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Nach einer Weile holte der fette Diener die vier Musikanten.
»Jetzt kann das Klimpern losgehen. Die Herrschaften setzen sich zu Tisch.«
So blieb Karl Maria ganz allein mit seiner Geige. Er weinte zornig und wäre am liebsten heimgelaufen. Niemand kümmerte sich um ihn. Die Martha war ein Scheusal. So saß das Kind in dem verqualmten Zimmer, zusammengeduckt, halb sinnlos vor gekränkter Eitelkeit.
Er wollte heim.
Leise stand er auf und öffnete eine Tür. An kleinen Tischchen speisten viele Menschen, alle geputzt und fröhlich. Messerklirren und Lachen kam ihm entgegen. Hinter dichtem Blattwerk erklang eine süße Musik. Dort mußten die vier Musikanten versteckt sein. Mit großen Augen sah Karl Maria in das bunte Treiben.
An einem Tischchen, nicht weit von ihm, saß ein einzelner Mann. Der wandte sich zufällig um und bemerkte den hübschen Jungen.
»Was tust du denn da?« fragte er gutmütig und winkte Karl Maria herbei. »Setz dich zu mir!«
Karl Maria lächelte und schlüpfte mit seinem Geigenkasten zu dem fremden Herrn. Seine Kinderseele hob wieder schüchtern die Schwingen, als ihr an diesem bitteren Abend das erste Gute widerfuhr. Und die vielen herrlichen Dinge, die livrierte Diener an die kleinen Tische brachten! Er aß, wie nur ein hungriger Schuljunge essen kann, den Kopf ganz zwischen die Schultern gezogen, verlegen ob seiner Gefräßigkeit und doch seelenvergnügt über die vielen guten Sachen, die er flugs vertilgte. Der fremde Herr schien an diesem Kinderglück seine Freude zu haben. In den klaren blauen Augen war eine ruhige Freundlichkeit, als der gesättigte Karl Maria von seinem Schicksal zu erzählen begann, ein Stück aus der Gegenwart und dann wieder eins aus der Vergangenheit.
»Bist du ganz allein gekommen?«
»Nein, mit meiner Schwester.« Und vertraulich plauderte Karl Maria das Geheimnis der Martha Tredenius aus.
So kam der fremde Herr mitten in das vielfach verschlungene Netz der Familiengeschichte der Geschwister Tredenius, die mit klopfenden Herzen und heißen Augen unter all den reichen und kaltherzigen Menschen saßen, arm und verlassen oder als schöne Jagdbeute umlauert, aber voll verzweifelter Entschlossenheit, sich ein Plätzchen in diesem Goldlande zu erobern.
»Hat dich deine Mutter hierhergeschickt?«
»Ach nein. Die wollte es nicht erlauben,« gestand Karl Maria bedrückt.
»Deine Mutter hat recht. Du sollst hier nicht spielen.«
»Aber ich will doch. Ich muß doch endlich vorspielen. Ich will ein großer, berühmter Geiger werden, so berühmt wie der Hans Geßner.«
Der Fremde blickte Karl Maria scharf an. Der preßte die Hand vor die Stirn und wanderte spornstreichs durch allerlei Erinnerungen. Auf dem ersten Weg in den »Blauen Herrgott« machte er halt, und da hatte er auch schon, was er suchte. Diese klaren blauen Augen vergaß man nicht.
»Sie sind der Geiger Hans Geßner.«
Ein überraschter Blick.
»Mutter hat Sie mir einmal gezeigt, als ich noch klein war.«
»Ja, der bin ich. Aber hör' mir zu, Karl Maria: Du sollst noch lernen, nicht als halbflügges Wunderkind dich da umhertreiben. Weißt du, was das heißt?«
»Der Vater schlägt mich, wenn ich jetzt ausreiße.«
»Wenn du jetzt schnell heimgehst, Karl Maria, darfst du mir morgen vorspielen. Du kommst vormittags zu mir, ins Hotel Imperial, denn am Abend fahre ich nach Paris, und spielst mir vor, solange du willst. Vielleicht kann ich dann mit deinem Vater sprechen.«
»Ja, wenn ich das dürfte –.«
Er zögerte.
