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Als sie dann das Frauenvolk seiner Kapelle genau besichtigt hatte, verlor sie das letzte Mißtrauen und lächelte nur mitleidig. Diese armen Dinger schienen ihr gar nicht gefährlich. Und sie nahm Karl Marias Tat für eine dumme Laune, die weiter nichts auf sich hatte.
Für ihn aber war es der erste eigene Schritt, so klein und gering dies alles auch scheinen mochte. Mit Feuereifer ging er ans Werk und zwang bald die etwas faulen und gleichgültigen Mädchen zur Arbeit. Ihren langen Schlaf, der nach durchspielten und ohne Lust durchliebten Nächten sonst bis in den Mittag hineinreichte, störte er durch emsige Proben, bei denen er allmählich das widerwillige Gähnen in Aufmerksamkeit verwandelte, weil er selbst rüstig voranschritt und stets ein gutes Wort bereit hatte, wenn etwas mißlang oder am Stumpfsinn der Mädchen abprallte. Jetzt zog er reichlichen Nutzen aus den Stunden im »Blauen Herrgott«, und seinem tapferen Fleiße gelang das Wunder, das Johann Sebastian trotz Brummens und Scheltens bei seiner Kinderschar niemals geglückt war: er bekam das kleine Orchester in die Hand, als wäre es seine eigene Geige. Darob ward er froh und mutig und ging gar daran, Schumanns B-Dur-Symphonie den Frauen einzupauken. Und diesmal überwand er auch die Schwierigkeiten im ersten Trio, wenn Bläser und Streicher blitzschnell abwechseln, wo er vorzeiten so jämmerlich Schiffbruch erlitten, weil sein Blick allzuviel auf dem blonden Haar der Gundl verweilt hatte. Er wunderte sich, daß sein verliebter Sinn ihm jetzt nicht mehr in den Weg kam, und ahnte wohl, daß ein gut Stück Reife und Reichtum ihm gerade aus seinen Liebeshändeln zugewachsen war.
Als er in einem Brief, der aus seinem übervollen Herzen floß, diese und ähnliche Gedanken an Johann Sebastian vermeldete, blieb zwar die Antwort lange aus, aber schließlich ließ der Brummbär doch ein vergnügliches Murren hören, allerdings unterspickt mit grimmigem Tadel ob Karl Marias Wandelsinn.
Die Mutter dagegen schrieb vertrauend und hoffnungsselig, als wäre die Wiener Damenkapelle in Werthers Garten schon das Gewandhausorchester in Leipzig.
»Die kleinste Tat ist mir lieb, weil ich dann weiß, Du hast dich selbst nicht verloren. Dein Onkel schmunzelt behaglich, wenn er davon hört, und meint: Du kämest doch noch ans gute Ende.
Auch die Gundl hält fest zu Dir. Sie singt immer noch, aber ich fürchte fast, viel Freude wird ihr daraus nicht werden. In letzter Zeit treibt sich Dein alter Lehrer Joseph viel bei uns herum, übernimmt den Unterricht, wenn der Onkel die Gicht hat, und macht sich auch sonst nützlich und geschäftig. Ach Gott, Karl Maria, er guckt nach der Gundl. Und seitdem Du in Weimar die Miriam Italiener getroffen hast, ist das Mädel sanfter und nachsichtiger mit dem ungeschlachten Menschen. Sie täte mir leid, denn so aus echter Liebe wäre es nicht. Seit deinem Fortlaufen gibt sie sich wie mein eigenes Kind, daß Tante Apollonia oft in hellem Zorn durchs Haus fährt.
Vor kurzem war das Fräulein Ermattinger wieder einmal hier und fragte auch nach Dir.
›Wenn es Zeit ist, hole ich mir den Wandervogel.‹
Das sind ihre Worte.
Gundl hat ihr vorgesungen und mit so traurigen Augen um ein gutes Wort gebettelt, daß die Ermattinger ihr Mut zusprach. Aber wie ich sie kenne, hat sie keine hohe Meinung von Gundls Kunst. Nur Johann Sebastian glaubt blind daran.
Daß Du Deine Ersparnisse mir geschickt hast, ist lieb und gut von Dir, doch ich brauche wirklich nichts. Und Dir selbst mag es dann fehlen. Wenn Du etwas übrig hast, schicke es der Martha, deren Mann mit seinen Eltern ganz zerfallen ist und nichts mehr von ihnen bekommt.
Ist es nicht eigentlich schade, daß Du in Weimar bleiben willst? Bei uns sind jetzt zwei alte Herren des Opernorchesters, just von der ersten Geige, sehr kränklich, daß man schon nach Ersatz Ausschau hält. Denke doch daran, Karl Maria! Für mich alte Frau wäre es ein großer Trost, wenn Dich ich wieder bei mir hätte. Aber ganz, wie Du willst. Ich habe keine Angst um Dich.«
An einem stillen Juliabend las Karl Maria diesen tapferen Mutterbrief in seinem Stübchen nahe der Jakobskirche. Die Straßen lagen sonnenhell und öde, in der Luft summte die Hitze, daß alle Blumen im Hausgärtlein schläfrig die Köpfe hängen ließen und die Kletterrosen arg ins Welken kamen. Alles war ganz anders als in jenem ersten Frühling, da Karl Maria nach Weimar gekommen war, viel reifer, sonnensatter und der bunten Lust schier abgeneigt.
