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Aber er brauchte noch drei Tage bis zur Tat.

Johann Sebastian saß vor der Orgel und diente seinem Bach. Giacomo tat die gewohnten Sklavendienste. Als der Meister gedankenvoll in das Sonnenspiel der alten Kapelle blickte, hörte er dumpfe Worte, die ihn blitzschnell aus seinen beschaulichen Träumen auf die Erde warfen.

»Lieber Vater, ich bitte sehr, daß ich Ringkämpfer werden darf.«

»Bist du verrückt?«

Ein hoheitvolles Lächeln schwebte um des Chordirigenten schweren Mund. Er streckte ein paarmal die Hand aus, als scheuchte er etwas unsagbar Dummes von sich. Aber es kam wieder, ganz starr und eintönig: »Lieber Vater, ich bitte sehr, daß ich Ringkämpfer werden darf. Mr. Lewis will mich engagieren.«

»Dem Hunde breche ich alle Knochen,« tobte Johann Sebastian, der alle Würde vergaß. Dann stand er auf: »Es ist hier nicht der Ort zu profanen Gesprächen. Erwarte mich im Musiksaal!«

Damit verließ er sein Heiligtum und stampfte die Treppe hinunter, ein Riese an Kraft und Zorn. Der arme Giacomo aber hockte bei seinen Bälgen und sann betrübt auf ein Mittel, den Starrsinn des Vaters zu brechen. Plötzlich glitt ein verschmitztes Lächeln um seinen Mund. Er betete ein etwas gewaltsam verkürztes Vaterunser und sprang in langen Sätzen die Treppe hinab.

Aus dem Garten, wo er mit Schlächtergesellen und Möbelpackern Ringübungen abhielt, holte er eine breite Matratze und zwei alte Strohsäcke und schleppte alles hinter sich her, wie ein Bündel Helfershelfer zu der schweren Tat.

Bescheidentlich klopfte er bei seinem Vater an, der in finsterem Sinnen in seinem Lehnstuhl saß. Als er den sonderbaren Aufzug erblickte, polterte er los: »Was soll der Unsinn wieder?«

»Ich will dir zeigen, was ich kann.«

»Nichts kannst du, ein Faulenzer und ein Dummkopf bist du!«

Und Johann Sebastian schritt in einen Winkel, wo unbrauchbar gewordene Geigenbogen beieinanderlehnten. Er prüfte ein starkes Stück und schwang es drohend wider Giacomo: »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es.«

Dick lagen die Adern auf seiner Stirn. Der »Blaue Herrgott« durfte nicht entweiht, Giacomo nicht ein Genosse von Lastträgern werden.

»Willst du auch jetzt noch auf deinem Wunsch bestehen?«

»Schau', Vater, mach' es mir nicht so schwer! Musiker werde ich doch im Leben keiner. Ich verstehe ja nur, meine Glieder zu gebrauchen. Daß ich ein Esel bin, weiß ich.«

»Du hast im Garten mit wüstem Gesindel gerungen. Das duldete ich, weil ein gesunder Leib eine Gottesgabe ist. Aber jetzt willst du. Elender, um schnödes Geld – – –.«

Und der Bogen pfiff durch die Luft. Giacomo duckte sich, wie als kleiner Junge, wenn der Vater sein musikalisches Unverständnis strafte.

Stolz lächelte Johann Sebastian: »Bitte mich jetzt um Verzeihung!«

»Ach, Vater, das kann ich nicht. Schau', Mutter und du, ihr werdet alt. Und die vielen Geschwister – –. Wenn ich da beisteuern kann, ist es doch auch etwas.«

»Dein Sündengeld brauchen wir nicht. Ha! Giacomo, mein Erstgeborener, die erste Hoffnung meiner Ehe, will vor die Hunde gehen! Ich träumte, daß du ein großer Musiker werden solltest, ein Cellist vielleicht.«

»Dann hast du falsch geträumt.«

Alles trug Johann Sebastian mit philosophischem Gleichmut. Nur seine Träume waren ihm heilig. An die durfte ihm niemand rühren.

»Schweig!« donnerte er und ließ den Bogen mit voller Wucht auf Giacomos Arm sausen.

Der Junge stand plötzlich straff: »Vater! Ich sage dir, das wird nicht gut werden!«

»Hinaus!«

Und Meister Williguth packte seinen Ältesten um den Leib und suchte ihn zur Tür zu drängen. Vorsichtig, wie eine Mutter ihr Kind, umfaßte jetzt auch Giacomo seinen Erzeuger.