»Wenn du hierbleibst, will ich nichts mehr von dir wissen.«
»Ich gehe heim. Ich will immer tun, was Mutter und Sie mir sagen.«
Traurig packte er seinen Geigenkasten und stand gar kümmerlich da. Zwei Tränen kollerten langsam die Wangen herab, als sein Märlein von Ruhm und Gold so schmählich zerrann und er heimgeschickt wurde, wie ein Schüler, der seine Aufgabe nicht richtig gemacht hatte.
»Morgen komme ich,« sagte er ganz leise.
Hans Geßner nickte ihm zu und schob ihn schnell zur Tür.
Und da stand Karl Maria wieder in dem raucherfüllten Musikantenzimmer. Die goldenen Türen waren vor ihm verschlossen. Dumme kleine Jungen durften nicht ins Märchenland. »Wie ein Schulbub heimgeschickt,« murmelte er mit trotzigen Lippen. Seine Eitelkeit wollte nicht, und doch zwang ihn Geßners ruhige, feste Art zum Gehorsam. Mutter natürlich, die würde jubeln, wenn er jetzt heimgelaufen kam, und seine Demütigung als Sieg ihrer sorgenden Liebe ansehen. Ein harter Zug lag um den Kindermund. Karl Maria öffnete die Finger und schloß sie wieder, als werfe er etwas fort, das ihm bisher teuer gewesen. Er schlich in den Korridor, den Scheltworten des enttäuschten Vaters und der weltfremden Enge seiner Mutter entgegen. Vielleicht lag das ersehnte Paradies gar nicht in dem glänzenden Salon da hinten, sondern eher im »Blauen Herrgott«, wo Onkel Williguth, von keiner Menschenseele geehrt oder bewundert, einsam seine mächtige Orgel spielte und doch glücklich und zufrieden war. Ob die blonde Kundry wohl lachen würde, wenn sie ihn jetzt sehen könnte; die schwarze Trix würde sicher lachen. Und gar erst die Miriam! »Dummerl!« klang es ihm in den Ohren, als er mit zitternder Stimme den Diener um sein Mäntelein bat.
»Gehst du schon. Kleiner?« fragte der dicke Mann gutmütig, und dem Knaben schien, als sei der rohe Geselle von vorhin um vieles sanfter. »Hast ja noch gar nicht gespielt?«
»Ich will auch gar nicht hier spielen,« sagte Karl Maria und schnitt sich so jeden Rückweg ab.
»Hast recht, daß du der Bagage drin eins pfeifst.«
In edler Entrüstung ballte er die Faust gegen die Reichen, deren Wein er trank und deren beste Zigarren er rauchte.
»Adieu!« sagte der Junge höflich und lief zur Tür.
Dort aber stolperte er einem kleinen alten Herrn in die Arme, der gerade eintreten wollte. Der Knabe sah einen eisgrauen, überlangen Reiterschnauzbart und zornig blitzende graue Augen dicht vor sich.
»Was ist denn das für eine verdammte Kiste?« schrie der Herr Karl Maria an, drehte ihn wieder in den Vorraum zurück und guckte ihm scharf ins Gesicht. Bitterböse sah er aus mit dem gesträubten Schnauzbart. »Sapperlot, du bist ja der kleine Kerl mit der Geige, wie kommst denn du daher?«
Manierlich gab Karl Maria dem Grafen Rothenwolff Bescheid. Nach der Trix wagte er nicht gleich zu fragen. Nur daß er sofort heim wolle, versicherte er dreimal hintereinander, um den zornigen alten Herrn zu besänftigen.
Der schrie aber erst recht: »Unsinn! Du sollst doch hier geigen?«
»Ich soll ja nicht –,« stammelte das Kind.
»Herrgott, wozu bist du denn hier? Ich weiß, was du kannst, du wirst spielen,« eiferte der alte Sanguiniker, pfiff ein paar Takte der Wassersonate und ließ sich aus dem Pelz helfen.
»Herr Hans Geßner hat es mir verboten,« sagte Karl Maria sehr laut, voll Stolz, daß ein so berühmter Mann sich mit seinem kleinen Wohl und Wehe abgab. Einen Augenblick stutzte Achaz Rothenwolff, dann sprang ihm sein leichtsinniges Herz davon.
»Das ist einfach Neid, Karl Maria.«
Der Bub blickte auf. Konnte das denn nur möglich sein?
»Ich will doch lieber fort,« beharrte er dann. Aber er ließ sich sein Mäntelein und seine Pelzkappe doch wieder fortnehmen und stand unschlüssig. Seine Augen wanderten zwischen dem Ausgang und der Tür, hinter der er das Glück gesucht hatte.
