha wiegt 240 Pfund. Also schon eine Nuß zum Aufknacken.«

Und er blinzelte in alter Pfiffigkeit: »Na, wie bist du mit der eigenen Nuß zustande gekommen? Schon den Kern herausgebissen?«

Karl Maria stand wie ein dummer Bub, in der alten Hilflosigkeit, aus sich selbst heraus- und zu anderen Menschen hinzufinden, mochten es auch die liebsten auf der Welt sein. Giacomo aber, der etwas Bedenkliches witterte, fragte mit eingekniffenen Augen: »Noch immer rein übers Nierenstück?«

Ein Schmunzeln unterstrich den listigen Hintersinn. Karl Maria ärgerte sich, weil er rot wurde. Giacomo pfiff vor sich hin. Dann setzte er eine strenge Miene auf: »Was willst du jetzt tun?«

»Onkel Williguth bei der Arbeit helfen, da es nicht weiter langt.«

Sagte es wie einer, der an sich selbst nicht glaubt.

Giacomo streckte Daumen und Zeigefinger aus und machte die Gebärde des Geldzählens.

Karl Maria senkte den Kopf: »Ich werde niemals lernen, wie man Geld verdient.«

Da schien es Giacomo, als müßte er alles Lichte und Freundliche seines Lebens vor dieser Verzagtheit ausbreiten und wie zum Trost zeigen, wozu es ein tüchtiger Kerl auf dieser Welt bringen konnte. Er warf sich in die Brust.

»Da lobe ich mir meine Muskeln. Das sind frohe Wertpapiere. Dollars und Franken und Mark, alles schaffen sie. Ja, Geigerlein, ich bin ein großer Herr geworden, ein Kerl, der Sonne und Mond vom Himmel reißen könnte, wenn man es nur tüchtig bezahlt.«

Warm und treu blickte er Karl Maria an: »Und eigentlich danke ich dir mein ganzes Glück. Deinetwillen ist ja der Lewis zu uns gekommen. Will es dir nie vergessen, verlasse dich darauf!«

Er reckte die Arme, wälzte sich auf den Bauch, stützte den Kopf in die Hand und sprach seelenvergnügt weiter: »Zwei dicke Schwesterlein habe ich schon unter die Haube gebracht. Weißt es vielleicht noch gar nicht? Um den ›Blauen Herrgott‹ hast du dich ja nicht sonderlich gekümmert. Und dem alten Herrn habe ich die Orgel neu herrichten lassen. Eigentlich bin ich jetzt der richtige ›Blaue Herrgott‹, der in den großen Schnappsack greift und stets etwas Gutes herauslangt. Aber saure Arbeit hat es gekostet. jeder Tag muß frisch verdient werden.«

Er schmunzelte in gutmütiger Schlauheit, als er so Fleiß und Zähigkeit lobte und goldene Ziele vor Karl Maria hinrückte. Vielleicht kam endlich auch dieser Träumer mit beiden Füßen auf die alte brave Erde.

Aber es blieb recht still. Nur die Gasflamme sang. Karl Marias nie ganz hiebfeste Sicherheit brach jämmerlich zusammen, der alte Zweifel an sich selbst kam wieder und die Scheu vor allen leibhaftigen Dingen dieser Welt. Wie einer, der für sich selbst keinen Rat weiß, streckte er Giacomo beide Hände hin: »Du hast es gut.«

Zornig brummte Giacomo Williguth: »Habe ich dir nicht beim Abschied gesagt: ›Bleibe fest in deinen Schuhen und schlage mit den Hacken hinter dich!‹ Du aber hast, scheint es, nur dich selbst und die, so dich lieb haben, getroffen.«

Grob und derb polterten seine Worte. Karl Maria legte den Kopf zurück und schob das Kinn vor, daß er plötzlich ein rechter Williguth schien.

»Es war doch viel Glück dabei,« sagte er stolz.

Giacomo stieß den Neger von sich und hüllte seinen Riesenleib in einen roten Flanellmantel. Sein blonder Schopf stand wie ein Krönlein über dem Rot. So schickte er sich zu einer neuen Predigt an. Da hämmerte es wider die Tür, und viele Stimmen wurden laut.

