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Achtzehntes Kapitel

Denn einsam steh' ich nun auf einem Fels
Umgeben rings von einer Meereswüste.
Die Well' um Well' die Fluth mir näher bringt.
Wann kömmt die gier'ge Woge, in den Schaum
Des tiefen Abgrunds mich hinabzuschlingen?

Shakspeare.

Es war gerade Ebbe, als Newton in diesem trostlosen Zustande verlassen wurde. Nachdem sich sein Geist einige Minuten dem bittersten Schmerze hingegeben hatte, kehrte sein natürlicher Muth wieder zurück und erhob sich mit dem Entschlusse, seine Kräfte so gut als möglich zu gebrauchen und auf die Vorsehung zu bauen, obgleich die Aussicht aus Rettung fast keinen Funken von Hoffnung bot. Sein erster Gedanke war, das Ufer zu untersuchen, um zu sehen, ob Jackson nicht etwas Mundvorrath zurückgelassen hatte; doch da war nichts zu finden. Er ging dann weiter, dem Rücktritte der Fluth folgend, die vielleicht einen Schellfisch auf dem Sand hatte liegen lassen; aber auch hierin sah er sich getäuscht. Es war augenscheinlich, daß er auf diesem Inselchen verhungern sollte, denn seine einzige Aussicht schien in der Möglichkeit zu beruhen, daß er die nächste Insel erreichte, die, wie bereits bemerkt, mit Bäumen bewachsen war. Dort konnte er wenigsten einige Nahrungsmittel finden und sich aus dem Holze einen Floß bauen, wenn sich nicht allenfalls etwas Besseres für ihn aufthat.

Die Ebbe fegte nach der Insel hinunter, strömte aber so stark, daß er befürchten mußte, darüber hinausgeführt zu werden; er beschloß daher, ein paar Stunden zu warten, bis sich die Kraft der Strömung vermindert hätte, und dann den Versuch zu wagen. Die Zwischenzeit benützte er mit Versuchen, seinen Geist gegen die Schrecken eines fast sichern Todes, der ihm entgegen starrte, zu kräftigen.

Etwa eine Stunde vor dem tiefsten Wasserstande ging Newton in die See, empfahl sich der Vorsehung und legte auf die Insel ab, dabei seinen Kurs wohl windwärts nehmend, damit ihn die Ebbe hinunterfege. Er hielt sich dabei außerordentlich gut, bis er die Mitte des Kanals erreichte, wo das Wasser mit großer Schnelle fluthete und ihn rasch in die Strömung hinuntertrug. Newton kämpfte mit aller Gewalt, denn er wußte, daß, sobald die Strömung überwunden war, sein übriges Geschäft beziehungsweise leicht war. Und so stellte sich's auch heraus; je näher er dem Ufer der Insel kam, desto rascher wurde er dahin getragen. In der Mitte war er jedoch so weit abwärts gerissen worden, daß es selbst den hoffnungsvollsten Berechnungen zweifelhaft dünkte, ob er die äußerste Spitze der Insel erreichen werde. Newton verdoppelte seine Anstrengung und glaubte schon seines Erfolges sicher zu sein, da ihn etwa dreißig Schritte vom Lande entfernt ein Wirbel gegen die Küste hinführte; aber etwa zehn Ellen vom Ufer faßte ihn eine Gegenströmung und fegte ihn abwärts. Er befand sich nun der äußersten Spitze der Insel gegenüber und ein über das Wasser niederhängender Busch bot ihm noch die einzige Hoffnung. Mit drei oder vier verzweifelten Rucken erschöpfte er den Rest seiner Kräfte vollends, faßte aber zu gleicher Zeit einen kleinen Zweig. Er war dürr – riß auseinander und Newton wirbelte mit der Strömung in's weite Meer hinaus.

Wie oft versetzen sich Leute nicht in wirkliche Gefahren, um ein eingebildetes Uebel zu vermeiden. Eine Mutter will ihr Kind nicht zur See gehen lassen, damit es nicht ertrinke, und ein paar Tage nachher findet es seinen Tod unter dem Hufe eines Rosses. Wäre dem Jungen gestattet worden, sich an Bord eines Schiffes zu begeben, so hätte er vielleicht das gewöhnliche Ziel des Daseins erreicht. Wo wir sind und wohin wir gehen, lauert uns der Tod in dieser oder jener Gestalt auf, hier früher, dort später, und man läuft ebenso viel Gefahr, wenn man die Straßen von London durchwandelt, als wenn man den schäumenden Ocean durchpflügt. Jeder Ziegel über unsern Häuptern birgt den Tod in sich, und wir haben dieselbe Sicherheit, daß einer davon auf uns niederfällt, welche uns der offene Mund einer erzürnten Welle bietet. Ich glaube, daß im Ganzen verhältnißmäßig ebenso viele Matrosen die den Menschen zugewiesene Spanne Zeit erreichen, als die übrige Welt, die in anderen, scheinbar weniger gefährlichen Berufen thätig ist, obschon nicht in Abrede gezogen werden kann, daß wir hin und wieder Futter für die Fische werden. »Es gibt Ebbe und Fluth in den menschlichen Dingen,« sagt Shakspeare, aber zuverlässig bot von allen Ebben, die je menschlichen Entwürfen in den Weg kamen, diejenige, welche den armen Newton Forster wegfegte, die allermindeste Aussicht, »zum Glück zu führen«. Und dennoch war es der Fall. Hätte Newton die Insel erreicht, nach der er sich so sehr sehnte, so wäre er elendiglich zu Grunde gegangen, während man bald finden wird, daß sein scheinbares Unglück der allerglücklichste Umstand war, der ihm begegnen konnte, und, obgleich seine Leiden noch kein Ende hatten, das Mittel zu seiner endlichen Rettung wurde.

