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Da unten lag also Großvater Samuel. Weil er vor kaum einem Monat gestorben war, sah das Grab noch nackt und kahl aus; nur ein paar dichte Efeuranken zogen ihren grünen Mantel über die braune Erde. Ein Täfelchen mit hebräischen Buchstaben gab den Namen. Karl Maria schien diese Ruhestätte unendlich traurig und armselig. Großvater Samuel würde sicher keine Freude haben, wenn seine Seele heute nacht hierherkäme. Die Miriam hatte indes die mitgebrachten roten und blauen Lampions entzündet und die Stöckchen geschickt in die Efeuranken verhängt, daß sie ganz niedrig blieben und vom Wind nichts zu fürchten hatten.

Es war ein sonnenheller, warmer Novembertag. Am blauen Himmel glitten kleine weiße Wolken hin, mit feinen goldenen Säumen.

Die Grablaterne, die mitten auf dem Hügel in der Erde stak, wollte Karl Maria erst beim Abschied anzünden, damit sie bis zum Abend brennen sollte.

Die Miriam legte jetzt ihren Kranz zwischen den Efeu, schlang einige Ranken darum, daß der Wind ihn nicht fortreißen konnte, und schlich dann zu den Nachbargräbern, wo wunderschöne Blumen wuchsen.

Zuerst bat sie sehr artig die Leidtragenden vor den Gräbern um Erlaubnis, einige Blumen für den armen Großvater pflücken zu dürfen. Die Leute nickten gutmütig und ließen das Kind gewähren.

Die erbeuteten Blumen streute Miriam geschickt in das Dunkelgrün des Efeus, daß bald bunte Farben darin flammten. Die blauen und roten Lampions leuchteten wie Lichter an einem Weihnachtsbaum. Den Kindern war auch ganz weihnachtlich zumute, als müßten sie heute dem alten Samuel für all das Schöne danken, das er in seiner willenlosen Güte ihrer Kindheit geschenkt, sein sonnenhelles Lächeln und die vielen Kupfer- und Silbermünzen, mit denen seine Freigebigkeit nie gespart. Immer eifriger holte Miriam von allen Seiten Blumen herbei, jetzt auch ohne jede Erlaubnis. Fiel ein hartes Wort, schaute sie bloß trotzig auf und rupfte mit doppelter Emsigkeit weiter. Die Kinder hatten gar nicht acht, daß sich allgemach Leute um sie sammelten und ihr Tun mit zärtlichen oder empörten Augen beobachteten.

Karl Maria stand steif aufrecht, wie eine Schildwache, und blickte in den Himmel hinein, über den rasch die Wolken segelten wie weiße Schiffe mit goldenen Segeln, und darin saßen die Toten. Auf einmal trat die Miriam zurück und begann zu tanzen, ein Schrittlein vor und eins zurück. Karl Maria aber riß das schwarze Wachstuch von Geige und Bogen und hob zu spielen an. Er sah die Wolkenschiffe näher gleiten, weiß und goldig angehaucht, der Himmel spannte sich blau und tief wie ein unendliches Meer. Und er wußte, daß Großvater Samuel jetzt sein Spiel hörte, wie einst am letzten Abend des Laubhüttenfestes.

Da rief ein frommes altes Fräulein, das in arbeitreicher Verlassenheit ohne Kuß und Kranz hart und derb geworden, keifend dem Wächter zu, diesem schamlosen Unfug ein Ende zu machen.

Ehe aber der vergnügliche Säufer das Kinderglück stören konnte, trat ein großer schwerer Mann dazwischen, unter dessen Aufsicht zwei Gärtner gerade einen Riesenkranz gelber Rosen mit breiten prunkvollen Schleifen in den englischen Nationalfarben vor einer Gruft niederlegten, schob das fromme Fräulein beiseite und sagte:

»Kinder, hört jetzt auf!«

Da blickten sie auf, bemerkten erst jetzt die vielen Menschen und wurden sehr verlegen und scheu. Miriam ballte zornig die kleinen Fäuste, lächelte aber gleich darauf den fremden Herrn mit ihrem freundlichen Ballerinenlächeln an. Karl Maria war ganz rot und mühte sich, die dicke Kerze in der Grablaterne anzustecken.

»Was tust du da?« fragte der Fremde.

»Die muß bis zum Abend brennen, damit Großvater herfindet.«

Der Herr wandte sich zum Wächter und gab ihm Geld: »Sie zünden diese Laterne gegen Abend an.«

Verdutzt schauten die Kinder, doch er führte sie rasch hinweg.

