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Heimkehr

Der »Helouan« verließ den Hafen von Piräus. An zahllosen Schiffen aller Flaggen und Größen vorbei glitt er, an den Docks, Werkstätten, Werften und Verladeanlagen. Die Hafenmole wurde passiert, gewaltig dehnte sich dahinter das Panorama der Doppelstadt Piräus und Athen mit den hell schimmernden Marmorruinen der Akropolis über dem Häusermeer.

Ich lehnte an der Heckreling und schaute zum letztenmal das versinkende bunte Bild der orientalischen Welt, die ja so lange die meine war. Heftige Böen stießen vom Festland, von Nordosten her auf die See nieder, warfen grüngischtendes Wasser über das Verdeck. Es war kühl, kalt – Februar. Außer mir befand sich niemand mehr an Deck.

Die Männer auf der Kommandobrücke mochten sich wundern über den einsamen Passagier, der seinen Blick unentwegt auf das Land hinüber gerichtet hielt.

Dort lag der Lipasmaton, daneben die mächtigen, silbergrauen Shelltanks, der Ölhafen – Erinnerungen an den großen Brand stiegen in mir auf. Werft an Werft reihte sich am Strand. In einer von ihnen stand meine »Bayern«, ausgedient, morsch und abgetakelt.

Fast vier Jahre lang hatte sie mir treue Dienste geleistet, hatte sie mit mir trotzig durchgehalten. Der so oft abfällig beurteilte »Holzpantoffel« war in Wirklichkeit doch ein recht tapferes Boot gewesen. Nach gründlicher Überholung hätte ich mich ihm unbedenklich nochmals anvertraut, um, wenn es hätte sein müssen, sogar über den Atlantik zu segeln! Was würde wohl aus dem Schifflein werden? Von Port Said aus hatte es mich ein zweites Mal über das Mittelmeer getragen und in einer von heftigen Winterstürmen erschwerten Fahrt durch den Archipel. Im Hafen von Piräus sank dann zum allerletzenmal auf dieser gewaltigen Reise der Anker auf den Grund.

Weiß gedeckte Tische, gedämpfte Musik, geräuschlose, sehr aufmerksame Bedienung, am Boden schwere Teppiche aus Persien – der »Helouan« war ein Luxusschiff des Lloyd Triestino, aber auch eines der teuersten. Es gab gerade keine andere Fahrgelegenheit nach Brindisi, und so hatte ich, meinen Grundsätzen untreu werdend, tief in den Beutel gegriffen und mir einen Platz auf diesem Dampfer gekauft.

Eine Stunde erst war ich an Bord. Fremd, unbehaglich und unsinnig bequem erschien mir die ganze Umgebung, und doch hatte ich die Vorstellung, daß ich in meinem früheren Leben auch Bequemlichkeit gekannt haben mußte.

Ein schmaler, tief eingeschnittener Kanal sprengte den Isthmus von Korinth. Das Schiff lavierte sich vorsichtig zwischen steil ansteigenden Felsenmauern hindurch. Es hätte wohl kaum zwei Meter breiter sein dürfen.

Der Golf von Patras nahm uns auf.

Meine Gedanken überflogen nochmals die ganze Reise mit ihren zahllosen ernsten und frohen Erlebnissen. Es erschien mir selbst kaum glaublich, daß mein Alter erst sechsundzwanzig Jahre betrafen sollte – zu groß war schließlich die Fülle des Lebens auf dieser vierjährigen Fahrt.

Mich fröstelte. Ich schlug den Mantelkragen hoch und ging dann in den Salon. Griechen, Italiener, Türken, Franzosen, Engländer – viele Bügelfalten, Parfüme, Eleganz. Auf den Tischen standen in hohen, schlanken Vasen Blumen aus Palästina, Zeitungen und Zeitschriften lagen in den Regalen, man versank in weich gepolsterten Sesseln und Bänken – man wurde verwöhnt hier.

Draußen vor den Fenstern legte sich schon die Dämmerung über die Gebirge zu beiden Seiten des Golfes, eine graue Dämmerung. Am Himmel jagten Wolken, kalt und feindselig grün schäumte das Meer. Die Lichter von Patras sprühten durch die Finsternis und schwammen an Backbord vorüber, die Adria nahm den »Helouan« auf ihren Rücken, der Koloß begann zu stampfen und sich zu wiegen – Schirokko!

Sieben Uhr. Stewards in weißen Jacken eilten durch die Gänge, mit einem Gong klappernd – Zeit zum Abendessen. Man ging zu Tisch.