»Der ›Blaue Herrgott‹ ist da«, lachte der Ringer und riß selbst die Tür auf. Frau Apollonia prallte entrüstet zurück: »Er ist im Bademantel.«

Frauenkreischen und Kichern, das Klappern eilig entrinnender Füße. Ein großer plumper Mann verdunkelte den Eingang. Aus glänzenden Augen blickte Johann Sebastian auf den Sohn, als wäre ihm soeben ein schwieriges Orgelstück zur Ehre Gottes trefflich gelungen. »Brav, mein Bub!« lobte er gewichtig und ließ die Tränen über sein feistes Antlitz kollern.

»Danke, Papa!« erwiderte Giacomo, und dann schüttelten sie einander die Hände, mit solcher Kraft, daß der Neger anerkennend lächelte.

»Heute wollen wir ein Kalb schlachten,« frohlockte der Meister.

»Hast recht, alter Herr. Da ist ein verlorener Sohn.«

Und Giacomo schob Karl Maria vor sich hin. Mit den Augen gab er dem Vater einen gutmütigen Wink und nickte vergnügt: »Heimgekommen ist er endlich, der schlimme Ausreißer.«

Johann Sebastian nahm den Neffen langsam in strengen und bedenklichen Augenschein. Etwas flügellahm schien er, aber noch immer voll Trotz und Träumerei. Das steckt im Blut, dachte der grollende Onkel und wandte sich ab. Es geschah eigentlich mehr, um sein Mitleid zu verbergen, und doch empfand er einen heimlichen Triumph, daß Karl Maria von seiner Wanderschaft mit leeren Händen und traurig bittenden Augen wieder zu ihm kam, zu Meister Williguth, der den starken und siegreichen Giacomo erzeugt hatte. So groß war sein Kind und so arm und klein der Bub von Lisbeth Tredenius. Eine große Gebefreude siegte über Johann Sebastians Zorn.

»Also bist du auch wieder da?«

Schlicht sagte er dies, streckte seine Faust aus wie zu einer Drohung, öffnete aber die Finger sofort zu einem warmen Händedruck, als Karl Maria ihm halben Weges entgegenkam.

»Willst du mich wieder haben?« fragte der junge Tredenius.

Indessen war der Mediziner Philipp Emanuel eingetreten, groß und massig wie der Vater, aber die grauen Augen blickten kälter und schärfer, und von ihnen liefen schmale Falten zu den stark ausgebauten Schläfen, daß dieser junge Williguth strenger und verschlossener schien als die fröhlichen andern. Sachkundig befühlte und befingerte er jetzt Giacomos Muskeln und schnaufte vor Geschäftigkeit, ganz wie damals, als er vor Karl Marias Konzert beruhigende Pulver in das Selterswasser gemischt hatte. Dazwischen beguckte er den Heimgekehrten und lächelte voll Selbstzufriedenheit, daß alle Romantik Schiffbruch gelitten hatte. Denn er haßte alle verschrobenen und unklaren Dinge.

Karl Maria merkte mit behaglichem Staunen, wie alles in alten Geleisen lief, und wie er selbst wieder in den vertrauten Kreis geriet, als sei all das Bunte, das er in diesen Jahren erlebt, unwirklich und ohne körperliche Wahrheit.

Plötzlich schaute er auf. Ein Frauenkleid knisterte. Und da stand Kunigunde Williguth, blond, hoch und schön, stark an Gliedern wie alle Williguth und doch feiner und zarter in Bewegung und Haltung. Am Mund und Augen aber gab es winzige Falten, und Karl Maria wußte, daß diese schlimmen Strichlein früher nicht dagewesen waren. Da fühlte er seine Schuld, strecke die Hand und bat: »Du liebe Gundl!«

Wie eine Bitte um Verzeihung, wie ein Klopfen an die Türe der Heimat.

Kundry nickte lächelnd.