Karl Maria hielt den Brief in der Hand und blickte in die flimmernde Hitze, die wie Weißglut über der Stadt hing. Und er verglich die Liebe der Miriam und die Liebe seiner Mutter und hatte einen schweren Kampf. Das Heimweh ging ihn an. Und dann war in ihm ein unbewußtes Reifen, wie draußen in Wald und Feld. Ein Dehnen und Knistern geschah, daß alle Gedanken klarer und freier wurden. Er besann sich auf sich selbst und vergaß allmählich seinen unseligen Hang, jedem Traum nachzulaufen und sich bald da, bald dort vertraulich anzulehnen.
Wie ein kleiner Gottesprediger, der seine junge Weisheit gerne ausgibt, schrieb er an die Schwester und sandte ihr den Rest seiner Barschaft. So glaubte er, alle Ranken, die noch kraus und wirr um ihn wuchsen, zu sich herüberbiegen und trotzdem die Hände frei behalten zu können.
Er tat weiter seine Pflicht bei der Damenkapelle, bis Schumanns B-Dur-Symphonie in den widerspenstigen Köpfen sicher und wohlgeborgen saß. Die Stunden nach seinen Gartenkonzerten gehörten nach wie vor der Miriam. Noch war alle Trunkenheit in dem jungen Blut. Miriam allerdings war jetzt manchmal versonnen und sprunghaft, gab nur flüchtige Küsse, wie in lässiger Pflicht, und streckte oft die vollen Arme in unterdrücktem Verlangen. Dann küßte sie wieder heißer und eigensinniger als sonst. Fragte Karl Maria, lachte sie leise und behauptete, er sei ein Narr. In einer warmen Augustnacht wanderten sie durch den schlummernden Park nach Tiefurt, die Ilm entlang, die mit den Erlen und Weiden um die Wette rauschte. Der Buschweg lag hell im Sternenlicht, selbst die Wellchen der Ilm, die sonst recht schmutzig und übelriechend dahinplätscherten, hatten silberne Kämme. So traten Bub und Mädel in den alten Park von Tiefurt, wo die bescheidenen Denkmäler einer reichen Zeit wie freundliche weiße Ruhepunkte im grünen Buschwerk glänzten. Die Fenster des Schlößchens funkelten im Mond- und Sternenlicht, das Silberfäden durch das Weinlaub an der Veranda spann.
Auf der Bank, über der ein Amor auf einem Steine hockt und eine Nachtigall füttert, ein blasser Nachsommer von Goethes Liebe zu Corona Schroeter, saßen sie still und lauschten dem Raunen des Windes und dem Schwatzen des Wassers.
Miriam las die Inschrift von der vom Liebesgott mit süßer Kost geatzten Philomele und lächelte. Dann sagte sie plötzlich ganz kalt und klug: »Er hat recht. Ich singe besser, seitdem ich dich lieb habe.«
Überrascht sah er auf. »Ist das alles, Miriam?«
»Sei doch zufrieden. Wer weiß, was noch wird.«
In ihre Augen kam ein Leuchten, um den Mund legte es sich wie verhaltene Gier.
»Willst du fort?«
Sie atmete schnell, hatte die Hände zwischen die Knie verschlungen und blickte hart geradeaus.
»Miriam!« rief er in plötzlicher Angst.
»Ach, laß doch, im Leben ist es schon einmal so.«
Karl Maria witterte einen unsichtbaren Feind. Fast zornig warf er die Arme um ihren Hals: »Ich will dich nie verlassen.« Und wartete auf Dank für dieses feierliche Versprechen.
Sie strich über die Augen, wie um ein häßliches Trugbild wegzuwischen, und lächelte wieder hell und glücklich: »Ich dich auch nie, Karl Maria.«
Doch ein Schatten blieb auf dem Weg, den sie bisher heiter und sorglos beschritten, ein Frösteln kam in ihr Blut, daß ihr Mund zaghaft zum erstenmal das schlimme Wort: Abschied formte, dann aber Kuß auf Kuß nahm, als wäre nicht mehr viel Zeit.
Sie wehrte alles mißtrauische Fragen ab: »Sprich nicht, laß uns nur glücklich sein.«
Als sie eng aneinandergeschmiegt heimgingen, blickte Miriam auf die Ilm hinab und murmelte: »Muß denn alles ein Ende haben, wegrinnen wie das Wasser da?«
Zornig hob sie die Faust wider etwas Kommendes, von dem sie ganz allein wußte. Ihre Augen waren groß und weit, als brauchten sie mehr Licht und Helligkeit, denn Mond und Sterne über Weimar geben konnten.
Karl Maria, der erst halb geheilte Träumer aus dem »Blauen Herrgott«, dachte mit etlicher Bitterkeit an Jacques Italiener, der als Laufbursche begonnen hatte und nun Besitzer eines großen Warenhauses werden sollte. Und er hatte Furcht vor der zupackenden Gier der Kinder Italiener. Seine Leidenschaft aber wuchs in dieser Sorge, als kämpfte er um etwas, das ihm bereits halb und halb verloren war.