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Auf leisen Sohlen war die Zeit dahingeschritten. Es war Herbst geworden, Spätherbst. Die Nächte und Morgen waren sehr kalt, dichte Nebelschwaden brüteten über der Donau. Ununterbrochen pfiff der Ostwind und alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß ein sehr strenger Winter vor der Türe stand. Das Jahr 1928 ging zu Ende. Die Möglichkeit, daß sogar der Strom zufror, war vorhanden. Über zweitausend Kilometer waren noch zu bewältigen bis zum Meer. Da hieß es sich sputen, kein Tag durfte mehr verlorengehen, wenn ich noch bis Jahresende die Donaumündung erreichen wollte.
Meine Angelegenheiten waren alle in Ordnung gebracht und ich konnte den festgelegten Abreisetermin einhalten. Zeitig in der Frühe des Elften stellte sich tatsächlich August Barke, mein neuer Reisegefährte, mit seinem wenigen Gepäck ein. Ohne Trauer sahen wir, rasch stromab gleitend, die dämmerige Silhouette der Stadt im Grau des Novembertages versinken. Bald strebte von der linken Seite ein Höhenzug zur Donau heran – die Kleinen Karpaten.
Fernes Glockengeläute zitterte von irgendwoher über das weite, ebene Land. Gelbe, welke Blätter trieben lautlos mit dem Strom daher, einsam schienen die Ufer und unwirklich hörten wir unsere eigenen Stimmen. Es witterte wie ein Geheimnis um diese wundersame Fahrt in den Orient. Kilometer um Kilometer blieb zurück, die Landschaft änderte ihren Charakter – der erste Hauch einer fremden Welt lag über ihr. Mit fremden Mienen und Lauten grüßten auch die Fischer das deutsche Boot. Tschechisch erst, dann slowakisch und ungarisch. Zottige Fellmützen hatten die Männer auf, und die Frauen trugen hohe Schaftstiefel, bunte, faltige Röcke und grellfarbige Kopftücher. Kleine, niedrige, langgestreckte und mit Rohr gedeckte Gehöfte, Pferde – viele weidende Pferde auf endlosen Pußten in seltsamer Einsamkeit, manchmal eine klappernde Schiffmühle im Strom, ein keuchender Schleppzug, Tausende von Wildenten, die so eng zusammengeballt schwammen, daß man sie aus der Ferne für eine Insel hielt.
Oft brannte der Abendhimmel blutigrot, ein Zeichen, daß sehr bald Schnee zu erwarten war. Dann sank die Sonne mit erschütterndem Dreiklang der Farben über der wilden, verlassenen Stromlandschaft. Rot der Zenit, lila die Schatten der aufkommenden Nacht, flammendes Grüngold in den aufleuchtenden Büschen, Auen und Pußten. Schließlich stürzte sich die Nacht wie ein lauerndes Tier hernieder.
Hainburg – das Sevilla Österreichs, Preßburg, Komoran lagen bald hinter uns. Bei Gönyö wurde der schon majestätische Strom gewaltig breit und verlor zugleich bedeutend an Geschwindigkeit. Von hier ab konnten wir fast ständig segeln. In Szob war ungarische Grenzkontrolle? ich hatte zwar den Passierschein für das Boot noch nicht in der Tasche, aber im Postamt lag ein Brief für mich – er enthielt das Triptique. Der Deutsche Touringklub hatte getreulich an mich gedacht.
Nebel und kalter Regen waren die Begleiter auf der Weiterreise. Es war nicht mehr weit nach Budapest. Ein sehr seltsames Erlebnis hatten wir noch, ehe wir dort ankamen.
Im letzten Zwielicht des Tages trieben wir einmal dahin und schauten nach einem günstigen Platz aus, wo man ans Ufer gehen konnte. Eine Insel spaltete den Strom. Gleich am Beginn derselben ragte ein kleiner Steg ins Wasser herein, und wir beschlossen, hier das Boot festzumachen und die Nacht zu verbringen. Wir mußten in der kleinen Kajüte schlafen, denn nicht immer hatten wir Gelegenheit, in der Nähe des Ufers ein Wirtshaus zu finden. Während ich mich mit dem Zurichten des Nachtmahles befaßte, trieb sich Barke im Gestrüpp herum, um dürres Holz zum Feuer zu sammeln. Nach einer Weile kehrte er zurück – ohne Holz. »Lassen Sie nur das Kochen«, sagte er verheißungsvoll, »ich habe einen Bauernhof entdeckt, wir werden heute dort essen und schlafen.«
»Ja, haben Sie denn schon mit den Leuten gesprochen?« wollte ich wissen. Nein, das hatte er nicht, aber er beharrte eigensinnig auf seinem Vorschlag.