Ich dachte daran, daß jetzt, um dieselbe Zeit etwa, in einem einsamen indischen Dorf ein alter Missionar sein Abendbrot zubereitete, daß der Kapitän Hussein Emin Bozuk bei etwas Halwa, ein paar Oliven und einem Stück Brot in Gesellschaft seiner Leute auf dem Verdeck seiner Dhau hockte, und daß der Pflanzer Robertson müde und abgespannt von der Arbeit des Tages in seinem Streckstuhl saß, gequält von Milliarden Moskitos, und von dem fernen Europa träumte.

Europa – Europa ...

Ich fuhr jetzt Europa zu!

Ich!

 

Feiner Regen rieselte ohne Unterlaß. Aus dem Düster des neuen Tages löste sich eine Küste – Italien, eine Stadt – Brindisi. Pflaster und Hauswände glänzten verwaschen. Am Kai standen wartend frierende Menschen, in ihre Mäntel gehüllt, die Köpfe zwischen die Schultern geduckt.

Das also war Süditalien!

Mit meinem Köfferchen in der Hand ging ich von Bord und kam mir trostlos verlassen vor. Was sollte ich nun tun? Ich brauchte mich um keinen Ankerplatz mehr zu kümmern, um keine Kapitanie, um keine Papiere – ich hatte ja nichts mehr, dem meine Sorge gelten konnte, ich hatte kein Boot mehr. Es ging der Heimat zu! Nach vier langen Jahren. Warum konnte ich mich darüber nicht freuen und fröhlich sein? Hatte ich nicht mit tausend Sehnsüchten diese Stunde herbeigewünscht?

Und nun ...?

Am liebsten hätte ich wieder kehrtgemacht – irgendwohin – nur weit – sehr weit fort ...

Aus Versehen geriet ich in den Bummelzug nach Neapel, über das Gebirge ging die Fahrt, die ganze Nacht dauerte sie. Furchtbar für mich eine solche Nacht im Eisenbahnzug! Wie herrlich war es doch dagegen in der »Bayern« gewesen, auf den harten Planken zu schlafen!

Ich fror entsetzlich in meinem leichten Tropenzeug. Zwei Tage verbrachte ich in »la bella Napoli«. Wie weich war doch das Hotelbett, viel zu weich. Immer hatte ich mich auf ein weiches Bett gefreut, und jetzt – da ich endlich eines hatte, gelang es mir nicht, darin zu schlafen. Mein Rücken verlangte nach einer harten Unterlage. So übersiedelte ich von der Matratze auf den blanken Fußboden und verbrachte dort die Nacht. Als ich in der Frühe aufstand, war das Wasser im Krug gefroren. Warmer Süden ...!

Bei einem Besuch in Pompeji machte ich die Bekanntschaft eines amerikanischen Weltreisenden. Er hatte eine Schiffskarte nach Jokohama in der Tasche. Nur hundert Dollar kostete die Passage mit einem japanischen Dampfer. Beinahe wäre ich der Versuchung erlegen, mit ihm zu fahren. Aber was tat ich schließlich ausgerechnet in Jokohama?

Rom. – Grand Hotel Quirinale. –

Was für eine Welt – diese zivilisierte!

Gleichgültig schob man mir an der Portierloge den Meldeblock hin. Was war hier eigentlich der Mensch? Eine Nummer – nebensächlich, ob er eine Persönlichkeit war oder nicht, ob er Mut und Kraft hatte oder nicht, er konnte vornehm denken oder einen schmutzigen Charakter besitzen – die Hauptsache war, man sah Lire bei ihm, Lire – Lire – Lire ... Geld ...

Alles andere wog nichts.

»Dreißig Lire«, sagte der Portier, »kostet das Zimmer – Telephon, Bad – Nummer einhundertvierundvierzig, bitte, dritter Stock.«

Und weil ich keines genommen hatte zu fünfundvierzig Lire, weil ich überhaupt mich erst nach den Preisen erkundigt hatte, so sagte er dies nicht mit allzu großer Hochachtung. Auch war mein Köfferchen kein »Gepäck«.

Der Lift flitzte drei Stockwerke hoch. Tempo – Tempo ...

Jeder der dienstbaren Geister in diesem Hause hielt die Hand auf, und ganz nach dem Wert dessen, was man hineinlegte, fielen Lächeln und Verbeugung aus. Selbst die Hochachtung konnte man sich also mit Geld erwerben. Der größte Idiot wurde umschmeichelt und ehrfürchtig hofiert, wenn er nur über eine pralle Brieftasche verfügte.