Newton hatte sich in sein Geschick ergeben. Er hörte auf, sich weiter anzustrengen, indem er nur darauf Bedacht nahm, sich noch eine kleine Weile länger über dem Wasser zu erhalten. Sich auf den Rücken werfend, flehte er zum Himmel um Gnade und schwamm mit dem Strome dahin. Daß Newton einige Sünden und Thorheiten auf dem Gewissen hatte, wie die meisten Leute, ist zuverlässig, denn auch bei dem Vollkommensten läuft bald eine lange Rechnung auf. Während des Lebens vergessen wir unsere Verirrungen, wie auch die Zeit, in welcher wir sie begingen; aber wenn der Tod unvermeidlich ist oder doch unvermeidlich zu sein scheint, so wird das Gedächtniß furchtbar vollkommen, und jeder Posten unserer ungeheuren Rechnung muß in wenigen Sekunden gelesen und als richtig anerkannt werden. Dies ist der Schrecken des Todes – dies der Grund, warum der Körper so ungerne die Seele ziehen läßt, obgleich diese bereits mit ihrem Gefieder rauscht und sich zu entfliehen sehnt. Hierin liegt der Schmerz des Losreißens, wenn der Leib kraftlos sein Anklammern endlich aufgibt und – wenigstens diesseits des Grabes – Alles vorüber ist.

Newtons Kräfte waren erschöpft; seine Augen hafteten auf dem klaren blauen Himmelsgewölbe, als wolle er demselben Lebewohl sagen, und in sein Geschick sich ergebend, war er bereits im Begriffe, auch von seinen letzten peinlichen Anstrengungen, die doch nur sein Leiden verlängern, nicht aber sein Leben retten konnten, abzulassen, als er im Wasser einen Stoß gegen die Achseln verspürte. In der Meinung, daß derselbe von dem Schwanze eines Haifisches oder von irgend einem andern gefräßigen Ungeheuer der Tiefe, deren es in der Nähe der gedachten Inseln in Menge gibt, herrühre und im nächsten Augenblick sein Leib entzweigetrennt sein werde, stieß er im herbsten Todesschrecken einen matten Schrei aus; aber im nächsten Augenblicke wurden seine Beine durch die Strömung gedreht, und er bemerkte zu seinem Erstaunen, daß er sich auf einer der vielen Sandbänke in der Nähe des Riffes befand, über welche die Fluth mit der Schnelligkeit eines Schleußenwassers ablief. Er zappelte, richtete sich auf und fand sich jetzt in fußtiefem Wasser. Die Ebbe war beinahe zu Ende und sein Standort eine der Bänke, welche sich nur beim Voll- und Neumond über dem Wasser zeigten. Es war jetzt ungefähr neun Uhr, und die Sonne schien mit großer Gewalt. Aus Mangel an Nahrung fast ohnmächtig, wußte Newton kaum, ob er diesen jeweiligen Aufschub als einen Vortheil betrachten sollte. Er wußte, daß die Fluth bald wieder zurückströmen würde, und fühlte, daß seine Kräfte zu sehr aufgerieben waren, um nach der Insel zurück zu schwimmen, welche er bei seinem ersten Versuche verfehlt hatte und die jetzt mehr als zwei Meilen von seiner Sandbank abstand. Welche andere Aussicht stand ihm bevor, als daß er von der wiederkehrenden Fluth weggeschwemmt werden würde? Er bedauerte fast, daß ihm nicht statt der Sandbank ein Haifisch in den Weg gekommen war, da ihm dieser doch ein paar Stunden verlängerten Elends erspart haben würde.