»Wenn nun kein Platz für uns da ist?« – »Dann werden wir eben im Stall schlafen. Im Stall ist es noch besser als im kalten Boot.«
Schließlich bewog er mich wirklich, mitzugehen. Wir schlössen die Kajüte ab und suchten den Hof auf. Der Bauer, der etwas deutsch sprach, bewirtete uns in der Tat sehr freigebig und richtete uns dann ein Lager im Stall zurecht, denn Betten hatte er keine übrig.
Der Stall war nicht groß und roch auch nicht sehr einladend, aber das hat auf einer Weltreise nicht viel zu sagen. Nur ein einzelnes Pferd stand drinnen. Zwischen dem Tier und dem für unser Lager ausersehenen Platz erhob sich eine etwa einen Meter hohe Bretterwand. Der Bauer warf reichlich frisches Stroh auf, breitete Decken darüber, wünschte uns eine gute Nacht. Wir zogen uns aus. Ich legte meine Kleider auf eine Kiste, Barke hängte die seinen an die Bretterwand. Dann blies er die Ölfunzel aus, und wir versuchten zu schlafen. Es war beinahe gemütlich. Von Zeit zu Zeit stampfte das Pferd und schnaubte – chrrr – brrr – chrrr – brrr, peitschte mit seinem langen Schweif gegen die Bretter oder schnupperte über die Wand hinweg in Barkes Gesicht, der ärgerlich fluchte. Einmal fragte er mich: »Sind Pferde eigentlich Wiederkäuer? Ich höre das Luder hier andauernd kauen und kann kein Auge dabei schließen.«
Als ich eben im Begriffe war, einzuschlafen, kriegte ich einen Stoß in die Seite. »Was ist denn los?« fragte ich aufgebracht.
»Hallo«, flüsterte Barke, »hören Sie – fressen Pferde eigentlich Kleider? Ich habe doch meine Sachen da oben hingehängt ...«
»Lassen Sie mich bitte schlafen und sparen Sie sich Ihren Unsinn für morgen«, brummte ich ärgerlich. »Sie haben schon ein Pferd besessen und müßten es doch wissen.«
Es mochte Mitternacht vorüber sein, da wurde ich neuerdings geweckt. »Was ist denn nun wieder los?«
»Ist Ihnen nicht auch kalt? Ich will doch meine Jacke nehmen und mich zudecken«, sagte mein Nachbar.
»So tun Sie doch, was Sie wollen«, knurrte ich voller Grimm, »aber mich lassen Sie jetzt besser in Ruhe.«
Er erhob sich und tapste in der Finsternis die Bretterwand ab. Dann Stille ... Stille ... nur das Pferd kaute. Nach einer Weile kam eine beklommene Stimme: »Haben Sie etwa meine Kleider weggenommen?«
»Nein«, gab ich mit ruhigem Gewissen zur Antwort
»Aber sie sind doch fort! ...«
Eine böse Ahnung begann in mir aufzudämmern und machte mich vollends munter. Dem Reitersmann schien es ebenso zu ergehen, denn hörbar begannen seine Zähne zu klappern. Er versuchte Licht zu machen, endlich leuchtete der Lampendocht. Nun sah er nach, ob etwa das Pferd auf den Kleidern stand. Da – ein Aufschrei – er riß etwas aus dem Stroh in die Höhe, schwenkte es vor dem Licht hin und her.
»Meine Hose«, ächzte er, »vielmehr die Überreste davon.« – Donnerwetter, die sah aber aus! Eine richtige Tragödie hatte sich da abgespielt, bis über die Knie waren beide Beine abgenagt.
»Wo ist denn die Jacke? O Gott – auch fort – hier – da – um's Himmels willen – wie sieht denn die aus ...?«
Die Ärmel sind nur noch Fetzen, der Rücken fehlt. – Das Hemd? – Verschwunden – vollkommen verschwunden! Glatt aufgefressen.
Da folgte ein wütender Fluch. »Wo ist mein Hut? Der Hut ist fort ... ich will meinen Hut wiederhaben! Ich schlachte die Bestie ..., mein Hut ..., mein Hut ...«
Nun mußte ich doch laut auflachen: »Schlachten – wegen Ihrem Hut? Mensch, Barke, was jammern Sie denn so um den Deckel, da sind doch die Hosen viel wichtiger ...«
Ich konnte nicht verstehen, wie man so an seinem Hut hängen kann. Aber da gestand mir der Unselige ein, daß er im Futter seinen eisernen Geldbestand aufbewahrt hatte – eine deutsche Hundertmarknote!
