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Dreiunddreißigstes Kapitel

Sieh' an dies Kind!
Ich rettet' es – und darf's nicht überlassen
Des Lebens Zufall; zeig' geborgen mir
Ein Winkelchen, daß es der Gram nicht tödte.

Dies Kind ist elternlos und deshalb mein.

Byron.

Einige Minuten, nachdem Newton seinen Onkel verlassen hatte, trat der Schreiber ein und meldete, daß ein Gentleman Mr. John Forster zu sprechen wünsche.

»Ich fragte den Herrn nach seinem Namen, Sir,« bemerkte der Schreiber, die Thüre hinter sich zudrückend, »aber er mochte denselben nicht angeben. Er hat ein kleines Mädchen bei sich.«

»Nun, gut, Scratton; das Mädchen kann mich nicht angehen,« versetzte der alte Rechtsgelehrte. »Heißt ihn hereinkommen.«

Und wieder studirte er über seine Akten, um ja die Minute nicht zu verlieren, die ihm bis zu der nächsten Unterbrechung übrig blieb. Die Thüre ging auf und Edward Forster trat, Ambra an der Hand führend, in das Gemach.

»Ihr Diener, Sir. Scratton, einen Stuhl – zwei Stühle, Scratton. Ich bitte um Verzeihung, junge Dame.«

Sobald sich der Schreiber entfernt hatte, begann Mr. John Forster wie gewöhnlich:

»Nun, Sir, wollt Ihr die Güte haben, mir Euer Anliegen mitzutheilen?«

»Erinnerst du dich meiner nicht? Doch es darf mich nicht Wunder nehmen, denn es ist bereits fünfzehn Jahre, daß wir uns nicht mehr gesehen haben. Zeit und Leiden, die mich zu einem Gerippe ausmergelten, sind wohl auch im Stande, das Aeußere des Menschen aus der Erinnerung eines Bruders zu vertilgen. Ich bin Edward Forster.«

»Edward Forster? – Hum! In der That, ich hätte dich nicht mehr gekannt – aber freut mich, dich zu sehen, Bruder. Sehr sonderbar – habe in Jahren nie etwas von meiner Familie gehört, und nun tauchen sie alle zumal auf! Kaum habe ich mir den Einen vom Halse geschafft, tritt ein Anderer auf. Nicholas kam kürzlich nach London – weiß Gott woher.«

Edward Forster, der den Charakter seines Bruders besser kannte, als Newton, nahm von diesen abgebrochenen Bemerkungen keine Notiz, sondern entgegnete:

»Nicholas? Ist er noch am Leben? Es wird mich freuen, ihn wieder zu sehen.«

»Hum!« versetzte John; »ich war froh, als ich ihn vom Hals hatte. Wenn du mit ihm zusammentriffst, so gib auf deine Uhr und deine Brille acht.«

»Was du da sagst, Bruder! Ich hoffe nicht, daß er ein derartiger Charakter ist.«

»Aber er ist ein Charakter, kann ich dir sagen; nicht gerade wie du meinst – er ist ehrlich genug. Laß sehen, ob mich mein Gedächtniß nicht trügt, Bruder Edward – wir trafen uns zum letztenmal, als du auf dem Wege nach – durch London kamst. Du warst Invalid und hattest eine Pension von vierzig Pfund jährlich für eine schwere Wunde erhalten, die du aus einem Treffen holtest. Gut, Bruder; aber nun sag' an, wo bist du seitdem immer gewesen?«

»Stets an demselben Orte, den ich wahrscheinlich nie verlassen haben würde, wäre es nicht um dieses kleinen Mädchens willen geschehen.«

»Und wer ist dieses Mädchen – deine Tochter?«

»Nur durch Adoption.«

»Hum, Bruder! für einen Halbsoldlieutenant scheint mir dies eine etwas kostspielige Grille zu sein! – 's ist schlimm genug, Kinder von eigener Zeugung ernähren zu müssen.«

»Du hast Recht,« erwiederte Edward; »wenn ich jedoch im gegenwärtigen Falle Unkosten und Verantwortlichkeit auf mich lud, so ist die Schuld mehr meinem Mißgeschicke als mir selbst zuzuschreiben.«

Edward Forster verbreitete sich nun ausführlich über die Umstände, welche mit Ambras Rettung zusammenhingen.