Dann redeten sie so leise, daß sie ihre Worte mehr errieten als wirklich hörten, und erkannten voll Genugtuung, daß sie beide die Alten geblieben waren, Bruder und Schwester. Die Gundl freilich glaubte noch an etwas anderes, das tausendmal hübscher und verheißender war. Und es jubelte in ihr, weil sie sah, wie schön und rank er heimkehrte, und daß in den Augen und auf der eigenwilligen Stirn etwas saß, das ihm früher gefehlt hatte: Männlichkeit und ein Schimmer von Reife.

Giacomo im roten Mantel schaute auf das Paar und schob die Hände ineinander, als hätte er schwere Gedanken. Und er, der den bärenstarken Türken so unsanft zu Boden gebracht, murmelte bedrückt: »Armes Mädel.«

Ein beinahe finsterer Blick streifte den Geiger Tredenius, wie heimlicher Groll wider einen, der Gold auf dem Wege liegen läßt.

Im »Blauen Herrgott« griff Johann Sebastian nach der Hand seines Neffen, blickte ihn lange an und sprach endlich voll Weihe: »Möge dir mein Haus nun wieder eine Heimstatt sein. Wir alle wünschen nichts Besseres. Jeder ist mit seinem Gott allein.«

Diese letzten Worte, die Meister Williguth im ersten Brief nach Karl Marias Flucht gebraucht hatte, sollten ein stilles Zugeständnis für dessen absonderliches und ganz auf sich selbst gestelltes Wesen sein. Sie fielen dem weichherzigen Haustyrannen wahrlich nicht leicht.

Heimlich aber zog er Karl Maria sogleich in den Musiksaal, schloß die Türe und drückte ihm eine Geige in die Sand. Wartend stand er im Dunkel. Seine Augen glänzten, und seine Ohren bewegten sich in argwöhnischer Freude um den kahlen runden Schädel. Karl Maria spielte ein Rondo von Mozart, dasselbe, das er einst im Salon Kirchweger als kleiner Junge vorgetragen hatte. Es war gleichsam die Aufnahmeprüfung in das Haus Williguth. Alle Feinheit und allen Reichtum, den er diesen Jahren erworben, brachte er in sein Spiel.

»Genug!« entschied der Onkel, »bleibe bei uns, so lange du willst. Du bist reicher und – – – stiller geworden. Jetzt geh zu deiner Mutter!«

So stand der Geiger Tredenius wieder in dem Zimmer, aus dem sein Vater ihn vor Jahren in die Welt hinausholen wollte, in dem er seine alte Geige zerschlagen, um alle Wünsche zum Schweigen zu bringen, wo die Kundry still bei ihm gesessen und sein Weh in den Schlaf geschmeichelt hatte, und wo heute eine Frau mit fast grauem Haar die Arme um ihn schlang und ihn schweigend küßte, voll Dankbarkeit, daß sie ihn überhaupt wieder hatte. Frau Lisbeth hatte keine große helle Kraft, die säumiges Blut ins Leben treibt, nur eine echte Liebe, die blind und immer glaubte. Dieser Glaube hatte sie stark gemacht in allem Leid und war doch keine kirchliche Frömmigkeit, sondern nur der urewige Stolz der Frau, die dies Kind mit aller Fröhlichkeit und aller Trauer in die Welt gesetzt hatte und die nun wartete, daß alles ins Wachsen und Blühen käme.

Kein Wort verdarb diese Stunde. Das Glück liebt stille Leute.

Still und nachdenklich war auch Kunigunde Williguth an diesem Abend, der Karl Maria in den »Blauen Herrgott« zurückgeführt hatte. Ihre Gedanken gingen zurück bis zu der Stunde, da sie Karl Marias Augen vor der kostbaren Geige leuchten sah und ihm zurief: »Lauf doch fort!« Treu und schlicht hatte sie ihm den Weg bereitet, nach ihren kargen Kräften, und das heimliche Lichtlein in aller Einsamkeit brennend erhalten. Nun sollte sie wieder an sein Hierbleiben glauben. Es tat ihr wohl und wehe zugleich. Mit gefalteten Händen und grübelnd hochgezogenen Brauen saß sie vor dieser neuen Seltsamkeit, wie weiland vor der neuen Geige, die eine fremde Hand gespendet hatte. Damals war ihr dies Geschenk wie ein Eingriff in ihr Recht erschienen.