Mit diesen Betrachtungen lehnte ich am Fenster meines Zimmers und sah eine unfreundliche Mauer gegenüber in die Höhe streben. Im Bogen spuckte ich in den Hof hinab – pfui Teufel ...

In mir tobte und kochte es vor Verachtung. Wie herrlich war es in der Wildnis gewesen! Nur der Starke konnte dort bestehen; die Weichen, die Schlappen, mitsamt ihrem Geld, wären erbarmungslos verkommen. Niemand hätte sich vor ihnen verbeugt.

Es schrie in mir nach dieser Wildnis, nach den harten Planken meines Bootes, nach dem gelben Sand der Wüsten, der Gluthitze Indiens und dem weiten – weiten – grenzenlosen Meer ...

In der Gegend des Hauptbahnhofes vor einem Zeitungsladen stehend bemerkte ich einen Mann, der in mir den Eindruck erweckte, daß ich ihn kennen mußte.

Zehn – zwölf Jahre tastete ich zurück – der Film der Erinnerung lief ab – ein graues Schulgebäude, die Kreisoberschule III in München erschien, die Lehrer darin – Lehrer, die es zum Teil mit seltenem Unverstand meisterhaft verstanden hatten, die Schüler nicht zu verstehen. Mein böser Geist, der Mathematikprofessor, lebte in seiner ganzen körperlichen und geistigen Kleinheit auf. Ich sah das Klassenbuch vor mir, das bald auf jeder fünften Seite eine Strafeintragung über mich aufweisen konnte. Und ich sah auch den Jungen, der einmal in der Bank rechts neben mir saß und, zum Mann herangewachsen, in diesem Augenblick vor dem Zeitungsladen stand.

Wir begrüßten uns.

Was mich nach Rom führte?

Nichts Besonderes. Ich hätte von Brindisi ebensogut nach Venedig reisen können. Ich war eben da.

Und ihn?

Er war eben auch da. In Kolumbien wäre er gewesen, berichtete er, wo er beim Bau eines elektrischen Werkes durch eine deutsche Firma als Ingenieur eingesetzt gewesen wäre. Nun hätte er sich eine Handvoll Geld erübrigt, und ehe er nach Deutschland zurückkehre, möchte er als Vergnügungsreisender das eine oder andere Land besuchen.

Auf alle Fälle – wir unterhielten uns ganz gut. Ich kam aber bald drauf, daß er nie in Kolumbien war, sondern geradewegs von der französischen Fremdenlegion kam, in die er sich vor fünf Jahren wegen einiger Dummheiten geflüchtet hatte. Merkwürdigerweise verfügte er über nicht wenig Geld.

Sieben Tage blieben wir in Rom. Eine volle Woche. In dieser Woche regnete es nur ein einziges Mal. Nämlich ohne Aufhören vom ersten bis zum siebenten Tag. Wir kreuzten durch Kaffeehäuser und Kabaretts, bewunderten die antiken Stätten, stiegen hinunter zu den Gräbern der römischen Christen eines vergangenen Jahrtausends in den Katakomben. Wir schritten staunend über die Fliesen der gigantischen Peterskirche zwischen Gold, Diamanten und Alabaster.

Mein Schulkamerad war inzwischen in mein Hotel gezogen, und wir hatten ein gemeinsames Zimmer gemietet. Eines Abends gingen wir getrennt aus. Gegen Mitternacht kam ich zurück. In der Halle des Hotels saß in einen Klubsessel versunken um diese Zeit nur ein einzelner Herr, von dem ich den Eindruck hatte, daß ihn die Umgebung etwas unsicher machte. Groß und blank gewichst mit runden Kappen standen seine zwei Schuhe streng nebeneinander auf dem Smyrna. Eben als ich an dem Portier vorbei wollte, machte dieser ein Zeichen zu den blank gewichsten Schuhen hin, worauf sich der Mann erhob und auf mich zukam. Noch während er grüßte, faßte er mit Daumen und Zeigefinger an seinen linken Rockaufschlag und klappte ihn etwas um. Ich wußte Bescheid. Was hatte ich ausgefressen, daß sich die Polizei für mich interessierte?

»Sind Sie Herr N.?« fragte mich der Kriminalbeamte französisch.

Erleichtert sagte ich: »Nein«.

»Dann sind Sie sein Freund?«

»Ja.«

»Wann kommt Herr N. heim?«

»Keine Ahnung«, sagte ich wahrheitsgemäß, obwohl ich nach der Tür spähte, wo er jeden Augenblick auftauchen konnte. »Sie werden verstehen«, fuhr ich fort, »er ist mit einer Dame ausgegangen, wohl in die Oper. Vielleicht kommen Sie morgen wieder.«

Damit machte ich kehrt und fuhr zu meinem Zimmer hinauf. Was mochte mit dem Luder los sein? Woher war sein vieles Geld?