»Ich bringe euch heim. Wo wohnt ihr? Wie kommt ihr hierher?«

Da gerieten sie ins Plaudern und waren froh, von den vielen Menschen fortzukommen.

Vor dem Friedhofstor wartete eine kobaltblaue Viktoria mit zwei Eisenschimmeln.

»Einsteigen,« sagte der große dicke Herr, »seid ihr hungrig, Kinder?«

»Ja!« rief die Miriam und legte dem widerstrebenden Karl Maria schnell die Hand auf den Mund.

Der fremde Herr rief dem Kutscher etwas zu und warf sich in den Rücksitz. Eng aneinandergeschmiegt saßen die Kinder ihm gegenüber.

»Wie heißt Ihr eigentlich?«

»Karl Maria Tredenius.«

»Guter Name für einen Geiger,« murmelte der dicke Mann und schmunzelte, daß in seinem fetten bartlosen Antlitz mit dem schweren Hakenkinn die Falten sprangen.

»S. Lewis, Impresario,« stellte er sich dann vor.

Karl Maria legte die Hand vor die Stirn und sann nach. Dieses ausländische Wort hatte er bestimmt schon aus dem Munde der guten Frau Charlotte gehört.

»Bist du nicht der große dicke Herr, der früher zum Joseph kam?« fragte er Plötzlich.

»Zu welchem Joseph?«

»Das ist die Miriam Italiener,« rief der kleine Tredenius statt jeder näheren Auskunft, und Miriam rutschte von ihrem Sitz und knixte geschmeichelt: »Ich bin beim Ballett.«

»Du, kleine Kröte?« lachte dröhnend S. Lewis, fing den Balg und küßte ihn ab, trotzdem die gekränkte junge Dame ihm mit beiden Krallenpfoten ins Gesicht fuhr. Er lehnte sich zurück und lachte, daß er sich mit beiden Händen den Bauch halten mußte und helle Tränen ihm über die Wangen liefen: »Gott meiner Väter! Hat der Schlemihl Italiener eine solche Schwester! Goldkind, du gehörst mir!«

Er riß sein Taschenbuch heraus, ein rotes, dickes Ding, ganz angestopft mit Papieren, Visitkarten und kleinen Photographien, und schrieb eifrig.

Die Miriam zog ein Mäulchen: »Aber ich mag dich nicht. Du hast mich geküßt.«

»Kommt alles mit der Zeit, mein Herzchen. Die Ermattinger war in ihrer Jugend auch so eine Kratzbürste. Aber als ich das erstemal mit Lumley für sie abschloß, wollte sie mich vor Liebe schier fressen.«

»Bist du ihr Vater? Aber nein, du bist ja ein Jude,« sagte höhnisch die kluge Miriam.

»Schlaumeier, aber ich bin ein Engländer. Na, was soll ich dir schenken, kleine Taglioni in spe

»Ich mag nichts geschenkt. Gib lieber dem Karl Maria eine wirkliche Geige.«

Er blickte den Buben scharf an, der blaß und verschüchtert sich in die Wagenecke drückte. »Richtig, du hast ja vorhin gegeigt. Laß mal sehen!«

Mitleidig nahm er das armselige Instrument und wog es bedächtig in der Sand. »Hast du beim Joseph gelernt?«

»Nein, bei den Bienen im Garten.«

»Gotteswunder!« lachte der Mann und faltete die plumpen, rotbehaarten Hände im Schoß. Wieder sah er den Jungen fest an, schmatzte mit den Lippen und hatte ein Lauern in den Augen.

»Du sollst eine Geige haben.«

Die Miriam wippte vor Vergnügen mit den rotbestrumpften Beinen, Karl Maria saß mit großen Augen und konnte kein Wort hervorbringen. Nach einer Weile ließ Mr. Lewis halten und trat mit den Kindern in einen Laden.

Da lagen und hingen Instrumente aller Art. Geschäftig lief der Händler herbei und verbeugte sich vor dem Impresario. »Womit kann ich dienen, Mr. Lewis?«

»Eine Kindergeige,« antwortete der Riese und klopfte dem kleinen Tredenius aufmunternd die Schulter. »Etwas Feines! Das ist der Violinvirtuose Karl Maria Tredenius. Den Namen merken Sie sich!«

Karl Marias Herz klopfte, und ein Zittern ging über seine ausgestreckten Hände, die auf die langersehnte Geige warteten.