Wie Newton vorausgesehen hatte, war die Ebbe bald vorüber; es trat eine kurze Pause »trägen Wassers« ein, und dann begann es um ihn rasch wieder zu fluthen. Auch der Wind hatte aufgefrischt, und die Oberfläche des Meeres kräuselte sich stark. Je höher das Wasser stieg, desto größer wurden die Wellen, und jeder Augenblick steigerte seine Trostlosigkeit. Er war jetzt ungefähr vier Stunden auf der Sandbank gewesen; das Wasser hatte sich bis unter seine Arme gehoben, und die Wellen lüpften ihn beinahe von seinen Füßen, so daß er nur mit Schwierigkeit seine Stellung behaupten konnte. Die Hoffnung entschwand und seine Sinne wurden verwirrt. Er meinte, grüne Felder, Städte und Einwohner zu sehen; sein Vater kam mit der Fluth gegen ihn herunter und rief ihn um Hülfe an, als mit einemmale der Anblick eines wirklichen Gegenstandes die Unstätigkeit seines Geistes bannte. Es war eine dunkle Masse, die ihm augenscheinlich immer näher kam. Der Athem versagte ihm fast, und endlich konnte er unterscheiden, daß es entweder ein schlafender Wallfisch, oder der Kiel eines umgeschlagenen Bootes sein mußte. Zum Glück für Newton, war letzteres der Fall. Endlich kam der Gegenstand in der Fluth bis auf ein paar Schritte an ihn heran und schien jetzt Halt zu machen. Newton stürzte darauf zu und hatte sich in einer Minute rittlings darauf gesetzt. Sobald er sich ein wenig von seiner Aufregung erholt hatte, bemerkte er, daß es dasselbe Boot war, welches zu der Brigg gehört und in welchem ihn Jackson so schändlich verlassen hatte.

Um drei Uhr hatte die Fluth ihre Höhe erreicht und um fünf Uhr ebbte es wieder, so daß Newton jetzt seinen Sitz auf dem Kiele des Bootes verlassen und um dasselbe herumgehen konnte. Er richtete es auf und entdeckte, daß der Mast dicht an der Hülung abgedrückt worden war, sammt dem Segel aber noch durch die große Schoote mit dem Boote zusammenhing, so daß von diesen Gegenständen noch Gebrauch gemacht werden konnte. Alles Uebrige war aus dem Boote verloren gegangen, den kleinen Anker ausgenommen, der aufgezogen gewesen war und, von dem umgeschlagenen Boote aus in's Wasser hängend, das Fahrzeug auf der Sandbank festgehalten hatte. Newton hatte seit dem vorigen Abend weder etwas gegessen, noch getrunken, und verzweifelte fast in der Qual des unerträglichsten Durstes, als er plötzlich bemerkte, daß der Schrank unter dem Sternbänken geschlossen war. Er beeilte sich, ihn aufzubrechen, und fand, daß die Flaschen mit Wein und Cider, die er hier untergebracht hatte, noch vorhanden waren. Von letzterem goß er eine ganze Flasche die Kehle hinunter und fühlte sich dann zu seiner früheren Kraft wieder hergestellt.

Abends sieben Uhr lag das Boot beinahe trocken. Newton schöpfte es aus, befestigte den Anker im Sande und legte sich, von dem Segel bedeckt, in den Sternbänken zum Schlafen nieder. Sein Schlaf war so tief, daß er vor dem nächsten Morgen um sechs Uhr, um welche Zeit das Boot abermals auf dem Grunde lag, nicht wieder erwachte. Er erfrischte sich jetzt mit etwas Wein und überlegte seine Aussichten. Dem Himmel für die erneuerte Möglichkeit des Entkommens dankend und das Schicksal des unvorbereiteten Jackson beklagend, der augenscheinlich in Folge einer Einklemmung der großen Schoote umgeschlagen hatte, beschloß Newton, auf eine der englischen Inseln abzuhalten, die, wie er wußte, ungefähr zweihundert Meilen entfernt lagen.

Die Ruder waren verloren gegangen, aber das Steuer befand sich noch an dem Boote, da er glücklicherweise durch ein Takel festgemacht war. Nachmittags zog er seinen Anker auf und lichtete sein Segel in der Richtung der englischen Inseln, so weit er die Lage derselben nach dem Stande der Sonne zu schätzen vermochte. Mit dem Einbruche der Nacht steuerte er nach den Sternen.

Der andere Tag kam, ohne jedoch Land in Sicht zu bringen, obgleich das Boot gut segelte und fast vor einem freien Winde lief. Newton nahm abermals seine Zuflucht zu dem Cider und dem Weine.

Am zweiten Abend konnte er kaum seine Augen mehr offen halten; aber trotz seiner Erschöpfung machte er auf seinem Kurse fort, ohne das Steuer zu verlassen. Wieder dämmerte der Morgen, und Newtons Kräfte waren vom beständigen Wachen aufgerieben; aber er kämpfte gegen seine Ermüdung an, bis die Sonne untergegangen war. Noch immer war kein Land zu sehen, und der Schlaf überwältigte ihn. Er wickelte einen Stich der großen Schoote um seinen Finger, um geweckt zu werden, wenn die Brise auffrischen sollte, und nachdem er diese Vorsichtsmaßregel getroffen, steuerte in wenigen Minuten das Boot sich selber!


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