»Du mußt zugeben, Bruder John,« bemerkte Edward nach dem Schlusse seiner Erzählung, »daß ich nicht wohl anders handeln konnte. Du würdest es in der gleichen Weise gehalten haben.«

»Hum! ich weiß das nicht; soviel aber ist gewiß, daß du besser gethan hättest, wenn du zu Hause geblieben wärest.«

»Vielleicht hast du Recht, wenn man die hoffnungslosen Aussichten des armen Kindes in's Auge faßt; aber wir dürfen uns kein Urtheil erlauben. Dieselbe Vorsehung, welche eine so wunderbare Rettung verhängte, hat mich auch zu ihrem Beschützer erkoren. Warum anders hätte der Hund das Mädchen zu meinen Füßen niedergelegt?«

»Ich denke wohl, weil er apportiren gelernt hat; wie dem übrigens sein mag, Bruder Edward, ich habe kein Recht, dein Benehmen zu rügen. Wenn das Mädchen so gut als hübsch ist – je nun, um so besser für sie. Doch ich habe zu thun – erlaube mir daher die Frage, hast du mir noch weiter zu sagen?«

»Allerdings, John, denn was bis jetzt gesprochen wurde, sollte nur als Einleitung dienen. Ich bin hier mit einem Kinde, das mir so zu sagen aufgedrungen wurde, obschon es mir jetzt so theuer ist, als ob es mein eigenes wäre. Du weißt, daß ich nichts habe, um mich zu ernähren, als meinen Halbsold; von Ersparnissen ist daher keine Rede. Meine Gesundheit ist untergraben und mein Leben steht auf sehr schwanken Füßen. Schon letzten Winter meinte ich, das Bette nicht wieder verlassen zu können, und während ich so da lag, dachte ich natürlich an den hülflosen Zustand, in welchem ich dieses arme Geschöpf im Falle meines Ablebens zurücklassen müßte – in einer einsamen Hütte – ohne Geld – ohne Familie oder Freunde, an die sie sich wenden könnte – ja ohne einen Menschen, der sie mit ihrer unglücklichen Geschichte bekannt machte! Was hätte aus ihr werden müssen? Diese Betrachtungen bewogen mich, im Falle mein Leben gefristet würde und meine Gesundheit es zuließe, zu dir zu kommen, weil du der einzige Verwandte in der Welt bist, von dem ich etwas wußte, um dich von ihrem Dasein zu unterrichten und dir mit ihrer Geschichte die paar Kleidungsstücke anzuvertrauen, welche sie bei ihrer Rettung trug und die vielleicht zu einer Entdeckung ihrer Herkunft führen könnten. Die Lösung dieser Frage kömmt mir allerdings höchst schwierig und zweifelhaft vor, aber die Wege der Vorsehung sind geheimnißvoll, und ihre Rückkehr in die Arme ihrer Verwandten würde mir nicht wunderbarer erscheinen, als ihre Rettung in jener schrecklichen Nacht. Bruder, ich habe dich nie für mich selbst um Beistand angesprochen, obgleich ich wußte, daß du sehr bemittelt bist – und will es auch nicht thun; aber diesem lieben Kinde möchte ich jetzt das Wort reden. Bei meinem leidenden Zustande kann meine Erdenpilgerschaft nur noch von kurzer Dauer sein, und wenn du deinem Bruder ein ruhiges Sterbekissen bereiten willst, so versprich mir, dieser armen Waise deine Liebe angedeihen zu lassen, wenn ich nicht mehr bin!«

Edwards Stimme zitterte bei dem Schlusse seiner Rede, und auch der Rechtsgelehrte schien ergriffen zu sein. Nach dem Schweigen einer Minute brach John Forster in sein gewöhnliches »hum!« aus und fuhr dann fort:

»Eine sehr thörichte Geschichte, Bruder – in der That sehr thöricht. Als Nicholas und sein Sohn letzthin hier waren und mich um Beistand ansprachen, – nun ja das konnte ich mir gefallen lassen – sie gehörten in die Verwandtschaft; aber wahrhaftig – mir weltfremder Leute Kind zuzuschieben!«

»Nicht, so lange es dem Himmel gefällt, mein eigenes Leben zu schonen, Bruder.«

»So mögest du tausend Jahre leben, wie die Spanier sagen; indeß, wie du bemerkst, Bruder Edward, man kann das arme Ding nicht verhungern lassen, und wenn ich daher nach deinem Tode die Sorge für das Kind in der Ferne übernehmen soll, so kann ich dir nur sagen, daß dieser Umstand meinen Schmerz über deinen Verlust wesentlich erhöhen wird. Komm her, Kleine – wie heißt du?«

»Ambra, Sir.«

»Ambra? Wer Teufels gab dir denn diesen Narrennamen?«

»Ich, Bruder,« versetzte Edward, »und er däuchte mich sehr passend.«

»Hum! sehe in der That nicht ein, warum. Hättest du sie nicht Sukey oder mit einem andern Namen bezeichnen können, der für einen Christen paßt. Ambra! Ambra ist ein Harz! Ist's nicht so? Halt, laß sehen, was Johnson darüber sagt.«

Der Rechtsgelehrte ging nach einem Bücherständer, der in dem benachbarten Gemache stand, und kehrte mit einem Quartbande wieder zurück.

