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Orlando. D'rum harr' ein wenig, bis ich – gleich der Hirschkuh,
Die nach dem Jungen späht – die Nahrung bringe.
Da ist ein armer Greis, gedoppelt schwach,
Vom Hunger und der Last der Jahre.
Shakspeare.
Leser, bist du jemals wirklich hungrig gewesen? Ich meine nicht den gewöhnlichen gesunden Hunger, der die Folge der Anstrengung ist und den man mit jedem Augenblicke befriedigen kann, denn ein solcher wird eher zur Quelle des Genusses, als des Schmerzes. Wenn du den verzehrenden Hunger der Armuth nicht kennst, so kannst du dir keine Vorstellung von dem herben Zustande der Leidenden bilden. In den Wechselfällen des Seelebens ist es schon mein Loos gewesen, dieses peinliche Gefühl im höchsten Grade erfahren zu müssen, und obgleich es unmöglich ist, seine Einwirkung auf den Körper nach Gebühr zu schildern, so kann man sich doch aus dem Einfluß, den es auf den Geist übt, einigermaßen einen Begriff davon machen. Es war mir, als müsse ich die ganze Welt hassen – als sei Diebstahl eine Tugend, der Mord entschuldigbar und sogar der Kanibalismus durchaus nicht verabscheuungswürdig. Hieraus kann man also getrost die Folgen ziehen, daß es ein eigentlich teuflischer Hunger war.
Ich erwähne dies, weil Nicholas Forster, obgleich er zwei Tage ohne Nahrung gewesen war und mit allen verwerthbaren Gegenständen losgeschlagen hatte, doch eine solche Grundsatzfestigkeit besaß, daß er nicht einmal daran dachte, oder doch den Gedanken augenblicklich wieder beseitigte, das Eigenthum in dem Koffer seines Sohnes zu veräußern. Ich will zugeben, daß nur Wenige so gewissenhaft gewesen wären: ob übrigens Nicholas allzu gewissenhaft war – dies ist eine Frage, deren Erörterung ich einem Casuisten überlassen will. Ich für meine Person beschränke mich auf die einfache Erwähnung der Thatsache.
Bis zur Ankunft des Schiffes, das Mr. Berecroft nach Hause brachte, war die Hälfte von Newtons Lohn regelmäßig an den Alten ausbezahlt worden; sobald jedoch der Eigenthümer entdeckte, daß die Brigg sich von dem Konvoi getrennt hatte und auch außerdem von derselben keine weitere Kunde einlief, so erschien die Wahrscheinlichkeit ihrer Wegnahme so groß, daß der Kaufmann sein weiteres Geld auf Rechnung unsres Helden vorschießen wollte. Nicholas sah sich deshalb auf seine eigenen Hülfsquellen verwiesen, die freilich möglichst klein waren. Die Mannschaft der Brigg, welche sich im Boote gerettet hatte, wurde von einem heimwärts segelnden Schiffe aufgelesen und brachte die Kunde, daß Jackson und Newton aus dem Wracke zu Grunde gegangen seien. Nicholas, der seit Einstellung der Zahlungen häufig bei den Schiffseigenthümern vorsprach, um Nachricht über seinen Sohn einzuziehen, wurde von der Kunde seines Todes völlig überwältigt. Er kehrte nach seinem Hause zurück und zeigte sich nie wieder bei dem Kaufmann. Mr. Berecroft, der ihn aufzusuchen wünschte, um ihm einige Unterstützung zu Theil werden zu lassen, konnte nicht erfahren, in welchem Stadttheile er wohnte, und mußte bald nachher eine weitere Reise antreten. So war es dem armen, seinem Schicksale preisgegebenen Optikus ergangen, und er hätte wahrscheinlich ohne die glückliche Zurückkunft seines Sohnes bald eines elenden Todes sterben müssen.
Newton freute sich sehr über die Nachricht, daß sein Vater das auf der See aufgelesene Eigenthum nicht verkauft hatte, denn er fühlte sich jetzt überzeugt, daß er den rechtmäßigen Besitzer zu Guadeloupe aufgefunden hatte und beabsichtigte, dasselbe bei der nächsten passenden Gelegenheit, die jedoch zur Zeit nicht vorhanden war, an Monsieur de Fontanges abgehen zu lassen. Sobald er seinem Vater wieder eine nothdürftige Bequemlichkeit verschafft hatte, wandte er sich, da seine Börse nicht für immer ausreichen konnte, an den Eigenthümer der Brigg um eine Anstellung, wurde aber mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Der Verlust des Schiffes hatte den Kaufmann gegen Jeden, welcher auf demselben gewesen war, bitter gestimmt, er antwortete daher unserem Helden, er halte ihn für eine unglückliche Person und könne ihn auf keinem seiner Fahrzeuge segeln lassen, selbst wenn eine Entledigung eintreten sollte.
