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Drei Tage später wartete Gundl Williguth blaß und verzagt im Salon von Franziska Ermattinger. Der ganze Raum war in grellem Rot gehalten, in einem Fauteuil lag eingerollt eine silbergraue Angorakatze und blinzelte mißtrauisch aus grünen Augen. Massig und schwer waren alle Möbel, ohne Schnörkel und Zierrat. Kein Lorbeerkranz, keine Photographien, nichts von dem Kleinkram, mit dem andere die Erinnerung an alle Wände nageln. Hell und hoch fiel die Dezembersonne herein. Gundl stieß den roten Vorhang zurück und blickte in das ganz weiße Musikzimmer.
Da schob sich ein Frauenkopf, grob und schwerknochig und doch freundlich und beweglich, zwischen den Falten der weißen Portiere auf der anderen Zimmerseite hervor, besah aus hellbraunen Augen das junge Ding und zog dann den fein geschwungenen Mund zu einem vertraulichem Lachen: »Da ist die alte Ermattinger. Was soll ich denn tun, liebes Kind?«
Ihre Stimme hatte den satten Klang alter Kirchenglocken. Gundl wurde in ihrer heimlichen Absicht so verwirrt, daß sie überschnell antwortete: »Ach, wenn Sie meine Stimme prüfen wollten.«
Dann stand sie ganz verdonnert und ließ die Arme schlenkern, weil es jetzt ihrer kleinen Eitelkeit an den Kragen gehen sollte.
Franziska setzte sich ans Klavier und fragte geschäftsmäßig: »Also bitte, was wollen Sie singen?«
Nun hatte Gundl in der Abwesenheit des ungetreuen Geigers voll Williguthscher Romantik das Los der Senta, die den fliegenden Holländer retten möchte, sehr eindrucksvoll und ans Herz greifend gefunden und deshalb ihre ganze Kunst an diese Rolle gewandt. So murmelte sie also: »Die Ballade der Senta«.
Die Sängerin nickte und schlug an.
Kunigunde Williguth sang das dunkle Lied. Ihr Stimmlein sollte laufen wie ein schwarzes Roß und war doch nur ein blondes Hauskind mit abenteuerlichen Schrullen. Franziska senkte den Blick, um Gundl nicht zu verwirren, als sie verzweifelt die Worte rollte:
»Traft Ihr das Schiff im Meere an,
Blutrot die Segel, schwarz der Mast?«
Grell warf sie dann den Schrei hinaus: »Falsche Lieb', falsche Treu'!« Weil dies aus einem gekränkten Mädchenherzen kam, klang es wunderlich echt.
Der schmale Mund in dem starkknochigen Antlitz der Ermattinger blieb hart geschlossen, sie atmete schnell, als hätte sie erst einen inneren Kampf auszufechten, ehe sie den Mut zum Sprechen fand. Dann sagte sie behutsam: »Tun Sie's nicht!«
Alle Farbe wich von der Gundl, als ihre kümmerliche Hoffnung so jammervoll Schiffbruch litt.
Mit stiller Güte fragte Franziska: »Nicht wahr, Sie haben ihre Stimme aus Liebe entdeckt? Bei mir war es aus Zorn über das Keifen einer alten Tante.«
Gundl ließ, wie es sich gebührte, ein Tränlein niederrinnen und hob dann tapfer den Blick: »Es war wohl eine große Dummheit?«
»Die Stimme ist schwach, Kind. Und das Feuer fehlt, das innere Müssen. Man kann es nennen, wie man will. Und Sängerin werden ist ein steiniger Weg. Man darf nicht zurückschauen, was alles liegen bleibt. Fühlen Sie sich dazu stark genug?«
Gundl lachte in verzweifeltem Trotz und streckte ihren jungen starken Leib.
Franziska Ermattinger schmunzelte: »Ja, das irdische Häuschen ist gut gefügt, aber, mir scheint, drin wohnt eine scheue kleine Seele. Und damit richten Sie's nicht.«
»Also vorbei!« entschied Gundl und warf mit gewaltsamer Gebärde alle Last der Singerei von sich. Beinahe erschrocken merkte sie, wie ein tröstliches Behagen so schnell über alle Enttäuschung siegte. Nein, das war keine heilige Flamme. Aber da sie trotz allen Mutes doch ein Frauenzimmer war, forschte sie sogleich in ungeschickter Eifersucht: »Die Miriam kann es besser?«
Die Sängerin nickte.