Allerdings – der Hut war Barke nicht billig gekommen, Nun war er gefressen. Was ich in dem Fall tun konnte, war, daß ich lachte, lachte und wieder lachte. Die Rippen taten mir weh, es ging nicht anders. Das Bild, das sich mir bot, war auch zu komisch, denn der verzweifelte Reiter in Unterhosen, mit wirrem Haar, verstörtem Gesichtsausdruck und erbärmlichen Kleiderresten am Arm war doch zu merkwürdig. Verständnislos stand das Pferd dabei, glotzte und kaute – als ginge es die ganze Komödie nichts an.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Am Morgen kam der Bauer, erfuhr das Unheil und – lachte. Barke brauchte diesmal nicht viel Zeit zum Anziehen aufzuwenden, jämmerlich saß er auf einer Kiste und wartete, bis ich ihm einige Sachen von mir aus dem Boot brachte.
In dieser Nacht hatte es zum ersten Male geschneit. Das Boot war mit einer fingerdicken weißen Decke überzogen – alles war weiß. Große Flocken schwebten den ganzen Tag über nieder. Das Kielwasser gurgelte, neun Kilometer fuhren wir in der Stunde. Meine Gedanken eilten sorgenvoll weit voraus zum fernen Meer. Täglich konnte das Eis kommen. Ob wir es noch schafften? ...
Eine Woche später hatten wir bereits Ungarn hinter uns. Wir ankerten vor der Grenzstation Mohacs. Einst reichte Ungarn noch zweihundertfünfzig Kilometer weiter stromab, aber seit dem Weltkriege war es klein – sehr klein geworden.
Der kleine freundliche Zollbeamte, der mir vor der Abreise die Papiere aushändigte, verriet mir gleichzeitig eine schlechte Neuigkeit. Die Jugoslawen verlangten eine Zollkaution für Sportfahrzeuge auf der Donau, die beim Austritt aus dem Lande allerdings wieder vergütet wurde. Der Mann konnte mir auch beiläufig sagen, wie hoch die Serben wohl mein Boot einschätzen würden und wieviel tausend Dinar ich bereit halten müsse. Mir schwindelte beim Anhören der märchenhaften Summe. Das war ja mehr, als die ganze »Bayern« wert war! Woher das viele Geld nehmen?
Der Ungar verstand meine Sorgen und gab mir den guten Rat, seinen jugoslawischen Kollegen ein Schnippchen zu schlagen und auf gut Glück zu versuchen, schwarz die Grenze zu passieren. Was blieb mir schließlich anderes übrig?
Es klappte auch anstandslos. Keiner der am Ufer aufgestellten Wachtposten bemerkte uns, als wir im Nebel lautlos an ihnen vorbeitrieben. Einmal im Lande kümmerte sich niemand mehr um uns. Wir fuhren durch die Batschka – eines der deutschen Siedlungsgebiete Jugoslawiens. Überall klang wieder die deutsche Muttersprache – tausend Kilometer von der deutschen Grenze entfernt! Die Syrmischen Hügel, die Fruschka Gora tauchten auf, die aus Osttirol kommende Drau, die nun Drava hieß, mündete rechts ein; dann kam links die Theiß an, das vielgewundene Kind der Pußta. Unzählige Flüsse und Bäche hatten sich nun in der Donau schon vereint, ihr Wasser war nicht mehr schön, es war trübe, grau und schlammig. Aber wir kochten damit und tranken es auch, wie es auf der Donau allgemein Brauch ist. Es behaupteten viele Leute, daß es überhaupt kein besseres Trinkwasser gäbe. Darüber ließe sich natürlich streiten. Jedenfalls hatte ich mir eine Vorrichtung ausgedacht, mit der wir das Wasser vom Grund heraufholen konnten, wo es weniger mit den verschiedensten Bestandteilen aus halb Europa versetzt war, als an der Oberfläche.
Einen Monat waren wir nun unterwegs, denn in Preßburg und Budapest hatten wir uns ziemlich lange aufgehalten. Trotzdem gedachte ich auch in Semlin, dieser Belgrad gegenüberliegenden deutschen Stadt, einige Tage Rast einzuschalten. Die rauhe Witterung war wieder etwas milder geworden. Am zweiten Tage erschien ich in Belgrad auf der Bayerischen Lloydagentur, und dort teilte man mir mit, daß telegraphisch Eis vom Oberlauf gemeldet sei. Eine schöne Geschichte das! Achthundert Kilometer waren es noch bis Galatz, dabei schrumpfte die Stromgeschwindigkeit auf drei bis einen Kilometer, und der Wind kam zumeist aus Osten – also entgegen. Was tun? Das wurde ein richtiges Rennen mit dem Eise: denn erreichten uns die Schollen auf der Strecke, so war das Boot verloren. Das Treibeis umklammert mit stählerner Kraft jedes Schiff und knüllt es wie Papier zusammen.