Jede andere Bemühung hatte einen gleich ungünstigen Erfolg. Mr. Berecroft war nicht zugegen, um ihn zu empfehlen oder ihm Beistand zu leisten, und unser Held sah der Rückkehr seines Gönners Monate lang mit ängstlicher Erwartung entgegen, bis endlich die Kunde einlief, er sei von dem gelben Fieber weggerafft worden, welches in diesem Jahre besonders bösartig gewüthet hatte. Der Verlust dieses einzigen Beschützers war ein schwerer Schlag für den armen Newton; aber er kämpfte mannhaft gegen das Mißgeschick und verdoppelte seine Anstrengungen. Wie früher hätte er stets einen Posten vor dem Mast erhalten können; doch hierauf mochte er nicht eingehen, weil er wieder gepreßt zu werden fürchtete; denn wie gut es ihm auch selbst dabei ergehen mochte, und wie viel Prisengeld er zu erringen hoffen durfte, so blieb doch sein Vater dem Mangel preisgegeben und erlag wahrscheinlich der bittersten Armuth, ehe er zurückkehren konnte. Der Gedanke an die Lage, in welcher er ihn bei seiner Rückkehr aus Westindien gefunden hatte, befestigte den Entschluß unseres Helden, den alten Mann nicht zu verlassen, ohne daß er ihn gegen Nahrungssorgen gesichert hätte. Der Beschäftigung entbehrte er nicht ganz, denn er verdiente hinreichend Geld, um ihre wechselseitigen Bedürfnisse zu bestreiten, indem er an Bord der für die See auszustattenden Schiffe als Auftakler arbeitete, weshalb er bei dieser Art, seinen Unterhalt zu erwerben, verblieb, bis sich etwas Besseres aufthat. Wäre Newton allein in der Welt oder sein Vater in der Lage gewesen, für sich selbst zu sorgen, so würde er sich unverweilt für die Fregatte des Kapitän Carrington gemeldet oder an Bord irgend eines andern Kriegsschiffes eine Stelle gesucht haben; denn sein Herz war zu hochsinnig und zu ächt englisch, um nicht hoch aufzuschlagen, wenn er von den ritterlichen Kämpfen zwischen den Schiffen der rivalisirenden Nationen hörte, und er sehnte sich, unter die vielen Tausende zu gehören, welche so eifrig bemüht waren, den Lorbeerkranz um die Schläfen ihres Vaterlandes zu winden.
So entschwand fast ein Jahr beharrlicher Anstrengung, unablässigen Harrens und ewiger Täuschung. Mit jedem Tage wurden seine häuslichen Angelegenheiten schlimmer, die Beschäftigung spärlicher und das Geld seltener. Eines Tages vertröstete man ihn mit seinem Lohne für den folgenden Morgen, was bei seiner Kreditlosigkeit ebenso viel hieß, als ihn mit seinem Mittagsessen gleichfalls auf den folgenden Tag verweisen; er kam trostlos nach Hause und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Tische, an welchem sein alter Vater bereits Platz genommen hatte.
»Nun, Newton, was bringst du zu essen?« fragte Nicholas, zur Vorbereitung seinen Stuhl ganz nahe an den Tisch rückend.
»Mein Arbeitslohn ist mir heute nicht bezahlt worden,« antwortete Newton; »ich fürchte daher, Vater, daß wir uns heute mit der Aussicht behelfen müssen.«
Nicholas rückte mit der Miene der Ergebung seinen Stuhl wieder von dem Tische weg, während Newton fortfuhr:
»In der That, Vater, ich glaube, wir müssen unser Glück anderswo versuchen. Was nützt es auch an einem Orte zu bleiben, wo wir keine Beschäftigung finden können? Alles ist fort bis auf unsere Kleider. Allerdings wäre auf die meinigen etwas Geld zu erhalten; aber ich meine doch, ehe wir hiezu unsere Zuflucht nehmen, würde es doch besser sein, wenn wir versuchten, ob uns das Glück nicht an einem anderen Orte günstiger ist.«
»Nun ja, Newton; ich habe längst auch gedacht, wenn wir nach London gingen, so könnte meine Verbesserung der doppelten Hemmung – –«
»Ist das dort unsere einzige Aussicht, Vater?« versetzte Newton mit einem halben Lächeln.
»Das wohl nicht; es fällt mir eben ein, ich habe daselbst auch einen Bruder – John Forster, oder Jack, wie wir ihn zu nennen pflegten. Es ist jetzt nahezu dreißig Jahre, seit ich nichts mehr von ihm gehört habe; aber als du in Westindien warst, sagte mir Jemand, er sei ein großer Rechtsgelehrter geworden und habe sich ein schönes Vermögen erworben. Ich habe bisher des Umstandes immer vergessen.«
Nun hatte Newton schon früher seinen Vater sagen hören, daß er noch zwei Brüder habe, obgleich er nicht wußte, ob sie noch am Leben waren. Diese Nachricht schien daher einige Erleichterung in Aussicht zu stellen, denn Newton zweifelte nicht, daß sein Onkel, wenn er in so glücklichen Verhältnissen lebte, einem Bruder Unterstützung angedeihen lassen werde. Er beschloß daher, nicht zu warten, bis ihre Mittel völlig erschöpft wären, sondern verkaufte gleich am andern Tage alle seine Kleider, bis auf einen einzigen Anzug, was ihm sogar mehr einbrachte, als er erwartet hatte. Nach Bezahlung der Hausmiethe blieb ihnen kein anderes Gepäck übrig, als der Koffer, den Newton auf der See aufgelesen hatte; mit diesem, sammt drei Pfunden Sterling in der Tasche und dem Ring der Madame de Fontanges am kleinen Finger, brachen unser Held und sein Vater zu Fuß nach der Hauptstadt auf.