Magnus Gottfried Lichtwer
Fabeln
Magnus Gottfried Lichtwer

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Die Rehe.

        Mein Kind! du wagest dich so kühnlich in den Wald,
    Als ob kein Tiger um uns wohne, –
Ersieht er dich, so bist du kalt;
    So sagt ein Reh zu seinem Sohne.

        Wohl, sprach der Rehbock, saget mir,
    Was ist der Tiger für ein Thier?

        O Sohn! das ist ein Ungeheuer,
Ein Scheusal von Gestalt; sein blitzend Angesicht
Verräth den Mörder gleich, sein Rachen raucht vom Blute,
    Der Bär ist so erschrecklich nicht,
Und bei dem Löwen ist mir nicht so schlimm zu Muthe.

Gut! unterbrach der Sohn, nun kenn' ich diesen Herrn.
    Er ging hinweg, sein Unglücksstern
Trieb ihn zum Tiger hin, der in dem Grase ruhte.
Der Rehbock stutzte zwar; doch er erholte sich,
Und sprach: das ist er nicht; der Tiger raucht vom Blute,
    Und ist abscheulich fürchterlich.
Hingegen dieses Thier ist schön, geputzt und freundlich,
    Sein Blick zwar feurig, doch nicht feindlich,
    O, solchen Tigern geh' ich nach,
    Hob er mit Kühnheit an zu schreien;
    Doch mocht' es ihn zu spät gereuen,
Als ihm das Tigerthier d'rauf das Genicke brach.

* * *

            Man thut gar wohl, daß man der Jugend
    Der Laster Häßlichkeit entdeckt;
Jedoch man warne sie auch vor dem Schein von Tugend,
Und vor dem süßen Gift, das in den Lastern steckt;
    Sonst macht der falsche Glanz von diesen,
Daß sie die Laster oft für Tugenden erkiesen.

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