»Darf ich?« Und liebkosend berührte er mit den Fingerspitzen die goldbraunen, glänzenden Leiber der Geigen.

S. Lewis hob eine empor und klimperte auf den Saiten. »Diese hier!«

Karl Maria drückte die Kindergeige unters Kinn, fuhr mit den Fingern ans Griffbrett, wie er von Joseph gesehen hatte, und langte nach dem Bogen. Dann sah er sich ängstlich um.

»Los! Zeig', was du kannst!« schrie der dicke Mann und warf sich in einen roten Plüschfauteuil, der unter seiner Last krachte.

Das Kind spielte wieder seine Bienenmelodie. Doch es klang anders, voller, reicher, beinahe schön. Und jetzt flog der Bogen über die G-Saite; Karl Maria wußte nicht, was er tat.

»Teufelskerl!« lobte Lewis, »aber Schluß für jetzt!«

Der Bub kam aus seinem Traum zurück. Mit großen Augen blickte er zum Impresario auf. »Darf ich jetzt beim Joseph lernen?«

»Ja. Er hat eine gute Schule. Sag ihm, er soll an dir gut machen, was er an sich selbst versudelt hat, der faule Esel.«

Er warf eine Geldnote hin und half dem verwirrten Karl Maria Geige und Bogen versorgen.

Der Bub schleppte seinen Schatz selbst zur Kutsche zurück. Großvater Samuel im Himmel hatte ihm diesen Mann geschickt. Er glaubte steif und fest daran. Erzengel sind ja alles imstande.

Als der Wagen wieder stillstand, führte S. Lewis die Kinder eine teppichbelegte Treppe empor, das Geländer blitzte goldig, der Plafond war mit nackten Engeln reich bemalt. Ein eleganter Herr im Frack kam und fragte nach ihren Wünschen. Karl Maria, der im Vestibül tödlich vor einem lebendigen Mohren erschrocken war, hielt seine beiden Geigen krampfhaft fest und entschuldigte sich sehr, daß er gar keinen Hunger habe. Miriam aber, die sich schon ein wenig vernachlässigt fühlte, tat großartig und verlangte keck ein eingemachtes Huhn und ein Glas Tokaier. Das hatte sie einmal bei der Ermattinger gehabt und wollte nun ihre Weltgewandtheit zeigen. S. Lewis schmunzelte, bestellte eine halbe Flasche Tokaier sowie das Huhn, dann aber auch Himbeersaft und Selterswasser. Den Tokaier trank er zu Miriams Enttäuschung allein, die Kinder bekamen nur Himbeersaft mit Selters in wunderschönen Stengelgläsern. Die Miriam schmauste tüchtig, nahm alle zehn Finger dabei zu Hilfe und erzählte Mr. Lewis ihre und Karl Marias ganze Familiengeschichte. Als sie ganz naiv auf den wilden und stets betrunkenen Vater Tredenius kam, blickte der Bub furchtsam zu Boden.

Der Impresario trank ihm zu: »Mut, Kleiner! Ein rechter Kerl geht mitten durch.«

Aber Karl Maria stammelte nur: »Vater wird mir die Geige wegnehmen!«

Miriam tröstete: »Da lernst du eben heimlich. Lässest die Geige beim Joseph.«

»Dann hört mich die Mutter nie spielen.«

S. Lewis trommelte nachdenklich auf dem Tisch und trank sein Glas aus. Mit einem Ruck richtete er sich auf, zog die gelbe Seidenweste mit den schwarzen Blumen glatt und faltete die groben Hände: »Pass« auf, mein Junge! Guck' es der Miriam ab. Willst du ein großer Geiger werden, darfst du nicht immer an Mutters Schürzenband hängen. Ein steinernes Herz mußt du haben, wie der Mann im Märchen vom Holländer-Michel.«

»Gib mir ein steinernes Herz!« schrie die Miriam.

»Bist du der Holländer-Michel?« fragte Karl Maria verwundert.

»So'n Stück von ihm.«

Karl Maria blinzelte in die Sonnenstrahlen, in denen goldene Ständchen tanzten.

Die Kinder atmeten schwer.

Da sagte S. Lewis ganz leise: »Seid fleißig, ihr beide, und schlagt alles andere tot, wenn ihr berühmt werden wollt.«

»Wie der Hans Geßner?« fragte der Bub.

»Ja, wie der.«

Vor den Kindern stand wie ein goldener Riese das Wörtchen: Ruhm.

