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An jenem Abend hatte Karl Maria Tredenius zugleich mit seiner Geige seine eigene Kindheit zerschmettert und seinen wilden jungen Ehrgeiz. Ernst und entschlossen baute er Mauern um sein Leben und drückte tapfer die Augen zu, wenn ein grelles Licht aus jener toten Zeit sich einmal wieder heranwagen wollte. Nie mehr sprach er von Vater und Schwester, alle Brieflein der Miriam blieben unbeantwortet, und schnell ergriff er die Flucht, wenn er den guten dicken Joseph einmal von ferne auf der Straße sah. Allmählich wurden die bunten Bilder von einst blasser und blasser und verschwanden endlich ganz.

In den drei Jahren, die nun folgten, wurde er Johann Sebastians fleißigster und bereitwilligster Schüler, nur mit der Geige ging es nicht recht weiter. Mechanisch und emsig übte er seine Etüden und Läufe, spielte aber nur auf besonderen Befehl Johann Sebastians und leierte alles mit der gleichen schülerhaften Ausdruckslosigkeit ab, als hätte er nicht ein Fünkchen Seele dafür übrig. Traf es sich nun, daß er eines seiner alten Glanzstücke vornehmen mußte, geigte er so unfertig und hastig darüber weg, daß Meister Williguth mißbilligend das gewaltige Haupt schüttelte: »Karl Maria, Du Krebsgänger, was ist das wieder? Der Corelli kann dir doch nicht zu schwer sein?«

Da blickte ihn der Knabe, der jetzt rasch aufschoß wie ein junger Baum, furchtsam an und murmelte: »Ich hasse die Geige.«

Und das harte Kinn sprang noch trotziger vor als sonst. Meister Williguth faltete vergnüglich die Hände über dem Bauch: »Den alten Adam meinst du wohl, nicht deine Geige. Demut zieht ein in deine Seele. Wir wollen dankbar sein, Karl Maria.«

Und zur Belohnung gings tief hinein in die Theorie und schier unlösbare kontrapunktliche Schwierigkeiten. Stramm schwang Johann Sebastian den Schulmeisterbakel. Mit zusammengebissenen Zähnen tat ihm der Junge den Willen und arbeitete sich durch den Wust scholastischer Weisheit, die der Lehrer vor ihm auskramte. In weiter Ferne, wie ein Licht, das als gelbes Pünktchen über die bange, nächtliche Seide zittert, dämmerten ihm kostbare Schönheiten aus der krausen, fast mönchischen Gelehrsamkeit entgegen, deren vielverschlungene Pfade ihn der Meister führte.

Es war ein leidvolles, verhaltenes Reifen in diesen Jahren. Schwer trug er an seiner Jugend. Seine Mutter konnte ihm nicht helfen, trotz aller Liebe und Treue, die sie an ihn wandte.

Meister Williguth aber sah neben der Musik hauptsächlich auf erträgliche Schulzeugnisse, Gottesfurcht, gesunden Schlaf und saubere Finger bei Tisch; von schweren Entwicklungskrisen hatte er bei seinen reckenhaften Zwölf niemals das mindeste verspürt. So ging ihm Karl Marias Kopfhängerei nicht weiter nahe. Viel mehr Sorge bereitete ihm sein Hausorchester. Die körpergewaltigen jungen Riesen hatten alle Ursache zu zittern, wenn der heilige Geist über den Vater kam. Regierte der Stock auch nicht mehr so unbeschränkt wie früher, so verschwendete der zornmütige Regens chori doch vernichtende Blicke und prasselnde Schimpfworte genug an seine unmusikalische Nachkommenschaft. Die Williguthsche Hausmusik war um kein Haar besser als weiland zur Zeit des Puppenbades. Und Fräulein Kunigunde, die jetzt ein Lyzeum besuchte und voll zarter Gedanken und romantischer Schrullen war, nach ihres Blutes und ihres Alters Recht, errötete züchtiglich, wenn der Papa sie einen Nagel zu seinem Sarge und eine »verdammte Kuh« nannte, deren zweite Violine dem Rasseln einer Stallkette gleiche. Auch den anderen erging es nicht viel besser. Karl Maria mußte die erste Geige leiten, die außer ihm nur noch mit einem dicken, redlich faulen Williguth besetzt war, da Giacomo andere und bessere Arbeit zu verrichten hatte. Karl Maria tat es ohne rechte Lust. In einer höchst jammervollen Aufführung von Schumanns herrlicher B-Dur Symphonie aber geschah das Wunderbare, daß Karl Marias Geige, jetzt längst eine volle, wenn auch ohne den Glockenton der zerschmetterten Kindergeige, die Kantilene so zart und silbern brachte, daß Johann Sebastian plötzlich das Cello abstellte und mitten in das Spiel hinein die Worte warf: »Gott schütze dich, mein Kind.«

Aber schon im ersten Trio war es mit aller Schönheit vorbei. Karl Maria warf um wie ein blutiger Anfänger. Mit Zorntränen in den Augen geigte er weiter. Doch seine Gedanken spannen sich von dem Notenblatt weg um das goldhelle Haar der Gundl, die rundlich und schön in der Maisonne saß und gerade um dreiviertel Takte zu früh mit ihrer zweiten Geige einsetzte. Im Nacken flimmerte gekraustes Goldhaar, und unter der rosigen Haut schimmerte das junge Blut. Und auf einmal schien dem Karl Maria ihre blühende, behäbige Backfischschönheit tausendmal wichtiger und herrlicher als die hüpfenden Noten. Geduldig sackte er alle Grobheiten des Oheims ein, im wunderseligen Gefühl eines neuen Morgens.

Vor drei Tagen war Karl Maria fünfzehn Jahre geworden, und die Kundry war nur um drei Tage jünger. Die hatte also heute Geburtstag. Und er hätte es fast vergessen! Schnell lief er in den Garten, pflückte Primeln und Veilchen, soviel er finden konnte, band ein artiges Büschchen und schlich zum ehemaligen Puppenhaus, wo Fräulein Kunigunde eben gedankenvoll Ottilie Wildermuth las. Im »Blauen Herrgott« war man mit fünfzehn Jahren noch lange nicht erwachsen.

Leise kam Karl Maria heran und legte sein Maisträußchen schnell in das offene Buch. Die blauen Augen der jungen Dame flogen ärgerlich hoch, da sagte er stockend: »Ich hab' dir heute früh nichts gegeben. Jetzt habe ich etwas.«

Kundry lächelte fröhlich und steckte errötend ihre Nase in das violette und sanftgelbe Sträußchen.

Da überfiel es Karl Maria mit ungeahnter Macht, daß er beide Arme um die Gundl schlang und sie herzhaft abküßte. Dann stand er hochrot und dumm vor ihr, die ganz blaß geworden war.

»Geh fort!« sagte sie zornig.

Plötzlich legte sie beide Hände vor das Gesicht und weinte. So wurde Karl Maria wieder jung.

 


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