Da sagte Gundl Williguth ganz schlicht, als gälte es eine vollkommene Beichte: »Es war nur dumme Eitelkeit. Und Vater hätte es so gerne gehabt.«
Dann in heller Dankbarkeit: »Sie haben dem armen Vater allerlei Liebes getan. Jetzt holen sie ihn doch hie und da zu einem Orgelspiel. Das ist dann ein Festtag für ihn.«
Und wieder still und bedrückt: »Das hat mir den Mut gegeben, es auch zu versuchen. Ach ja, es ist doch eigentlich recht traurig.«
Als sie so ihr eigenes Schicksal klein und kümmerlich in der Hand hielt, sträubte sie sich zuerst gegen diese verdrießliche Wahrheit, derweil jedes Weiblein durch Gottes Schalkhaftigkeit ein wenig vom Pfau abbekommen hat. Dann wischte sie derb die Augen, bis sie wieder den alten Glanz hatten.
Die Ermattinger wartete.
»Darf ich um etwas anderes bitten?«
»Gerne.«
»Helfen Sie dem Geiger Tredenius auf den rechten Weg!«
»Ist der wieder daheim?«
Mißtrauisch rückte sie die Brauen hoch und schien geärgert, daß da einer Kraft und Zeit unnütz vergeudet hatte.
Kleinlaut berichtete Gundl: »Ja, es war nicht alles, wie es sein sollte. Karl Maria ist so ganz anders als wir vom "Blauen Herrgott".«
»Der Bub hat zuviel weichherzige Menschen um sich gehabt. Ihr habt ihn alle verzogen. Da bleibt stets ein schlechter Dank. Sie hat er natürlich zuerst vergessen?«
Gundl seufzte bescheiden: »Ich bin doch auch gar nichts.«
Nachdenklich und milder fuhr die Sängerin fort: »Als Karl Maria als Wunderkind geigte, habe ich ihn einmal gehört. Der hat das innere Müssen. Aber die Menschen haben ihn zu schnell ins Licht gestellt. Das taugt nie.«
Jetzt galt es schnelle Verteidigung. Und Gundl tat ihre Pflicht: »Ach ja, seit dem unglücklichen Konzert glaubt niemand mehr an ihn. Ich aber weiß, was er kann. In der Nacht vorher saß ich vor der Tür, hinter der er abwechselnd geigte und jammerte. Hinein wagte ich mich nicht, so horchte ich bloß. Damals hat er gespielt wie noch niemals, stolz und freudig und dann wieder demütig und verzagt. Und seither glaube ich an Karl Maria Tredenius.«
Und mutig marschierte sie sogleich auf ihr Ziel los, wie ein braver Soldat: »Jetzt sind in der Oper bei der ersten Geige zwei Stellen frei. Es wäre ein so großes Glück für Karl Maria.«
»Und ich soll ihm dazu verhelfen?«
Hell saß die Freude in Gundls Augen, aber sie nickte nur stumm.
»In Gottesnamen, Mädel. Aber der alte Achaz hat üble Launen, und Karl Maria hat sich gar nimmer um ihn gekümmert, trotzdem der Graf ihn damals im Palais Kirchweger herzensgut und urdumm in Szene setzte. Freilich, der Junge hat viel alte Musik getrieben, Italiener und Franzosen aus dem Rokoko. Darauf beißt der alte Narr. Sagen Sie das ihrem Karl Maria, liebes Kind!«
Wie in einem glücklichen Traum schied Kundry von Franziska Ermattinger. War auch ihre eigne bescheidene Hoffnung zu Ende, einen Trost trug sie doch mit sich: Karl Maria kam in gute Obhut. Und sein Wachsen und Reifen mußte auch der blonden Kunigunde Williguth Freude bringen.
»O du dummer, untreuer Junge,« flüsterte sie und trat in den »Blauen Herrgott«.
Da saß Joseph Italiener und wartete auf sie. In den sonst stets geduckten braunen Augen war eitel Sonnenschein, als Gundl ihm die Hand gab.
Treuherzig berichtete er, daß er eigentlich Karl Maria besucht habe.
»Und dann habe ich auf Sie gewartet.«
Heute war Joseph gar nicht so täppisch, schier männlich. Wie frohe Verheißung glänzte es in seinen Augen, in denen Kunigunde Williguths schlichte Schönheit sich spiegelte.