»Gott helfe mir! Ich kann nicht anders!« stammelte er verzweifelt. Aber in Vater Williguth erwachte das wilde Sachsenblut seiner Vorfahren, als er des Sohnes eiserne Pranken spürte.

Mit einem Wutschrei packte er aufs neue zu. Sinnlos vor Zorn begann er mit Giacomo zu ringen. Der weinte laut vor Herzeleid und verteidigte sich standhaft, aber sehr bescheiden, um dem Alten ja nicht wehzutun.

Schließlich hatte er, fast wider Willen, den Vater auf der Matte. Ein blitzschneller Untergriff. Der fette Riese taumelte.

Giacomo schluchzte: »Hier liegt ein Strohsack, lieber Vater. Gib acht! Bitte, so!«

Und legte Meister Williguth fein säuberlich auf beide Schultern. Keuchend lag Johann Sebastian in der Gewalt seines Buben. Er bewegte den Mund, brachte aber vor Zorn und Überraschung keinen Laut hervor.

Giacomo kniete nieder und heulte: »Verzeih mir, Vater! Habe ich dir wehe getan?«

»Wer bist du, daß du wider den Stachel lökest?« murmelte Johann Sebastian noch immer etwas außer Atem und saß würdevoll auf dem alten Strohsack.

Aber der Zorn wich von ihm.

Er freute sich der Reckenkraft seines Jungen.

»Wenn es sein muß, lieber Vater, verstoße mich jetzt! Ich will lieber gleich fort!«

Und er schob dem Vater die Matratze als Stütze hinter den Rücken.

Da fuhr ein Lachen gewaltig und laut durch den Musiksaal, daß die Fensterscheiben klirrten. Die Bibel rettete den braven Giacomo.

»Ein Esel war ich!« schrie der Vater, »Giacomo hab' ich dich genannt, weil ich Großes von dir erwartete im Dienste der Musik. Jakob aber rang mit dem Engel des Herrn und besiegte ihn. Blind war ich und wußte die Schrift nicht zu deuten. Du bist Jakob Williguth.«

Der Sohn lag zu seinen Füßen und hatte den mächtigen blonden Kopf in dem schmutzigen Strohsack vergraben.

Johann Sebastian stand majestätisch auf: »Von Gott kommt alles. Auch Simson war Gott geweiht. Du sollst deinen Willen haben.«

Und er schmetterte den Jubelruf hinaus: »Jetzt habe ich doch ein Wunderkind!«

Der bärenstarke Giacomo stand schlotternd vor ihm, in Freude und Schuld: »Ich will mir auch viel Mühe geben. Und ich will brav bleiben, Vater.«

»Das erwartet der ›Blaue Herrgott‹ von dir.«

Und so entschied sich das Schicksal des Giacomo Williguth.

Frau Apollonia stiftete zur Feier des Tages zwei Dutzend junger Hühner, die der dicke Philipp Emanuel, der Klassenprimus, der einst Karl Maria in die klassische Weltweisheit eingeweiht hatte, mit blassem Gesicht und verbissener Entschlossenheit schnöde hinmordete, um so sein weiches Williguthsches Herz für die künftige Medizinerlaufbahn zu stählen. Mutter »Affi« weinte, als sie ihm zusah. Aber bald darauf duftete es gar schmackhaft aus ihrer Küche. Und es ward ein wackeres Schmausen.

Gundl saß glückstrahlend neben Giacomo, der sich noch immer nicht zu fassen wußte. Johann Sebastian verkündete feierlich, daß sein Ältester von nun an Jakob heißen sollte, weil er mit dem Engel des Herrn gerungen habe. Zwar begriff niemand, was er meinte, doch da dies nicht Seltenes war, achteten sie nicht weiter darauf und fuhren emsig fort, die zarten Hühnchen zu benagen. Nur Giacomo senkte verlegen den Kopf.

 

Schon in den nächsten Tagen geriet der junge Williguth in eines Trainers Hand, der ihm Muskeln und Sehnen hartschmiedete nach den altehrwürdigen Regeln der griechisch-römischen Ringkunst.

Gundl stickte dienstbeflissen hübsche Monogramme, riesengroße, kunstvoll verschlungene G. W., die Giacomos schwarze Trikots zieren sollten. Denn er hielt Schwarz für feiner und zugleich auch wirkungsvoller als alle anderen Farben.

Daneben übte sich Gundl fleißig im Klavierspiel, damit sie im Notfall, wenn Frau Lisbeth aus irgendeinem Grund dies nicht imstande wäre, Karl Maria begleiten könnte.