Und jetzt kam Karl Maria aus einem wilden Leben heim. Eine unwillige Angst ward sie nicht los. Vielleicht hatte er sein Bestes an lustige und leichtsinnige Frauen gehängt, und seine Seele trug nun die Spuren davon. Doch Kunigunde Williguth war nach Frau Lisbeths Art, sie glaubte und fragte nicht. Zugleich aber war sie frischer und tatkräftiger und mißtraute aller Träumerei, die nach ihrer Meinung lebensuntüchtig machte. Ein Fünkchen der Williguthschen Romantik aber knisterte doch in ihrem Blut, daß sie noch immer an ihrem Singen festhielt. Die Eitelkeit des Vaters half allerdings auch mit und vielleicht am meisten die versteckte Hoffnung, sich für Karl Maria zu mühen und seinen Beifall zu erwerben. Darum tat sie still und brav ihr Tagewerk, als seine Briefe seltener und flüchtiger wurden. Ein Restchen Trauer und Sehnsucht blieb freilich in ihr. So geschah es, daß Joseph Italiener näher an sie herankam, zuerst nur deshalb, weil er so viel aus Karl Marias Jugend wußte. Wie ein Nachbar ans Fenster klopft und fragt: »Ist es erlaubt?« Allmählich fanden sie zueinander, da Joseph treu und bescheiden an dem schönen Mädchen hing. Und wie ein Wunder war es, daß Joseph durch Gundls wackere Art selbst tüchtiger und fleißiger wurde und jetzt sogar als Kapellmeister in seinem Operettentheater saß. So grüßte seine verlorene Wunderkindschaft nur wie aus weiter Ferne herüber. Als rechter Schlemihl hatte er freilich das entscheidende Wort noch nicht gewagt. Aber er rollte seine runden Augen bereits sehr ausdrucksvoll und seufzte manchmal herzbewegend. Kunigunde Williguth sah die jammervolle Werbung des Rotkopfes nicht einmal ungern. Ihr Stolz, daß sie ihm zu Selbstvertrauen und auf den rechten Weg verholfen, frohlockte ein wenig, und ihr Wesen zog es stets zu den Schwachen und Beladenen, die mit glanzlosem Blick und tatenlosen Händen durchs Dasein gingen. Gekränkter Liebestrotz, daß Karl Maria sie in der Ferne offensichtlich vergaß, half auch mit. Was sie so an ihm nicht tun durfte, tat sie nun an Joseph Italiener.

Frau Lisbeth, von Gundl in diesen zwei Jahren getröstet und wie von einer Tochter betreut, hatte jetzt ihren Jungen wieder und brauchte das blonde Mädel nicht mehr. Aber wartete nicht schon eine neue Pflicht auf sie? War Karl Marias Heimkehr am Ende nicht ein augenblickliches Sichselbstaufgeben, ein müdes Sichbescheidenmüssen? Gundl fielen die Worte ein, die sie einst an Miriam Italiener geschrieben, und womit sie Karl Marias Los bestimmt hatte: »Im ›Blauen Herrgott‹ hat er gut zu essen. Und alle haben ihn lieb. Aber sein Schicksal ist offenbar ein anderes.«

Wie eine stille Genugtuung trug sie das Bewußtsein, daß Giacomo und Karl Maria ihrem besonnenen Tun alles verdankten, weil der Brief an die Miriam den Stein für beide ins Rollen gebracht hatte. Nun lag vielleicht wieder neue Arbeit vor ihr. Ihre Augen glänzten, alle Muskeln strafften sich. Als Giacomo schied, legte er ihr Karl Maria Tredenius ans Herz, wie ein Kind der Mutter oder der älteren Schwester. Plötzlich kam ein wunderlicher Zorn über sie. Sie biß die Lippen blutig, daß außer Joseph Italiener niemand in ihr das durstige und wartende Weib sah, sondern alle nur den Kameraden, die Helferin.