»Mir scheint, Karl Maria ist es zufrieden, daß er wieder im ›Blauen Herrgott‹ ist.«
Vergnügt sagte er dies, als leitete er daraus auch sein Recht auf Glück ab, und die leider noch immer häßlichen Henkelohren wedelten wie Fahnen, die auf gutes Wetter zeigen. Er stützte das Kinn in die Hand und sprach bedachtsam im Tonfall seines Vaters, des starken Gideon: »Ach ja, wer nur auch so glücklich sein dürfte.«
Er hielt diese Einleitung für weise und wohl angebracht.
Das Mädel aber legte den Kopf zurück. Es schien ihr häßlich, ein Tor hinter sich zu und sogleich ein anderes vor sich aufzutun.
Joseph als geschickter Liebhaber glaubte auf dem richtigen Wege zu sein und fuhr frisch und frei auf seine Absicht los: »Ob ich wohl bald nach etwas fragen dürfte, Fräulein Gundl?«
Gundl, der ihre verunglückte Singerei und das Los des Karl Maria mehr im Sinn lag als verliebtes Getue, geriet in hellen Zorn, als Joseph sie so kurzerhand noch mit seinem Liebeskummer belud, daß sie mit den Fingern eine wegwerfende Bewegung durch die Luft machte.
»Mein Gott, was ist denn geschehen?« forschte Joseph Italiener, der schnell in seine Zaghaftigkeit zurücksank.
Unliebenswürdig und rätselhaft kam die Antwort: »Es gibt Augenblicke, in denen man allein sein möchte.«
Nun ging dem Joseph ein Licht auf, und er fiel mit Donnergepolter in eine riesengroße Dummheit. In seinem arglosen Herzen brannte zum erstenmal das Flämmlein Eifersucht. Und er haßte den Karl Maria Tredenius, dem alles, wonach Joseph Italiener umsonst die Hände ausstreckte, von selbst zuteil ward. Stockend, wie einer, der ein ungewohntes Werk tut, begann er von Karl Marias Treiben in Weimar zu erzählen, von der innigen Gemeinschaft zwischen dem Geiger Tredenius und der Miriam, als käme er nur ganz zufällig darauf zu sprechen. Langsam schob er so alles vor die Gundl hin, allen Kleinkram, den er längst von der dicken Johanna erfahren, aber bisher wohlweislich verschwiegen hatte. Frühere Versuche zu gesteigerter Mitteilsamkeit hatte Gundl kurz abgeschnitten. Heute aber ließ sie ihn gewähren, als verlangte ihr beleidigtes Herz auf einmal nach diesen häßlichen und wenig erbaulichen Dingen. Mit heißen Wangen und starren Augen saß sie und lauschte. Joseph aber lief munter sein Sträßlein weiter. Auch Karl Marias Bekanntschaft mit Dionys Rothenwolff und dessen junger Frau flocht er ein, mit verkniffener Gewandtheit, wie sie auch ein plumper Mensch in Liebesnöten zur Hand nimmt.
»Er hat eben mancherlei erlebt,« schloß er seine Rede.
Gundl Williguth schaute ihm klug und tadelnd ins Gesicht. Mit einem Ruck warf sie alle Häßlichkeit fort und hatte sich selbst wieder. Und so griff sie aus Josephs Weisheit nur das Erfreuliche heraus, daß Karl Maria mit dem jungen Grafen Rothenwolff bekannt war und sich darauf berufen konnte, wenn der Intendant der Ermattinger willfahren sollte. Was machte sie wieder heiter und leicht, daß sie sogar lächeln konnte, worüber Herr Joseph in nicht geringe Verwunderung geriet.
Plötzlich richtete sich Gundl auf, daß der arme Liebhaber in sein kurzbeiniges Nichts zurückglitt, und fragte drohend: »Warum haben Sie dies alles gerade mir erzählt, Herr Italiener?«
Als er verdutzt schwieg, fuhr sie ihn übel an: »Den Karl Maria macht mir keiner schlecht, Sie am allerwenigsten.«
»Ganz im Gegenteil, ich wollte nur – – ...« versicherte eifrig Herr Joseph.
»Pfui Teufel!« sagte die ehrliche Gundl und wurde rot vor Ärger.