So lief der Sommer hin in emsiger Arbeit und in stillen Hoffnungen. Und wenn Frau Lisbeth in diesen Monaten glücklich und zufrieden war, wie weder vorher noch nachher in ihrem schattenhaften Leben, so kam dies nicht nur von dem stolzen Eifer, mit dem ihr Junge sein Ziel im Auge hielt, sondern fast noch mehr von der anschmiegsamen Liebe und Zutraulichkeit der blonden Kunigunde Williguth. Die runde Backfischfülle schwand dahin, ein feines, ernstes Frauengesicht schälte sich heraus, klug und treu, das Karl Maria oft erstaunt nach der alten, dummen Gundl suchte. Ihr Leib aber ward groß und stark, daß sie eine prachtvolle Walküre dargestellt hätte, wenn ihre Stimme nicht gar so armselig und ohne Schwung gewesen wäre. Aber sie ließ nicht nach und blieb ihren Gesangstunden treu, in der schweren Beharrlichkeit ihrer jungen Kraft. Von der verschwiegenen Bitterkeit ihrer Nächte wußte ja niemand.

Karl Maria aber ging ahnungslos an ihrer Liebe vorüber. Er lebte nur in seinem Ehrgeiz und merkte gar nicht, wie bunt die Ereignisse an ihm vorüberglitten.

Zunächst zog Giacomo Williguth aus dem »Blauen Herrgott«.

Da standen alle diese gutherzigen Riesen um den scheidenden Sohn und Bruder, in wehmütigem Glück, daß diesmal ein Siegesgewisser die Kinderschuhe hinter sich warf. Der dicke Impresario Lewis, der den jungen Recken selbst abholte, riß verwundert die runden Glotzaugen auf, als der Abschiedsschmerz der Williguth rings hohe Wogen schlug.

Die hatten alle keinen Geschäftsgeist! Nachdenklich betrachtete er den jungen Karl Maria, der mit brennenden Blicken an Giacomo hing, weil dieser heute den ersten Sprung ins Leben tat. Dann fluchte Mr. Lewis still in sich hinein. Wenn man den heißen, hinterhältigen Jungen vor vier oder fünf Jahren in langen Locken und kurzen Samthöschen hätte spielen lassen, – – die Leute hätten gerast vor Entzücken. Hunderttausende hätte man verdient. Jetzt stand er im undankbarsten Alter. Flegeljahre außen und innen. Damn it! Konnte der Kerl nicht warten, bis der große S. Lewis ihn als jungen Meister vom Himmel fallen ließ? Heute war es eine Spekulation auf Zeit. Ein Virtuose mußte ein halbes Baby sein oder ein Mann, grüne Jungen waren eine flaue Sache.

Seufzend klopfte er Karl Maria auf die Schulter: »Laß dich nichts anfechten und denk' an deine Geige!«

Er rieb die roten Handflächen langsam aneinander: »Merk' dir, mein Sohn: Du bist ein früher Fisch. Die Miriam ist ein früher Fisch. Aber was tut Gott? Er macht Fische und Fische.«

Da flammte ein dunkles Rot über das Knabenantlitz, als mahnte jemand an unbezahlte Schuld.

Schnell schlich er davon.

Giacomo und Gundl suchten ihn dann. Er saß im Garten, der bunt und grell sein Narrengewand trug, ehe der Tod alle Lichter ausblies. Und als Gundl hoch und schön herankam, die verweinten Augen sorgenvoll auf Karl Maria gerichtet, sagte er trotzig: »Laßt mich doch!«

Der starke Giacomo aber griff nach der Hand seiner Schwester: »Er hat es zwar nicht verdient, aber da ich ihn einst in den »Blauen Herrgott« geholt habe, muß ich schon weiter für ihn sorgen. Behalte ihn im Auge, Kundry!«

Ein ganz seltsamer Ausdruck ging über das Gesicht der Sechzehnjährigen. Die Lippen schlossen sich fest, in den Augen war ein warmes Leuchten. So hüllte sie den Mantel ihrer scheuen und treuen Liebe um Karl Maria Tredenius, dem ihr Herz leichter wog als seine Geige.

Und Karl Maria wußte, daß er dem »Blauen Herrgott« und seinen Kindern in Pflicht und Dankbarkeit stand. In jäher Freude begriff er, daß er stets, wenn er müde hierherkäme, in diesen starken Mädchenarmen Ruhe und Rast finden würde. Giacomo Williguth aber sprach zum Abschied: »Bleib fest in deinen Schuhen und schlage mit dem Absatz um dich! Merke dir das!«

Gundl stand still und glücklich und dachte: »Ich will alles tun, ihn froh und reich zu machen.«

 


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