Bei Giacomos Abschied hatte sie geschworen, alles zu tun, Karl Maria froh und reich zu machen. Nun hieß es den Schwur halten. Als sein Vater ihm die Kindheit zerschlug und vor Giacomos Fäusten entwich, saß sie bei ihm und erhob die Hände zum Schutz, wenn ein Sonnenstrahl auf den Schlafenden fallen wollte. Und dann gab sie Karl Maria einen Kuß.

»Ich bin sehr dumm,« sagte die große starke Kundry und lächelte verzagt. Dann dachte sie an Joseph Italiener, der nicht hübsch und nicht sonderlich klug, aber treu und gut war, ohne Grenzen der Hingabe und ohne Selbstsucht, und so bescheiden um sie warb. Und eine ganz neue Schwermut kam über sie.

Noch an diesem Abend scherzte Karl Maria, wie einer, der in die alte Behaglichkeit zurücktritt: »Nun, soll ich bald meine Geige bei deiner Hochzeit brauchen?«

Statt zu antworten fragte sie: »Bist du jetzt glücklich?«

Sie tat dies, um die Entscheidung über sich selbst noch etwas hinauszuschieben. Ganz im geheimen guckte sie freilich nach einem Hoffnungsschimmer für ihr eigenes Wirrsal.

Er nahm nur ihre Hand und streichelte sie vertraulich. Kundry zitterte vor Erwartung und hielt den Atem an.

»Ja, Mädel,« sprach er langsam, »jetzt ist mir oft, als müßte ich das Glück bald irgendwo greifen.«

Sein Blick ging aber in die Ferne. Kundry fühlte in seinen Worten den alten Zweifel an Kraft und Willen und wußte, daß sie eine neue Pflicht hatte. Und sie erkannte mit ein wenig Bitterkeit, daß sie für ihn einfach eine liebe Gewohnheit war, die mit ihm durchs Leben zog, nichts Lockendes und Wunderbares, wie Miriam Italiener oder Beatrice Rothenwolff, von deren seltsamem Frauenwesen er ihr in dieser Stunde ganz harmlos zu erzählen begann, wie einer guten Schwester, die um alle Geheimnisse wissen soll. Gundl haßte Karl Maria ob seiner Aufrichtigkeit. Sie senkte den Kopf und hörte ihm trotzig zu. Von den verliebten Nächten in Weimar und von der Parkbegegnung mit der Trix, die seine Geige zurückgekauft hatte, ging das Plaudern, und Karl Marias Sehnsucht leuchtete allzu hell aus seinen kargen Worten. Kundry wurde klein und verzagt. Auch diese Frauen hatten Recht und Willen in seinem Leben. Dann richtete sie sich auf und hatte plötzlich ihr sicheres Lächeln wieder. Ihm wirklich helfen mußte sie allein. Das konnte ihr keine andere rauben. Sie dachte dies wie einen Schwur.

Als alte Vertraute wurde Kundry auch zuerst mit der Violinsonate, opus 1, bekannt gemacht und ihre Güte kurzerhand vor Karl Marias Erwartung gespannt. Nun hatte er seinen Schatz im »Blauen Herrgott«. Und sein junger Stolz breitete alles wichtig und umständlich aus, verhehlte in seiner derben Vertrauensseligkeit auch gar nicht, wie dies alles in ihm gewachsen war, mitten in trüber Zeit. Die bekritzelten Manschetten holte er hervor und wies das Entstehen dieser neuen Heimlichkeit, die ihn aus allem Weh gesund und tatendurstig in den Schoß der Familie Williguth zurückgeführt hatte.