»Vergiß uns nicht,« schmeichelte beim Abschied die Miriam, die allein eine stille Ahnung hatte, was ein Impresario war.

S. Lewis gab ihr lächelnd eine Karte: »Laßt von euch hören, wenn ihr ein Stück weiter seid.«

Mit zusammengezogenen Brauen buchstabierte Miriam: »L. S. Lewis, Impresario, Gartenstraße 14.«

Ihre Wangen waren ganz heiß selbst ihr Plappermäulchen stand still.

Karl Maria legte beide Hände um seinen Geigenkasten und hatte helle, starre Augen.

 

Miriam mußte ihren Bruder Joseph vom Mittagstisch rufen, weil Karl Maria sein Geheimnis nicht allen preisgeben wollte. Der Bub hielt Joseph die Geige hin: »Die gehört jetzt mir. Der Lewis hat sie mir geschenkt. Und ich will bei dir lernen.«

Dem Joseph gab es einen Ruck, er knüllte die zerrissene Serviette, die er zwischen Hemdkragen und Gurgel stecken hatte, mit der Faust zusammen und zerrte mit beiden Händen daran.

»Willst du auch auf den Holzweg?« Die Stimme war rauh und fiebrig.

Nach einer Weile, als Miriam ihm alles erzählt hatte, was sich mit dem Impresario begeben, auch den wenig schmeichelhaften Gruß an Joseph selbst, strich er dem Jungen übers Haar und sagte: »Ist hart, daß du gerade bei mir Geige lernen willst.«

Karl Maria verstand ihn nicht. Mit seinen sechseinhalb Jahren wußte er nicht, daß dem Joseph heute ein Vorhang zurückrollte, hinter dem eine hoffnungsvolle Kindheit begraben lag. Der Rotkopf aber hatte Wasser in den Augen, als er jetzt den Kleinen samt seiner Geige zu sich emporhob und küßte: »Das Handwerk sollst du bei mir lernen. Das andere – na, dafür muß der liebe Gott schon selber sorgen.«

Miriam hatte die Arme hinter dem Rücken gekreuzt und stand mit lauernden Augen. Ein hochmütiges Lächeln ging um die vollen Kinderlippen. Sie flüsterte beinahe zornig: »Er ist doch ein Schlemihl.«

 

Am Abend, als die Mutter wie jeden Tag zu Karl Marias Bett kam, jauchzte er: »Mutterle, ich hab' eine Geige!«

Und dann beichtete er, Kopf an Kopf, sein erstes großes Erdenglück. Frau Lisbeth erschrak und fand kein Wort für diese Freude. Da schmiegte er sich noch enger an sie: »Hast du mich nicht mehr lieb, Mutter, weil ich jetzt eine Geige habe? Vater soll's nicht wissen. Ich lerne heimlich beim Joseph.«

»Ich freue mich ja,« sagte die hilflose Frau.

»Schau', ich hab' dich ja doch lieber als meine Geige.«

Lisbeth küßte ihn, aber wie ein Schatten wuchs es vor ihr empor, daß sie nun ihr Kind und seine Liebe mit etwas teilen sollte, mit einem leblosen Ding, an dem ihm Herz und Seele hing. Sie kannte das Schicksal des Joseph Italiener. Wenn nun Karl Marias Weg auch dort endete? Bruder Williguth wollte sie um Rat fragen. Der mußte ihr helfen in dieser harten Entscheidung. Ihr ängstlicher Sinn mißtraute allem raschen Erfolg. Alles war so plötzlich gekommen. Und Karl Maria taugte doch nicht einmal zum Klavierspielen, konnte sich keine Skala merken, sondern klimperte nur nach Lust und Laune. Wenn es ihr nur gelang, den Buben vor späterer Enttäuschung zu bewahren, wollte sie es geduldig tragen, daß er an ihrer Liebe zweifelte. Die verschüchterte Frau hielt Musik schließlich doch nur für einen Luxus der reichen Leute.

 

Sie lief in den »Blauen Herrgott« und trat durch die kleine Pforte, die durch den Garten zum Haus führte. Voller Orgelton brauste ihr entgegen, stark und selbstherrlich. Da lächelte die Frau, halb lustig, halb traurig. Ihr Bruder war ein großes Kind. Jetzt hielt er wieder Zwiesprach mit seinem großem Meister auf Erden, Johann Sebastian Bach, und zugleich mit dem Gewaltigen, der die himmlischen Register zog.