»Komm!« sagte der Graf und faßte ihn am Arm. Ein Diener riß die Türflügel auf. Betäubt stand Karl Maria mitten im Salon.
Achaz Rothenwolff verbeugte sich vor der Hausfrau. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, gnädige Frau. Ein Wunderkind.«
Alle Herren und Damen blickten neugierig auf den Kleinen, den der theatergewaltige Intendant Graf Rothenwolff an der Hand hielt.
Die alte boshafte Gräfin klappte die Lorgnette zusammen. »Das ist wieder eine Ihrer Verrücktheiten, lieber Achaz.«
Doch der Graf ließ sich nicht irremachen.
»Zum Klavier!« kommandierte er mit dröhnender Stimme und bot dem armen verschüchterten Karl Maria galant den Arm, wie einer berühmten Primadonna. Der alte Klavierspieler, den man schnell ins Musikzimmer geholt hatte, warf einen bitterbösen Blick auf das Kind. Dann lächelte er spöttisch und fragte leise: »Was willst du denn spielen?«
Als er dann die Noten in der Hand hielt, brummte er ungnädig: »Unmöglich. Das Zeug kenne ich nicht.«
Aber schon drängte ihn Graf Rothenwolff beiseite und setzte sich selbst ans Klavier.
Karl Maria riß die Geige ans Kinn. Dann flog der Bogen hoch.
Lautlos still war es ringsum, als der Bub seine Seele verspielte. Dann klatschten alle und riefen ihm zu; die schönsten Damen küßten ihn, alte und junge Herren sagten ihm Artigkeiten, daß sein armer Kopf wirbelte.
Schließlich mußte er noch ein Rondo von Mozart zugeben. Und es gelang. Zuerst fiel ihm die krause und doch so unendlich reine Rhythmik schwer, aber dann schaute er auf die Engelchen und Fische, die in Muscheln und verschlungenem Bandwerk weiß und golden den Plafond zierten, und traf den Ton. Wie silberne Glöckchen in einem chinesischen Turm sang die Geige, im deutschen Mondschein tanzten Arlekin und Kolombine zwischen steifen Taxushecken und wollten vor Verliebtheit sterben.
Mit einem Male bemerkte Karl Maria den scharfgeschnittenen Kopf Hans Geßners unter der Menge. Hilfesuchend sah ihn der Knabe an und ließ den Bogen springen wie noch nie. Aber die blauen Augen waren jetzt dunkel und streng, zwei schlimme Falten liefen rechts und links zum Schnurrbart hinab. »Er mag mich nimmer,« dachte das Kind und ließ die Geige schluchzen. Dann war Hans Geßner verschwunden. Und der Beifall rauschte um Karl Maria. Rot flammte der Stolz über die Knabenstirn, in die dunkelbraunen Augen kam ein Leuchten, und die Lippen warfen sich auf, als streiche die erste Gier über sie hin.
Mitten in sein stolzes junges Glück griffen plötzlich zwei starke, nackte Frauenarme. Mit einem Ruck ward das zappelnde Geigerlein hochgehoben und saß plötzlich ganz sanft und säuberlich einer Frau auf dem Schoß. Karl Maria besah empört die Riesin, die so ungeschlacht mit ihm verfuhr. Ein mächtiges Frauenhaupt lächelte ihn an, grob aus dem Holz geschlagen, mit der Breithacke, die keine Zartheiten herausarbeiten kann. Große, haselnußbraune Augen mit buschigen Brauen, ein schweres Kinn, wie das einer gefangenen Barbarenfürstin, und dazu ganz seltsam eine schlanke Nase und ein feiner, hübsch geschwungener Mund.
Eine Stimme, deren Klang Karl Marias scharfes Ohr sofort mit dem Ton uralter Kirchenglocken verglich, fragte jetzt mit derber Fröhlichkeit: »Hast mich lang' genug beguckt, Bub? Jetzt stell' dich fein manierlich vor!«
Lachend stand die Gesellschaft um das seltsame Paar. Die Hausfrau lächelte sauersüß, sie fand dies Gehaben ganz ungehörig und für einen Ministersalon reichlich sans façon. Diese Ermattinger nahm sich wirklich viel heraus.