Die Sonate wurde ihm Widerschein und Spiegelbild der mannigfachen Erinnerungen aus seiner Kinderzeit, die jetzt überall wieder ihren Kreis um Karl Maria zog. Das Klavier führte den Baß des Wassermannes und der schlimmen Seegroßmutter, die Geige aber das Widerstreben und die Sehnsucht des Menschleins, das ins Geisterreich will und doch davor zurückschreckt, so daß die Geige zwei Themen kunstvoll gegeneinander trug und abwandelte, ein Zugreifen und ein Nichtwollen. Und da die Wassersonate des guten Joseph Italiener noch immer in Karl Maria spukte, mochte auch etliches aus diesem Tonstück mit hineingeflossen sein. Wenigstens glich die schwebende Rhythmik des ersten Satzes dem Spiel der Wellen, ein stetes Auf und Nieder von Ja und Nein.

So bannte er in neuer Fröhlichkeit seine Kindheit in das erste kleine Werk, das jetzt die Kundry anhören und beurteilen sollte. Sie lächelte freundlich und gab ihm gute Worte, wurde aber eine leise Angst nicht los, daß Karl Maria sich nun neuerdings an bunte Träume verlieren könnte. Ja, es war schon nicht anders. Karl Maria breitete die Schwingen und ließ die dumme, treue Kunigunde Williguth weit hinter sich zurück.

Wie ein besorgtes Schulmeisterlein flüsterte sie da vor sich hin: »Ich will ihm eine Pflicht schaffen.«

Sie gab sich einen Ruck und sah vollends klar, als Frau Lisbeth ihr bald darauf von den schönen Stellen im Opernorchester sprach, für die Karl Maria doch so sehr geeignet wäre.

Zögernd antworte die Gundl: »Ja, er sollte freilich in tüchtige Obhut kommen.«

Am selben Abend hielt sie den freudereichen Ringkämpfer Giacomo fest und zog ihn in ihr Stübchen. Verwundert fragte er nach dem Grunde dieses sonderbaren Gehabens.

»Karl Maria muß ins Opernorchester,« sagte sie fest und entschieden, als gäbe es da weiter gar keine Schwierigkeiten.

Giacomo strich mit der schweren Faust über Gundls lichtes Haar: »Will er denn schon wieder ausreißen?«

Sie blickte ihn aus klaren Augen an: »Wir beide müssen ihm helfen.«

»Ob ihm da draußen viel Weh geschehen ist?«

Gundl preßte die Lippen aufeinander: »Danach habe ich nicht gefragt.«

»Schwesterlein!« drohte er schmunzelnd, schwieg aber schnell, als sie ihn zornig anfunkelte.

Nach einer Weile sagte er in leisem Vorwurf: »Hast schon viel Gutes an ihn verschwendet.«

Sie sah bedächtig vor sich hin und wiederholte langsam die Worte, die sie einst am Morgen vor dem Konzert zu Karl Maria gesprochen hatte: »Ein großer Geiger soll er werden, um den ein junges Mädel schon wachen darf.«

Dann fragte sie, schon wieder besorgt: »Weißt du keinen Weg?«

»Der dicke Lewis?«

»Ach nein, der hat sich jahrelang nicht um ihn gekümmert, weil Karl Maria noch lange keine so sichere Sache ist wie mein braver Giacomo.«

Der geschmeichelte Riese lächelte wohlgefällig.

Gundl riet hin und her: »Es muß sein und still gemacht werden. Er kennt die Rothenwolffs. Aber bitten wird unser Karl Maria niemals. Also etwas anderes.«

Giacomo rieb nachdenklich die Stirn: »Vielleicht die Ermattinger?«

»Ja, Giacomo, so muß es gehen. Bist doch ein kluger Kerl.«

Leicht und heiter schien ihr jetzt alles, was zu tun blieb. Und Giacomo tat, als teilte er ihre Freude, im Grunde aber grollte er, daß seine Schwester so viel Reichtum an diesem Tredenius wegwarf – ohne Dank. Doch an ihre Seele wagte er nicht zu rühren. Er war ja ein Williguth.

Sie aber war entschlossen, bei der Sängerin sich selbst noch eine andere Klarheit zu holen, die zugleich eine Last von ihr nehmen sollte, mochte auch tausendfältige Bitterkeit daraus kommen. Und doch hatte sie eine leise Hoffnung, daß alles noch ein gutes Ende haben könnte.

 


 << zurück weiter >>