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In der Agentur des Lloyd Triestino erkundigte ich mich nach der Passagegebühr bis Brindisi. Eine Möglichkeit mit dem Lloyd wäre allerdings nur ab Bombay gewesen, und ich hätte mich mit der Bahn oder einem Küstendampfer dorthin begeben müssen.
Lange war ich auf den verschiedenen Meeren gesegelt, verstand auch allerhand von der Seefahrt, aber um Fahrpreise hatte ich mich noch nie gekümmert. Ungefähr hundert Mark schätzte ich in meiner Harmlosigkeit. Aber der Agent forderte für den billigsten Platz – Deckplatz nebenbei, mit Schlafen im Liegestuhl, ohne Verpflegung, Waschen an der Pumpe – von Bombay bis Brindisi eine geradezu märchenhafte Summe, nämlich sechzehn englische Pfund. Dabei sollte das noch ein billiger Preis sein, denn es war eben die sogenannte »tote Saison«.
Nach orientalischem Brauch bot ich erst ein Viertel des verlangten Preises, dann die Hälfte – umsonst, der Agent ließ sich nicht erweichen. »Feste Preise, mein Herr«, sagte er, »feste Preise; der Lloyd ist eine gute Gesellschaft, er läßt nicht mit sich handeln.«
Sechzig Pfund hatte ich in der Tasche. Sollte ich zahlen? – Nein, ein solches Attentat auf mein Vermögen konnte nicht gestattet werden. Der Besitz des vielen Geldes hatte mich nicht nur sparsam, sondern geradezu geizig gemacht, denn ich ertappte mich plötzlich bei der Frage: Warum es erst bei einer anderen Gesellschaft versuchen, sie verlangen ja doch alle unverschämt viel. Warum soll man überhaupt zahlen für die Überfahrt, man fährt eben so ...
Ich konnte mich nicht erinnern, in den vergangenen drei Jahren unnötige Ausgaben gemacht zu haben. Auch jetzt sollte dies nicht vorkommen. Drei Jahre war ich auf ehrliche Weise mit der »Bayern« gereist, und ich hielt es für eine Sünde, nun für ein Dampferticket schönes Geld hinauszuwerfen.
Fürs erste versorgte ich mein Boot. Mein Gastfreund verfügte über einen großen Lagerplatz mit Schuppen, und in einen derselben kam die »Bayern«. Die nötigsten Sachen packte ich in ein kleines Handköfferchen, das andere hob ich in einer Kiste auf, bis ich wiederkommen würde. Auf der Reede lagen mehrere Dampfer unter den verschiedensten Flaggen. In der Hauptsache Engländer. Ein Amerikaner war dabei, der nach Marseille bestimmt sein sollte.
Mein Dampfer!
Marseille – eine recht gute und seltene Gelegenheit. Eine Tagereise mit dem Schnellzug von München entfernt. In vier, fünf Wochen konnte ich dort sein!
Das Schiff trug einen recht hübschen Namen, es hieß »Darling«. Also – Liebling. Die »Noëmi« war eine Frau und hatte mir Glück gebracht, ebenso die »Queen of Sumatra«, warum sollte es mit dem »Darling« nicht ebenso sein?
Das Schwierigste war, wie an Bord kommen? – Mit einem Brief an den Kapitän? Ein alter Trick, auf den niemand mehr hereinfiel. Das mußte anders gehen. Einmal im Schiff, wollte ich nach erprobtem Brauch in ein Rettungsboot verschwinden und mich erst auf hoher See dem Kapitän vorstellen.
Die »Darling« lud ununterbrochen Baumwolle, welche auf großen Leichtern vom Kai zu ihrem Liegeplatz hinausgeschleppt wurde. Ich hatte in Erfahrung gebracht, daß die Ladearbeiten in der kommenden Nacht zu Ende gehen würden, worauf das Schiff sofort die Anker lichten sollte.
Mein Plan war nun sehr einfach. Ich wußte, daß die Inder vor jeder Uniform einen heillosen Respekt haben. An dem entscheidenden Tag zog ich meinen flott aufgebügelten Segleranzug mit den blanken Knöpfen an, setzte die weiße Mütze aufs Ohr und sah nicht schlechter aus als irgendein Offizier eines der draußen liegenden Dampfer.
Es mußte so, wie ich es mir vorgenommen hatte, unbedingt klappen. An einen Mißerfolg dachte ich gar nicht.
Nachts gegen elf begab ich mich in die Nähe des Baumwollstapels, der bereits bis auf einen unerheblichen Rest verfrachtet war. Der Platz war in grelles Bogenlampenlicht getaucht. Ein Leichter war eben vollbeladen und im Begriffe, abgeschleppt zu werden. Nun galt's!