Nicht viel später stellte er sich vergnügt pfeifend ein. Etwas angestochen schien er auch. »Morgen fahre ich mit meiner Freundin nach Napoli«, klärte er mich auf.

»Wenn sie dich nicht vorher ins Loch stecken«, warf ich zweifelnd ein.

»Mich? – Wieso?«

Der Beamte war also tatsächlich weggegangen. Ich klärte ihn nun über mein Erlebnis auf und konnte beobachten, wie er immer kleiner wurde, bis nur noch ein Häuflein Elend übrigblieb.

»Jetzt kann ich gleich wieder zur Fremdenlegion gehen«, jammerte er. Dann erzählte er, daß er nur vom Schwindel gelebt hätte, gut gelebt hätte, eine völlig gefahrlose Sache. In der Tat, was er mir da erklärte, war schon verblüffend raffiniert. Aber der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht. Diesmal war es eben schief gegangen. Am anderen Morgen holten sie ihn wirklich ab, und ich hörte nichts mehr von ihm. Der einzige Dienst, den ich ihm noch leisten konnte, war, daß ich zu seiner Freundin ging und ihr mitteilte, daß er durch eine Depesche dringend abgerufen worden sei.

Mich hatte die ganze Sache ein bißchen aufgeregt, ich fühlte bereits wieder die ersten Anzeichen der Malaria. Das Klima war mir auch viel zu rauh.

Auf an die Riviera! – Erfolg: Ein Wintermantel wurde angeschafft.

Mailand. – Schnee fiel vom Himmel, Schnee in unvorstellbaren Massen. Ich fror. – Wenn ich schon frieren sollte, dann gleich in der Heimat. Wieder ging's zum Bahnhof. Ich nahm zwei Hundertlirescheine aus der Brieftasche, legte sie auf den Schaltertisch und verlangte: »Secondo, Innsbruck.«

Die letzten Kilometer also von vielen, vielen tausend!

Räder rollten, Landschaften flogen vorbei.

Verona hieß es einmal, dann Trento, dann Bolzano – und das war unser ehrliches deutsches Bozen. Im hellen Sonnenglanz türmten sich tiefverschneite Berge und Gletscher auf, die Bastionen und Zinnen von König Laurins Rosengarten griffen kühn in den Himmel.

Südtirol entbot mir den ersten Willkommgruß der deutschen Heimat!

Brenner. – Langsam fuhr der Zug über die Grenze nach Österreich – nach Tirol – nach Deutschland!

Ein kurzer Halt – Brennersee.

Ein Mann betrat das Abteil, ein Zollbeamter. Mit einer kleinen Verbeugung legte er flott die rechte Hand an den Mützenschirm und sagte – nicht: »Buon giorno!«, nicht »Morning, Sir!« oder »Sabach hair alsun!«, sondern schlicht und deutsch: »Ich habe die Ehre, den Reisepaß, bitte!«

Lange blätterte er in dem verknitterten, verwaschenen, verklebten Heftchen, schaute sich sachverständig die Stempel, die Halbmonde, Sterne, Kronen und sonstigen Zeichen genau an. Weniger aus Pflichtgefühl, wie mir scheinen wollte, als aus persönlichem Interesse. Dann betrachtete er noch die Photographie aus dem Jahre 1927, verglich mich eingehend mit ihr und kam zu dem Entschluß, daß der hagere, schwarz verbrannte Mensch vor ihm doch der in dem Paß Beschriebene war.

»San Sie leicht an Wöltreisender?« fragte er respektvoll.

Mit einer kleinen Verbeugung entfernte er sich wieder, nochmals freundlich grüßend. Nun brauste der Zug los, stürzte sich in die finstere Sillschlucht hinab, Schienengewirr – Straßenbahngebimmel – Häusermeer – im Norden das gewaltige Panorama des Karwendelgebirges – Innsbruck!

Einem Träumenden gleich bewegte ich mich durch die Straßen. In den letzten Stunden hatte sich doch zuviel verändert. Die Weltreise war zu Ende.

Überall deutsche Aufschriften, deutsche Worte klangen, man brauchte keine fremde Sprache mehr zu leihen, um sich zu verständigen. Alles war noch wie einst in dieser ewig heimeligen Stadt. War ich überhaupt fort gewesen? Da war noch das Café »Maria Theresia«, ich setzte mich hinein. Nach einer Weile kam einer an meinem Tisch vorüber, verhielt den Schritt, sah mich prüfend an und fragte: »Sind Sie ... ja, bist du ...?«

Jawohl, ich war ...