Karl Maria blickte halb keck und halb verlegen auf die bärenstarke Frau, die ihn wie eine Mutter auf dem Schoß hielt. Trotzig nannte er seinen Namen. Da klang ein silberhelles Lachen, so rein und stark, wie wenn am Karsamstag alle Glocken wieder läuten. Das Kind lief dem Rhythmus dieses wundervollen Lachens nach, Takt für Takt. Dann sagte er in schlichter Bewunderung: »So möchte ich geigen können, wie Sie lachen, gnädige Frau.«
Er war höflich wie ein kleiner Page.
»Dem ist's auch im Schlaf gegeben, – der erkennt die Singstimme,« frohlockte die große Frau und ließ einen mächtigen Triller nachrollen.
»Lassen Sie mich los,« bat Karl Maria, »ich schäme mich so.«
Rasch glitten die nackten Arme von ihm, und er war frei.
»Geben Sie dem Buben zu essen,« sagte sie zur verdutzten Frau Minister, »sein Herz springt um eine Oktave zu hoch. Er ist zu jung zu diesem Teufelsspiel.«
Gutmütig strich sie ihm über das heiße Gesicht. »Weißt du, gesund und stark müssen wir sein. Essen und trinken zu allererst, dann kommt das Schlafen, und dann erst die Musik. Aber gelt, am allerschönsten ist sie doch, unsere Musik?«
Ihre Augen glänzten jetzt, und ihr Mund lächelte weich. Sie fühlte des Knaben schwache Arme. »Muskeln ansetzen, Kind. Die Kunst ist eine Henkerin. Die Schwachen bringt sie um.«
Verständnislos sah er sie an. Geigte die am Ende auch? Da konnte er sich nur gleich verstecken.
Die Frau lächelte wieder und fragte vertraulich: »Was macht denn die Miriam?«
Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Sie, – Sie sind die Ermattinger?«
»Stimmt,« nickte die starke Frau mit dem dunkelbraunen, leicht angegrauten Haar, das wie ein Helm um den mächtigen Kopf lag. »So, jetzt los, ich helfe dir essen.«
Wohlgemut griff sie nach einem Schinkenbrot und einem Glas Bier. Karl Maria aber vergaß alles um sich her, die schönen Damen, die ihn bewunderten, die Trix samt ihrem Onkel, Gold und Glanz, selbst den Geiger Hans Geßner, als diese wundersame Frau ihn fütterte wie ein kleines Kind.
Plötzlich stand Franziska Ermattinger auf, und Karl Maria schrumpfte schnell zu einem Zwerglein neben ihrer Walkürengestalt zusammen.
»Jetzt wird heimgegangen. Für dich, Bub, ist's höchste Zeit. Ich bringe dich heim.«
»Meine Schwester –«, murmelte der Junge.
Ein scharfer Blick der Ermattinger streifte Martha Tredenius, die schlank und schön in einer Herrengruppe auf und nieder glitt.
»Die hat keine Zeit für dich,« sagte sie und drückte Frau Hella Kirchweger flüchtig die Hand.
Wie im Traum schritt Karl Maria mit seinem Geigenkasten neben der großen Sängerin die Treppe hinab.
Dann glitt der Wagen in die Winternacht. Nach einer Weile kam die mächtige Stimme aus dem Pelzwerk hervor: »Wenn sie dich jetzt locken, folge ihnen nicht.«
Karl Maria wollte allzu schnell verraten, daß ihm jemand heute schon denselben Rat gegeben, aber er schwieg lieber und sonnte sich in seiner jungen Würde.
Dann hielt der Wagen. Die Sängerin wartete, bis das Haustor aufklappte: »Gute Nacht, Kleiner! Grüß mir die Miriam.«
Heiß vor Freude stürmte Karl Maria die Treppe empor.
Droben saß seine Mutter, blaß und müde, und wartete auf ihn.
»Sie haben mich alle geküßt!« jubelte er ihr entgegen.
Frau Lisbeth drückte seinen Kopf an ihre Brust und blieb ganz still.
Karl Maria aber machte sich los, schlug die Hände ineinander, erzählte kunterbunt seine Abenteuer und tanzte im Zimmer herum. »Du kriegst die Villa, Mutter, mit zwei, nein, mit drei – mit zwölf schwarzen Schwänen.«
Plötzlich fielen ihm die Augen zu. Er taumelte und bat ganz sittsam: »Ich bin so schläfrig. Hilf mir ausziehen!«