Mit raschen Schritten ging ich auf ihn zu.
Ein Polizist grüßte respektvoll. Der die Aufsicht führende Beamte der Agentur sah mir gleichgültig ins Gesicht. Der Leichter schwamm schon einen Meter von der Kaimauer. Ohne irgendein Wort zu sagen sprang ich auf das Verdeck, stellte mein Köfferchen zu Boden und lehnte mich an eine Kiste. Ich tat dies mit der selbstverständlichsten Miene der Welt, ohne mich um die indischen Kulis zu kümmern.
Aber da stand der Steuermann vor mir. »Sahib Kaptain«, sagte er demütig, »es ist im allgemeinen nicht erlaubt für uns, jemand von Land auf die Schiffe mitzunehmen, das ist das Vorrecht der Barkenfahrer ...«
»Willst du eine Ohrfeige, frecher Hund?« fuhr ich auf. Da schwieg er.
Aber nun hatte mich doch eine unangenehme Aufregung überfallen. Ich wäre froh gewesen, wenn ich das Abenteuer bereits überstanden gehabt hätte.
Weit draußen lagen die Schiffe, man hörte das Rumpeln und Rattern ihrer Ladebäume und Winden und sah das Flimmern der Lichter.
Das Meer war unbeweglich, hinter mir sank Karachi in die Nacht. Wuchtig hob sich eine Schiffswand aus der See. In elegantem Bogen glitt der von einem kleinen Motorboot geschleppte Leichter unter dem riesenhaft erscheinenden Heck des Dampfers weg und trieb dann an einem schwach beleuchteten, menschenleeren Fallreep vorbei, um einige Meter davon entfernt längsseit festzumachen.
»Nimm den Bootshaken und ziehe deine Barke zum Fallreep hin«, gebot ich dem Steuermann. Er tat es, und ohne belästigt zu werden sprang ich über das Fallreep in einen Gang, der durch das Schiff führte. Ich war im Zwischendeck. In erster Linie mußte das Köfferchen weg. An einer günstigen Stelle verstaute ich es. Hierauf stieg ich eine Treppe hinauf und kam auf das Achterdeck. Noch immer hatte ich keinen Menschen bemerkt, und ich konnte annehmen, daß auch ich noch nicht gesehen worden war.
Nun in ein Rettungsboot. Verdammt – die waren im Lichtschein. Da lärmte im Vorschiff eine Winde, und gleich darauf hörte ich den Ruf: »Fertig!« Unten tutete das Motorboot und rauschte mitsamt dem Leichter davon. Die hatten ihre Baumwolle aber fix ausgeladen!
Sämtliche Lampen auf dem Achterdeck brannten, es war ungemütlich. Schnell huschte ich hinter den Kasten des Handruders, hockte mich auf eine Rolle Tauwerk und wartete der Dinge, die sich ereignen sollten.
Eine Stunde mochte vergangen sein, da erlosch ein Teil der Lichter, auf der Brücke wurden Stimmen laut, Kommandos ...
Dampf zischte und brauste, Winden knatterten – aber es war nicht der harte, schnelle Lärm der Ladewinden, sondern das bedächtige, klirrende Geräusch der Ankerwinden.
Klingelsignale, eine Glocke schrillte – das Schiff zitterte, unter mir gischtete und rauschte es – die Schrauben arbeiteten – wir fuhren! Das hatte geklappt. An Bord gegangen und abgefahren!
Bald deutete nur noch ein Lichtfleck in der Ferne an, wo Karachi und die Küste war, wo Indien war und die Belutschihügel.
Rundum breitete sich Nacht und Meer.
Es ging der Heimat zu.
Auf meiner Taurolle schlief ich nicht schlecht. Sie war hart und uneben, und das war gut so, denn weiche Unterlagen konnte ich nicht mehr vertragen. Als es Tag wurde, klopfte ich mir die Hanffasern von der Hose, band mir Kragen und Schlips frisch um, scheitelte das Haar und machte mich auf den Weg zur Brücke, um mich bei der Schiffsführung bekannt zu machen. Eine ungemütliche Viertelstunde harrte meiner.
Gelassen schlenderte ich nach vorne. Ein Trupp bloßbeiniger Chinesen scheuerte das Deck ab. Alles sprang mir aus dem Weg, selbst der chinesische Aufseher blickte mich mit freundlich-kriechendem Lächeln an. Ein paarmal spazierte ich an der Treppe, die zur Brücke hinaufführte, vorbei, ohne sie zu betreten. Kein weißes Gesicht hatte sich bis jetzt blicken lassen. Endlich tauchte aus einer Luke ein blonder Schopf auf. Er gehörte zu einem Bürschlein, das eine weiße Jacke trug und scheinbar der Messejunge war.