Kurz entschlossen machten wir noch am selben Abend das Boot fahrbereit, sehr zum Mißvergnügen Barkes, der nicht gerne seine Nachtruhe opferte. Dichte Dunkelheit hüllte alles ein, scharf heulte der Wind von Osten her. Koschowa heißt dieser Wind, die Schiffer fürchten den Gesellen, mehr als ein Schiff hat er schon von seinen Ankern losgerissen und vom Strom irgendwo zerschellen lassen. Die Donau ist bei Belgrad schon über einen Kilometer breit und wirft im Sturm oft meterhohe Wellen. Besonders gefährlich ist es in der Gegend von Basiasch. Dort wird der Strom noch breiter und die Ausläufer des Banater Gebirges treten an seine Ufer. Basiasch liegt etwa achtzig Kilometer östlich von Belgrad.
Hoch am Mast schwankte klappernd eine Laterne im Wind. Eben wollten wir loslegen, da kam der Direktor der Agentur in eigener Person angelaufen mit einer Nachricht, die einen schwachen Hoffnungsschimmer in die ungewisse Zukunft warf. Vor wenigen Stunden hatte ein bayerisches Motortankschiff Belgrad verlassen, Bestimmungsort Oltenitza in der Dobrudscha. Der Führer war Kapitän Dauser. Ich kannte ihn von Regensburg her, und im Wiener Prater tranken wir manches Glas Bier an einem Tisch. Wenn der gewußt hätte daß ich in Belgrad war, hätte er mich in Anbetracht der Umstände sicher bis Oltenitza in Schlepp genommen. Aber noch gab es eine Möglichkeit, ihn einzuholen. Der Agent bezeichnete mir eine Stelle in der Gegend von Basiasch, wo das Tankschiff einige Zeit vor Anker gehen wollte. Wenn wir uns also beeilten, konnten wir es noch in derselben Nacht erreichen.
Beeilen? – Glück muß der Mensch haben, sonst nützt alles nichts. Die »Bayern« schaukelte wie ein Kutschpferd auf den Wellen. Am Bug kniete einer Galionsfigur gleich, vom fahlen Schein der Lampe gespenstisch beleuchtet, Barke. Er hatte sich dort festgebunden, um nicht über Bord zu fallen, und ich hatte ihm eingeschärft, ja nicht einzunicken, sondern auf das Wasser zu achten. Seine Hände waren mit einem Bootshaken bewehrt, mit dem er bei plötzlich auftretenden Hindernissen, wie treibenden Baumstämmen, Sandbänken und dergleichen, die Gewalt eines Zusammenstoßes abschwächen sollte. Die Sicht war höchstens zehn Meter. Zeitweise tauchte der Steven bis zum Klüver ein, mit gerefftem Großsegel durchschnitt das Boot in scharfer Fahrt den Strom. Rechts blieb die dunkle Fläche der Zigeunerinsel liegen, die Savemündung wurde passiert, eine Strecke noch leuchtete uns das Lichtermeer über der Stadt auf unserer gefährlichen Fahrt. Stündlich arbeiteten wir uns zehn Kilometer vorwärts, immer tiefer in den Balkan hinein. Ohne Zwischenfälle verstrich die Nacht. Im Osten begann es fahl zu werden, im Morgengrauen kam Basiasch in Sicht. Irgendwo mußte nun das Tankschiff liegen. Mein Begleiter, den die Kälte arg mitgenommen hatte, fabelte schon von einer behaglich durchwärmten Kajüte auf dem Schiff und heißem Bohnenkaffee. Mit dem Feldstecher suchte ich alles ab. Es schien, als befänden wir uns auf einem weiten See, so breit war hier der Strom. Ein einsamer Fischer rief uns an und hob die Hand zum Gruß. Wir erkundigten uns nach dem deutschen Schiff. Er wies uns weiter stromab.
Plötzlich schrie Barke auf: »Das Schiff – dort ...!« –
Wirklich – einige Kilometer voraus lag es, neben einem Schlepp verankert. Noch zweitausend Meter und wir kriegten eine Schleppleine für das Boot, eine warme Kajüte und heißen Bohnenkaffee für Barke.
Schwaches polterndes Geräusch drang gedämpft an unsere Ohren, dünne schwarze Rauchwolken schossen aus dem Auspuffschornstein des Motorschiffes. Unwillkürlich griffen wir zu den Riemen, um die Segelgeschwindigkeit zu beschleunigen. Zum Teufel aber – kamen wir denn nicht näher? – Das Schiff mit dem Schlepp stand plötzlich mitten im Strom, wurde sogar immer kleiner – tatsächlich – es fuhr soeben ab!
Wir waren um Minuten zu spät gekommen.