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Das erste Lied der Miriam Italiener war zu Ende. Wie Geisterflüstern huschte das ausklingende Pianissimo in die letzten Ecken des Saales.
Frau Charlotte zog erleichtert das Taschentuch, was sie bis jetzt für unschicklich gehalten hatte, und der starke Gideon riß Mund und Augen auf, als begreife er nicht, daß dieser Singvogel seine Miriam sei.
Einen Augenblick blieb es ganz still.
Dann klatschten zuerst die Jungen, denen die süße, reiche Stimme ans Herz griff, und das bedächtige Alter wandelte ihnen gar schnell und freudig nach.
Blaß und starr stand die Miriam, ihre Hände zitterten, den Kopf hielt sie vorgeneigt, als müßte sie diesen Beifall austrinken bis zum letzten Tropfen.
Ihre eigenwillige Schönheit verlor alle Widersprüche. Der gierige Mund wurde weich und zag. Eckig verbeugte sie sich, als könnte sie an das unwahrscheinliche Glück gar nicht glauben. Sie hatte plötzlich eine dumme Angst vor ihrer Macht.
Jetzt lächelte Franziska Ermattinger, die in der ersten Reihe saß, der strenge Generalintendant Graf Rothenwolff stand auf und klatschte laut und gemessen in die perlgrau behandschuhten Hände. Dann nickte er der Miriam lustig zu.
Der dritte Kapellmeister der Oper beobachtete den zornmütigen Grafen, dessen Seelenleben er zu seinem Vorteil eingehend studiert hatte, nickte befriedigt und sandte dem Ballettmädel, an dem er bisher nur die hübschen Beine geschätzt hatte, eine Kußhand zu.
Nur S. Lewis kümmerte sich nicht viel um die Debütantin. Er hatte einen kleinen, etwas salopp aussehenden, fetten Herrn untergefaßt, zog ihn im Geschwindmarsch den Mittelgang auf und ab und sprach heftig auf ihn ein. Hier und da deutete er mit dem Daumen über die Schulter zurück, hielt dem Kleinen sein rotes Taschenbuch unter die Nase und blickte drein, als hätte er ein Königreich zu verschenken.
Im Künstlerzimmer warf sich Miriam der Ermattinger an die Brust: »Jetzt möchte ich sterben!«
Schnell aber riß sie sich zusammen.
»Habe ich sie auch alle gepackt?« fragte sie mit eingekniffenen Augen und trotzigem Mund.
Ein Geigenton schnitt ihr das Wort ab.
Miriam schlug zwei Finger durch die Luft. »Jetzt nimmt mir der Bub alle Wirkung.«
Aber dann schwieg sie und horchte. Reich und schön setzte die Sonate des alten Corelli ein. Das Klavier verlor sich hier und da auf falschen Seitenpfaden. Milde und klug wies die Geige den Weg zurück.
Da weinte Miriam vor Zorn: »Er kann mehr als ich.«
Und gleich darauf faltete sie wieder die Hände für Karl Marias Glück.
Als das Adagio breit und feierlich begann, litt es Miriam nicht länger.
Leise glitt sie auf Umwegen in den Saal zurück, barg sich im Hintergrund und blickte geduckt und ängstlich nach Karl Maria, der seine Kantilene wie ein altes Kirchenlied spielte, in das hier und da ein lustiger Volkstanz springt. Die Augen hielt er halb geschlossen als horchte er auf hilfreiche Engelstimmen.
Der Beifall rauschte auf. Karl Maria hatte nur erstaunte Kinderaugen und dankte nicht einmal.
Graf Achaz Rothenwolff trug ein helles Lächeln auf seinem verwitterten Antlitz. Er schlug die Hände widereinander und schmunzelte wie Gottvater nach dem Schöpfungswerk. Trotzig und fromm hing er an dieser holden, alten Musik, deren Schönheiten er oft in guter Laune dem Orchester auseinandersetzte. Dieser Bub spielte wie ein junges Mönchlein an einem Frühlingsmorgen.
Jetzt trat er auf Karl Maria zu. Eine blasse, dunkelhaarige Frau stand plötzlich neben ihm.
Schlanke, elfenbeinfarbene Hände streckten sich dem jungen Geiger entgegen, der noch immer wirr in den Saal blickte.
»Glück auf, Karl Maria!«
Da fuhr er auf. Ein Herbsttag am Strom – ein vergessenes gelbseidenes Band –. Wer weckte das auf?
Jetzt traf Blick in Blick.