Das dürre Laub raschelte unter ihren Füßen, nur armselige braune Lappen hingen an Baum und Strauch, Lumpenpack, das der erste Wintersturm fortblies. Plötzlich übertönte wildes Geschrei den Orgelton. Bei einer Wegbiegung tanzten Williguths Kinder um einen Baum, an dem Robert, der schlimme Hornbläser, soeben kunstgerecht einen achtjährigen Bruder emporzog. Der Große hockte auf einem dicken Ast und hielt eine Schlinge in der Hand, die unten eine mit bunten Lappen und Federn als Wilde kostümierte Schar von Buben und Mädeln dem schreienden Opfer unter die Arme gelegt hatte. Mit weit mehr Behagen als bei Haydn waren sie bei ihrer Robinsonade. Der arme gefangene Freitag schrie erbärmlich und strampelte mit den Beinen, aber der Häuptling auf dem Lindenast riß ihn mit einem Ruck in die Luft. Dazu heulten sie alle einen Kriegsgesang, der dem Musiker Johann Sebastian keine Ehre machte. Frau Lisbeth sprang dazwischen.

»Rache für unsere toten Brüder!« brüllte ein kleiner Karaïbe und ließ einen Pfeil nach dem Höschen des zappelnden Freitag schwirren.

Das Opfer am Wäschestrick heulte gotteserbärmlich.

»Werdet ihr wohl!« rief Lisbeth, in deren Handtäschchen auch schon zwei Pfeile staken, und packte den mißhandelten Freitag an den Beinen. Der Häuptling ließ den Strick fahren, und das Opfer sauste herab, mit dem Kopfe voran in einen Haufen welken Laubes. Aus einem Busch eilte jetzt Robinson Crusoe zu Hilfe, Tannenzapfen durchschwirrten die Luft, immer mehr Pfeile flogen an Frau Lisbeth vorüber, der Hornbläser mit dem Lasso pirschte von rückwärts an sie heran. Da ergriff sie die Flucht.

In sämtlichen Registern erbrauste die Orgel, als Lisbeth über die schmale Wendeltreppe zu dem Hochsitz ihres Bruders auf dem Chor der ehemaligen Klosterkapelle emporstieg. Durch die bunten Fenster fiel die träge Novembersonne auf die Orgelpfeifen und auf das mächtige Haupt des Chordirektors Williguth. Der junge Riese Giacomo diente widerwillig als Bälgetreter. Das war seine einzige musikalische Befähigung. Denn mit der ersten Geige hatte er nicht viel Glück. Machte er etwas falsch, griff sein Vater mit der gewaltigen Faust zur Seite und ließ die musikgewandten Finger auf die feiste Wange seines Ältesten klatschen. Die kleine Kunigunde kauerte mit zwei Puppen in: Arm auf einem alten Teppichrest neben einem riesigen Bierkrug. Verlangte die irdische Leiblichkeit nach dem braunen Trank, stieß Williguth nur mit dem Fuß auf, und die Kleine hob sofort mit ihren schwachen Armen das schwere Gefäß zum durstigen Vater empor. Das war ihr besonderes Amt.

Gar wehmutvoll erklang das Thema der Bachschen Fuge. Kühn und stark wie Menschenschmerz in der Einsamkeit, wenn wunde Schreie in das Brausen des Sturmes sich werfen. Wie leiser Zuspruch aus Freundesmund lief es in goldenem Maßhalten dazwischen.

Johann Sebastian Williguth erblickte die Schwester und stellte die Register ab.

Unwillig fragte er: »Was willst du von mir?«

Lisbeth tat einen Blick auf Giacomo.

Da griff der Vater zum Bierkrug, leerte ihn auf einen Zug und sagte hoheitsvoll: »Giacomo, elender Sproß des Kulissenreißers Meyerbeer, hole mir frisches Bier.«

Der große Junge polterte die Treppe hinab.

»Willst du dich scheiden lassen, arme Schwester?« erkundigte sich Herr Williguth. Groß und breit saß er vor seiner Orgel, mit seinem Gott allein.

»Du sollst mir helfen,« stieß sie hervor und legte ihre Mutterangst in diese derben Fäuste, die unbeholfen damit spielten.

»So ist also das Glück zu deinem Buben gekommen?«

»Williguth!«

Johann Sebastian schien ihrem Zorn zu lang.