»So,« sagte er, sich niedersetzend. » Ag – Al – Am – Ambassadeur – Ambra! hum! Da ist's: ›eine gelbe, durchscheinende Substanz von gummiartiger oder bituminöser Beschaffenheit, aber harzigem Geschmacke und einem Geruche gleich dem des Terpentinöls – findet sich hauptsächlich im baltischen Meere, oder an der Küste von Preußen.‹ Hum! ›Einige halten die Ambra für Vogelthränen, Andere für die‹ – hum – ›eines Thieres. Einige meinen, sie sei der Schaum von dem See Cephesis in der Nähe des atlantischen Meers, Andere, ein geronnener Körper, der aus gewissen Quellen bricht, wo er, nach Art des Peches schwimmend gefunden wird.‹ Der Leser sieht, daß hier die gelbe Ambra oder der Bernstein gemeint ist. In der That, Bruder,« fuhr der Rechtsgelehrte fort, indem er seine Augen auf das kleine Mädchen heftete und das Buch schloß, »ich kann hier keine Analogie finden.«

»Sei ihr Pathe, mein theurer Bruder, und nenne sie dann bei einem beliebigen Namen.«

»Hum!«

»Bitte, Papa,« sagte Ambra, sich an Edward Forster wendend, »was bedeutet das Wort hum?«

»Hum!« wiederholte der Rechtsgelehrte, die kleine Ambra scharf in's Auge fassend.

»Es heißt ja oder nein, je nachdem es kommt,« versetzte Edward Forster lächelnd.

»Ich habe es früher von Niemand gehört, Papa. Ihr seid mir doch nicht böse, Sir?« fuhr Ambra, sich an John Forster wendend, fort.

»Nein, nicht böse, kleines Mädchen; aber ich bin zu beschäftigt, um mich mit dir zu unterhalten – oder überhaupt auch mit dir, Bruder Edward. Hast du mir noch etwas Weiteres zu sagen?«

»Nichts, mein theurer Bruder, vorausgesetzt nämlich, daß ich dein Versprechen habe.«

»Nun ja, du hast es; aber was ich dann mit ihr anfangen soll, ist nur Gott bekannt! Ich wollte, du hättest deine Zeit besser gewählt. Du hast übrigens auch von Kleidern gesprochen, durch die sich vielleicht ihre Verwandten auffinden ließen; schicke mir dieselben, denn es wird mir die größte Freude machen, das Mädchen, wenn es einmal in meinen Händen ist, sobald als möglich den Ihrigen wieder heimzugeben.«

»Hier sind sie, Bruder,« versetzte Edward, ein kleines Packet aus der Rocktasche ziehend, »'s ist besser, wenn du sie gleich in Verwahrung nimmst, und möge Gott dich dafür segnen, daß du meinem Herzen eine so schwere Last abgenommen hast!«

»Hum! dafür liegt sie auf meinen eigenen Schultern,« murmelte John, während er auf die eiserne Truhe zuging, um darin das Leinwandpäckchen aufzubewahren; dann kehrte er nach dem Tische zurück und fragte: »hast du mir noch etwas zu sagen, Bruder?«

»Ich möchte dich nur noch fragen, wo ich den Bruder Nicholas auffinden kann.«

»Kann hierüber keine Auskunft geben. Mein Neffe sagte mir, er wohne irgendwo am Fluß drunten, aber es ist ein langer Weg von hier bis nach dem Nore. Der Neffe ist ein hübscher Junge; ich schickte ihn nach Ostindien.«

»So thut es mir leid, daß ich nicht hoffen darf, ihn zu sehen. – Doch du bist beschäftigt, Bruder?«

»Ich habe dir's schon dreimal so deutlich als nur möglich bemerklich gemacht.«

»Ich will deine Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Wir kehren morgen früh wieder nach Hause zurück, und da ich nicht erwarten kann, dich je wieder zu sehen, so möge dich Gott segnen, mein theurer John! Lebe wohl – ich fürchte, daß es wohl das letztemal ist in diesem Leben – deßhalb lebe wohl für immer!«

Edward streckte die Hand nach seinem Bruder aus. Sie wurde mit beträchtlicher Rührung ergriffen.

»Lebe wohl, Bruder, lebe wohl – ich will mein Versprechen nicht vergessen.«

»Gott befohlen, Sir,« sagte Ambra, indem sie sich John Forster näherte.

»Gott befohlen, mein kleines Mädchen,« versetzte er, ihr angelegentlich in's Gesicht blickend.

Aber während er ihr schönes und ausdrucksvolles Antlitz musterte, schienen seine Gefühle gegen sie aufzuthauen; er entfernte seine Brille und küßte sie – »Gott befohlen!«

»O Papa!« rief Ambra, als sie zum Zimmer hinaus ging; »er hat mich geküßt!«

»Hum!« sagte John Forster, während sich die Thüre hinter den Abgehenden schloß.

Dann setzte er seine Brille wieder auf und fuhr fort, in seinen Akten zu lesen.


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