Karl Maria strich mit der Hand über die Augen. Dann flüsterte er: »Bist du die Trix?«
Stumm stand er vor ihr. Nur die Augen jubelten ihr Glück hinaus.
Sie war gekommen! Hatte still gewartet auf ihn, all die Jahre, im verwunschenen alten Haus am Wasserturm. Hatte gewartet, bis er ein großer Geiger war. Und nun kam sie zu ihm. Allzuschnell schlug er Brücken zwischen einst und jetzt.
Jetzt lächelte die Trix: »Hast du manchmal an mich gedacht, Karl Maria?«
Ein hilfloses Nicken. Das war der Traum nicht, den er träumen wollte. Leise raschelte das silberne Kleid der Trix, Diamanten brannten im Haar. Wie durch tausend Schleier hörte er die helle, unvergessene Stimme.
»Wunderschön hast du gespielt!«
Und dann in stiller Ungeduld: »Freust du dich denn nicht?«
Karl Maria blieb starr. Der liebe Traum lief ungute Wege. Graf Achaz sagte boshaft: »Frau Schwiegertochter, du hast Pech. Er denkt nur an seine Geige.«
Schwiegertochter? Neues klang wider Altes und klang wie grelle Lüge. Karl Maria sah in die Augen der Trix, wie einst in den blauen Herbsthimmel, als er recht weit zum lieben Herrgott hineinschauen wollte, aber er sah nur eine vornehme junge Frau, die Gräfin Beatrice Rothenwolff. Es gab keine Trix mehr.
Plötzlich packte ihn Furcht, ganz dumme Furcht. Irgend etwas ging auf immer fort. Er fröstelte und war todmüde. Und er mußte doch spielen. Ihn ekelte. Schnell gab er ihr die eiskalte Hand: »Nun muß ich wieder geigen.«
Er wandte sich nicht mehr um, die Blicke aller dieser Menschen brannten in seinem Rücken. Und ihm graute vor seiner Geige.
Die Miriam sang Lied um Lied und siegte.
Karl Maria saß, hatte die Geige im Schoß und starrte vor sich hin, in Angst und Trotz. Seine Finger zitterten, daß er sie zornig gegeneinander preßte. Sein Kopf war wüst und leer, im Traum hatte er gespielt, und jetzt war es heller Tag. Mit Gewalt zwang er sich auf. Warum ließen sie ihn nicht in Ruhe? Er war doch so schläfrig. Und er haßte sich und die da draußen.
Dann warf er ihnen Tartinis Teufelssonate hin, zu schnell, zu hart, gar nicht wie feierliche Kirchenmusik, abgerissen, flackernd, daß alle verwundert die Köpfe schüttelten. Der Bogen glühte in der Hand wie heißes Eisen, die Finger griffen hastig und gewaltsam. Achaz Rothenwolff fing zornig die Schnurrbartenden zwischen die Lippen. Trix zog die nachdenklichen Kinderaugen zusammen.
Mr. S. Lewis knurrte verdrossen: »Keiner will warten. Das kommt davon.«
Karl Maria verlor sein Spiel, weil man ihm einen lieben Traum verdarb. Im Künstlerzimmer hieb der erschreckte Joseph Italiener mit der Faust auf den Schenkel: »Ist der Kerl denn toll?«
Jetzt gellte der Teufelstriller herein, wie ein heißer Schrei, der zu Eis erstarrt. Ein dünnes Klatschen starb bald hin, dann Stille.
Im Herzen der Miriam stritten Mitleid und heimlicher Triumph. Karl Maria warf selbst die Waffen weg. Feig wich sie zurück, als er mit seiner Mutter hereinkam. Joseph aber stürzte auf ihn zu und rüttelte ihn an den Schultern: »Bub, was hast du da gemacht?«
Und er begann in redseliger Weise das nächste Geigenstück auseinanderzusetzen. Karl Maria hörte ihn nicht. Nur einmal hob er den Kopf.
Da stand die Miriam an der Tür und schaute noch einmal zurück. Gleich darauf sang sie, und wieder erstritt ihr zäher Wille den Sieg.
Das Schicksal des Karl Maria Tredenius aber glitt in Finsternis. Plötzliche Müdigkeit lähmte seine Hand, und im Kopf war ein schmerzhaftes Hämmern. Er schleuderte seine Stücke hin und wußte selbst, daß er schlecht spielte. Das Antlitz der Trix wurde ihm zur Narrenfratze, und die durchspielte Nacht holte sich ihre Rache. Seine Seele war arm und klein und konnte den Fingern nicht helfen.