»Ich kenne den Lewis. Er hat die Ermattinger gebracht, den Geiger Wieniawski. Er ist ein Teufel, der Kinderseelen frißt und sie der göttlichen Musik opfert. Aber es ist ein Gottesopfer.«

»Freilich, drunten hängen deine Rangen ihren kleinen Bruder an einen Baumast, schießen und stechen aufeinander los, und du sitzest da und träumst. Mich hast du ja auch blindlings in die Ehe rennen lassen – du, ja blicke nur so majestätisch –!«

»Schwester, es war dein eigener Wunsch. Und ich habe noch keiner Seele wehgetan.« Williguth lächelte friedlich, als sei in seinen letzten Worten das Glück seines Lebens beschlossen. Doch die Bitterkeit der Frau polterte in diesen goldenen Seelenfrieden.

»Zum Dank kümmert sich niemand um dich. Chordirektor von St. Pankraz, das ist alles. Plagen und rackern kannst du dich, um bloß Brot für deine zwölf Bälger zu schaffen.«

Sein Blick ging hell und frei über das vergrämte Weib, das im Zorn die mühsam gestickten Handschuhe auf den Orgelkasten warf: »Uns hat das Leben betrogen, dich und mich!«

»Du hast zu heißes Blut, Lisbeth. In der Harmonie warst du stets schwach. Weißt du denn nicht, welch köstlicher Schatz die Einsamkeit ist? Die hab' ich, und die halte ich. Und meinen Bach und meinen Mozart können sie mir auch nicht rauben, die da draußen. Und meine Rangen alle, ach, Lisbeth, laß sie mir doch. Vielleicht steckt doch ein ganz Großer darunter, ein Freudebringer.«

Spott und Schmerz mußten schweigen vor dieser selbstsicheren Ruhe. Johann Sebastian nahm seinen Triumph und schwang ihn hoch wie eine Siegesfahne: »Drum soll dein Bub ein Geiger werden.«

»Wenn es aber anders ist, wenn mein Bub Jugend und Harmlosigkeit umsonst hingibt, wenn er als vergrämter Operettengeiger endet? Was dann?«

»Die heimliche Freude, die vor der Enttäuschung liegt, die vergißt du ganz. Aber darauf kommt es an.«

Hoch und breit stand er im Sonnenlicht, wie ein armer Heiliger, der blind an seinen Gott glaubt. Dann fiel sein Blick auf die spielende Kundry, und er lächelte glücklich.

»Du willst mir also nicht helfen?«

»Ach, du siehst Gespenster, Lisbeth.«

»Gespenster?«

Sie trat dicht an ihn heran. Die Augen glänzten dunkel in dem blassen Gesicht. Williguth sah die feinen Falten, die seine Schwester alt gemacht hatten vor der Zeit. Er wandte den Kopf. Aber ihre Worte liefen ihm nach wie nackte Bettlerkinder.

»Ich bin ein armes Weib, dem einmal das Herz durchging. Tredenius vertrinkt alles Geld und verdirbt noch die Kinder. Weißt du, was aus der Martha wird?«

»Eine fröhliche Puppe.«

»Nein, nein, du großes Kind, verdorben ist sie bis ins Mark. Und nun soll ich auch noch den Buben hergeben?«

»Der wird glücklich, glaube mir doch!«

Sie krampfte die Hände in die Tasten, daß es einen schrillen Mißklang gab: »Karl Maria kann gar kein großer Geiger werden. Keines von uns hat Glück!«

»Unsinn! Schau dir bloß die Musikerbuckel über seinen Augen an!«

»Dann wird Tredenius sein Talent ruinieren. Er wird das Kind verkaufen, wenn er erst merkt, daß in der Geige Geld steckt. Er braucht ja immer Geld zum Kartenspiel.«

»Ist es mal so weit, dann rufe mich! Und ich will dem Schurken den Marsch trommeln mit meinen Fäusten.«

Trotzig streckte er das schwere Kinn vor.

Lisbeth lächelte traurig: »Dann ist es zu spät.«

Schwere Schritte polterten die Treppe herauf, Giacomo schwang fröhlich den Bierkrug, und sein Lachen fuhr jung und stark in das bange Schweigen von Bruder und Schwester. Williguth griff präludierend in die Tasten: »Hat ihn Gott lieb, bleibt dein Bub Sieger.«

Lisbeth lächelte wieder. War er ein Narr oder ein Weiser?

Beim Abschied streckte ihr die kleine Kundry eine Kette aus aufgereihten Kastanien hin: »Bitte, Tante Lisbeth, gib das dem Karl Maria. Und einen Gruß von mir!«

 


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