»Wo kommst du denn her?«

»Geradeswegs von Indien.«

»Und im Kaffeehaus trifft man sich wieder ...«

Der Freund schleppte mich in sein Haus; andere, die mich kannten, wurden geholt. Das Staunen nahm kein Ende und alle waren sich einig in der Frage, ob ich nun viel Geld verdient hätte mit dieser Fahrt?

Geld verdient, sehr viel Geld verdient – nein, das hatte ich allerdings nicht. Daran hatte ich eigentlich gar nie gedacht. Deswegen war ich nicht ausgefahren.

Mir genügte es, mit Stolz sagen zu können, daß ich in diesen vier harten Jahren voll Kampf niemals vor dem Leben gebebt hatte, was auch alles zu überwinden war.

Dieses Bewußtsein war mein Lohn – weit mehr wert als klingendes, lumpiges Geld.

Erzählen sollte ich dann. Von meinen Erlebnissen.

Was hatte ich schon erlebt? – Ich war von Ingolstadt mit dem Boot abgefahren und in Indien gelandet. Einige Zwischenfälle, Schwierigkeiten, ein paar Abenteuer, Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Moskitos, Malaria, Stürme auf der See und der ewige Kampf um das Morgen wegen des leidigen Geldmangels. Besondere Sachen aber waren mir nicht begegnet.

Wer konnte dasselbe von sich behaupten?

Man mochte aber diesen, meinen Standpunkt nicht verstehen. Und ich wollte den der anderen nicht verstehen.

Allgemeines Kopfschütteln.

Ich merkte – ich war sehr fremd geworden in meiner Heimat. Ich paßte gar nicht mehr in sie hinein. Irgendwo wünschte ich mich in dieser Stunde hin, nur zehntausend Kilometer entfernt. Mit einem Wort gesagt: Ich war todunglücklich.

Am späten Abend noch ging ich ruhelos durch die Straßen und stieg schließlich zum Iselberg hinauf. Schweigend lag die Stadt unter mir, vom Mondlicht überflutet schimmerten die Berge rundum silbern. Das Rauschen des Inns bebte leise durch die Luft.

Es war schön, hier oben der Stimme der Nacht zu lauschen und den Frieden der Natur zu genießen. Wieder schweiften meine Gedanken zurück – zu dem, was vergangen war ...

Diese Stille und dieser Friede waren mir vertrauter als das tausendfältige Gelärme und Gejage der Stadtmenschen, die in den ausgetretenen Bahnen der Karriere und des Geldverdienens dahinhetzten, blindlings an ihrem Leben vorbei, um schließlich am Ziel mit allem Errafften erschöpft zusammenzusinken – vorausgesetzt, daß sie dieses Ziel überhaupt jemals erreichten.

Von solchen Gedanken bewegt, saß ich lange auf einer Bank und schaffte Ordnung in mir. Es war nicht leicht, aber es mußte sein.

Was blieb mir zu tun übrig?

Sollte ich mich jetzt ebenfalls in den wirbelnden Strom stürzen, im Gefolge der anderen wettrennen und mitlärmen?

Nein – ich wollte meinen Weg gehen, Schritt für Schritt, mit wachen Sinnen, um nichts im Leben zu versäumen. Ich hatte eine starke Stütze für meinen Weg – die Erkenntnisse, die ich aus der vierjährigen Schmiede zurückgebracht hatte.

Ich begriff, daß es falsch war, sich von der Gesellschaft abzusondern, nur weil man mit ihrem Gehaben uneins war. Man mußte sich unter sie mengen und ihr Gedränge hemmen. Schließlich waren die Menschen um mich ja mein Volk, zu dem ich gehörte, dem ich ein Großteil jener Achtung verdanken mußte, die man mir draußen entgegengebracht hatte. Da also sah ich eine Pflicht erwachsen, hier hatte ich einen Platz einzunehmen, und wenn es der bescheidenste war. Dieser Boden, auf dem ich stand, diese Berge um mich, die gehörten uns – uns – vielen Millionen, von denen ich einer war. Kein Fremder konnte uns hier etwas befehlen oder verweigern, das war unser Land – mein Land!

Wie durch ein Fenster gesehen erschien mir jetzt plötzlich die weite, abenteuerliche Welt, über die Sehnsucht nach der Ferne schlug stürmisch etwas Neues zusammen – das beglückende Gefühl, wieder daheim zu sein ...

In Deutschland!

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