»Ich habe Sie doch so lieb,« stotterte er schließlich und verlor alle Behutsamkeit.
Sie lächelte zuerst, dann aber wurde sie ernst und kalt: »Karl Maria muß ich zum guten Ende verhelfen, vielleicht habe ich nachher Zeit für – anderes.«
Ein kurzer Händedruck, und Herr Italiener hielt etwas in der Hand, das einem Korb verzweifelt ähnlich sah.
Gundl sagte Karl Maria nichts von den feinen Fäden, die sie um seinetwillen angesponnen hatte. Auch seine Mutter ließ sie nichts wissen. Giacomo war ihr einziger Vertrauter. So freuten sich die beiden starken und treuen Kinder Johann Sebastian Williguths, daß sie ein Schicksal zwischen sich trugen und damit ihr wichtiges Spiel hatten. In diesem hoffnungsreichen Warten vergaß Gundl sogar die trübselige und zornige Szene mit Joseph Italiener, wenn auch ein wenig Bitterkeit oft einen Schleier über ihre Augen legte, daß sie den ahnungslosen Karl Maria, der in dem vertrauten Alltag des »Blauen Herrgott« wie ein Fischlein im frischen Wasser schwamm, gar sonderbar anblickte und ihr Lachen im Grunde nur ein trotziges Aufschluchzen war. Karl Maria lebte also kreuzfidel in der behaglichen Pflicht, die er sich selbst aufgehalftert, griff da und dort zu, vertrat sogar den Oheim bei kleinen Orchesteraufführungen und hielt alles das, was er in so harter Lehre erworben, treu und geschickt in Gang und Gebrauch. Ihm war, als wäre er eben erst von einer Reise heimgekehrt und setzte sich nur an den Tisch, wo er einst heimisch gewesen, wie ja alles, was so mühsam reift und wächst, dem glücklichen Empfänger schließlich als selbstverständlicher Besitz erscheint. Manchmal freilich loderte die alte Unruhe auf, ein feines Knistern lief durch sein Blut, dann gingen seine Augen zum Winterhimmel, wo frostklare Wolken segelten, hell und scharf aus dem Blau geschnitten, nicht so flockig und vergoldet wie einst, als der Bub mit Miriam auf dem Gottesacker das goldene Schifflein mit der Seele des alten Samuel erwartet hatte. Ein tätiger Sinn hielt in Karl Maria aller Träumerei jetzt das Gleichgewicht, daß Meister Johann Sebastian vergnüglich lächelte und wie zur Belohnung eine romantische Reise in irgendein musikalisches Wunderland vorschlug. Aber nun war es Karl Maria, der den alten Herrn wieder auf die musikalische Heerstraße zurückbrachte und ernst an die Arbeit ging.
Johann Sebastian schmunzelte wie ein gescholtenes Kind und verbarg nur schwer seine Freude, daß der Junge jeder Lockung widerstand.
So sank ein Vorhang über die leuchtende Vergangenheit, nur hie und da glänzte noch ein Lichtlein durch. Von der Miriam Italiener blieb es ganz still. Joseph, der allein die Brücke der Vermittlung bildete, kam jetzt selten zu den Williguth, und dann hing er nur mit traurigen Augen an der Gundl. Karl Maria aber wich er aus. Wie eifersüchtige Hähne stolzierten sie aneinander vorbei.
Die Trix weilte mit Mann und Kind auf einem Jagdschlosse in Schlesien und schrieb manchmal einige Zeilen, voll Innigkeit und Schelmerei. Karl Maria war jetzt beinahe froh über ihr Fortsein, weil er so seine Seelenruhe behalten und alle Entscheidung nach seiner Art hinausschieben konnte. Alles war ein zuversichtliches Warten.
Da geschah es auch, daß Karl Maria die erste Frage nach Vater und Schwester tat, als wäre er nun stark genug, alle Lasten zu tragen.
Frau Lisbeth erschrak. Wie eine Senne, der nur ein einziges Kücklein geblieben ist, vereinigte sie nun alle Liebe und Sorge auf ihren Jungen und suchte seine Seele in stetem Gleichgewicht zu erhalten. Ängstlich antwortete sie deshalb: »Denke jetzt nicht daran. Zuerst mußt du selbst ins richtige Geleise kommen.«
Karl Maria zog zuerst die Stirne kraus und ballte die Hand zur Faust. Dann ging er still zur Mutter und küßte sie.