Die vom »Blauen Herrgott« senkten traurig die Köpfe, die fetten Gesichter der Familie Italiener aber glänzten in eitel Wonne. Geschwätzige Freude stand laut wider beklommenes Schweigen. Mit zerzaustem Haar, heiß und erregt, stand Miriam zwischen ihren Eltern, die ihr Lob wie Weihrauch wirbeln ließen. Mr. Lewis erzählte mit schnarrender Stimme eine Anekdote aus der Jugendzeit der Grisi. Frau Charlotte war zu Tränen gerührt: »Gideon, du wirst mir alles ausschreiben, was die Miriam sagt, – – man kann nicht wissen – –.«
Frau Apollonia Williguth hielt ihre Schar um sich versammelt, wie eine Henne, wenn der Habicht kreist: »Das kommt von Vaters Hoffart und den verwünschten Musikgrillen in seinem Kopf. So würde er auch euch am liebsten zur Schlachtbank führen, ihr armen Kinder!«
Ihre fette, knarrende Stimme zitterte wehmütig. Die Williguth ballten die starken jungen Fäuste in den Taschen und schluckten krampfhaft. Da löste sich Joseph Italiener aus dem Schwarm der Glücklichen und trat auf Kundry zu, die vor Karl Maria stand, als müßte sie ihn decken vor den Blicken der anderen. Tränen waren in ihren Augenwinkeln, aber ihr Mund blieb herb und stolz.
»Fräulein Kunigunde, was sagen Sie? – hat er nicht wunderschön gespielt – trotz allem?« fragte der dicke Joseph und trug seine hilflose Güte auf beiden Händen zu ihr.
»Nein,« antwortete Karl Maria scharf und ging zur Miriam, die ungeduldig und trotzig herübersah.
»Bravo, Miriam!«
Er griff nach ihrer Hand.
Ein Zucken lief durch ihren Leib, sie schlug beide Hände vor das Gesicht und schluchzte: »Ach was, ich habe gar keine Freude dran.«
Dann blickte sie auf: »Verzeih mir, Karl Maria, ich wollte dir nicht wehetun.«
»Sie ist ein gutes, edles Kind, ein Engel,« stotterte Frau Charlotte, die die zornigen Augen ihres Joseph auf sich gerichtet sah, »wein' doch nicht, mein Herzblatt, du könntest, unberufen, einen rauhen Hals bekommen.«
Und gutmütig streichelte sie bald die Miriam, bald den blassen Jungen.
»Wer weiß, wozu es gut ist, Karl Maria. Buben brauchen eben länger,« tröstete tiefsinnig Herr Gideon und zog verlegen an seinem Prophetenbart. Nicht einmal rechtschaffen freuen durfte er sich über sein Goldkind, weil dieser Tredenius nicht Geige spielen konnte. Stolze Träume dämmerten dem Althändler empor. Das Glück war über sein Haus gekommen. Der Kerr Generalintendant hatte ihm sogar die Hand gedrückt: »Meinen besten Glückwunsch, Herr Italiener!«
Miriam und Karl Maria hielten sich Aug in Aug und suchten nach dem Restchen Gemeinsamkeit, das sie noch verband. Mit unwilliger Furcht fühlten sie, wie ein Stück nach dem andern zerbrach. So hielten sie noch einmal Rast, ehe sie einander die Hände gaben zu einem kalten Abschied. Von allem Klingen und Singen in ihren Seelen war nichts geblieben als ein dumpfes Weh.
»Was willst du tun?« fragte Miriam.
»Ich weiß nicht.«
Sein Blick ging über sie fort, irgendwohin, wo es keine Musik und keine Menschen gab. Sie wollte ihn küssen, ohne Scheu vor den gaffenden Menschen, aber die Arme glitten ihr herab und waren wie von Blei. Keine Freude war in dieser Stunde, die den einen ins Licht, den anderen zurück in den grauen Alltag führte.
Es war kein Haß, es war kein Neid, und trennte sie doch. Frau Apollonia suchte das Unhaltbare zu retten: »Ich glaube, daß Karl Maria hungrig ist. Gehen wir heim!«
Sie schlichen alle davon. Gundl versorgte Geige und Bogen und trug sie Karl Maria nach. Auf der Straße wandte er den Kopf, erblickte den Geigenkasten und lächelte müde.
»Das hättest du jetzt ganz vergessen,« sagte Gundl und drängte sich an ihn.
Aber er sah starr geradeaus.