»Hallo«, rief ich ihn an, »wer ist auf der Brücke, Boy?« –
»Der Erste, Sir«, stotterte er.
»Na, dann geh mal hinauf und sage ihm, daß ein blinder Passagier an Bord wäre.«
Der Junge, der mich ebenfalls für einen Offizier hielt, musterte mich verlegen und wußte sich wahrscheinlich keinen Reim zu machen.
»Ich verstehe nicht, Sir ...«
»Geh nur hinauf«, ermunterte ich ihn, »und sag das dem Ersten, dann wirst du es schon verstehen.«
Er kletterte die Treppe hoch und kam nach einer Weile mit grinsendem Gesicht zurück. »Sie sollten schnell hinaufkommen, Sir, sagt der Erste.« Ich ging also hinauf, und als ich die Brücke leer fand, ins Ruderhaus. Da stand der Erste. Größer und breiter als ich, ein stiernackiger Kerl, der mich sehr an den Boxer von Port Said erinnerte, – mit breiten Händen, die keine Hände mehr waren, sondern Grundstücke – und krebsrotem Gesicht.
»Sie«, brüllte er, ohne meinen Gruß zu beachten, »Sie, Sie, Sie – wie kommen Sie dazu, sich hier an Bord zu schwindeln, Sie – Antwort will ich haben ...«
Seiner Aussprache nach schien er Engländer und kein Amerikaner zu sein. »Verzeihen Sie, Sir«, antwortete ich, »es tut mir ja selber leid, aber ich hatte kein Geld, die Passage zu bezahlen.«
»Was zum Teufel hat das mit meinem Schiff und mit mir zu tun?« schrie der andere.
»Es lag eben kein anderes Schiff da, welches nach Europa fuhr«, sagte ich, »sonst wäre ich vielleicht anderswo an Bord gegangen.«
»Nach Europa?«, zischte der Erste, »nach Europa – Sie neunmal gewaschener Halunke und Schwindler, Sie wollen mich wohl noch zum Narren halten, wie? Mir machen Sie nichts vor, ich lasse Sie einsperren und in Padang übergebe ich Sie der Polizei.«
Padang sagte er? Padang war doch auf Sumatra?
Mein Blick fiel auf einen Rettungsring. »S. S. Bird – Liverpool« stand darauf.
Ich begriff alles.
»Verschwinden Sie«, herrschte mich der Steuermann an, »gehen Sie mir aus den Augen, verschwinden Sie ins Zwischendeck, bis der Käpten aufsteht!« Pech! Ich ging gestern abend an Bord des Leichters, um zur »Darling« zu fahren. Der Leichter legte aber erst am »Bird« an, wohl um irgend etwas abzugeben. In meiner Hast merkte ich nicht, daß es ein falsches Schiff war und ging an Bord. Gleich darauf fuhr der Leichter so überraschend schnell wieder ab, zum Dampfer »Darling« natürlich.
Ich aber reiste jetzt nicht nach Europa, sondern nach Sumatra!
Mißmutig lehnte ich an der Reling und schaute in das vorbeischäumende Meer. Jetzt fiel mir auch auf, daß wir die Sonne an Backbord hatten, während sie bei der Fahrt zum Tor der Tränen ja Achtern hätte stehen müssen.
Eine Stunde später erschien der Kapitän, begleitet von einigen Offizieren und Maschinisten. Ich sah verstohlen sein Gesicht an und entschloß mich, es als anständig zu bezeichnen. Die Männer prüften eingehend die Pumpen und die Winden, dann wurde ich ins Verhör genommen. Klein, spitzbärtig und etwas bauchig sah der Kapitän zu mir herauf. Er musterte mich eine Weile von oben bis unten und von unten nach oben, dann fragte er: »Sind sie Seemann?«
Ich begann ihm meine Geschichte zu erzählen.
»Wir fahren jetzt direkt nach Padang«, sagte er. »Dort nehmen wir Ladung und gehen dann nach Europa, vorher laufen wir aber nochmals Bombay oder Karachi an, und bei dieser Gelegenheit werden Sie wieder aussteigen.«
»Beschäftigen Sie sich während der Reise ...«
Damit wollte er sich abwenden und gehen.
»Verzeihung, Sir«, meldete sich hier der Erste, der geradezu gelauert hatte, sich einmischen zu können, »aber der Maschinist könnte unten leicht einen Extramann brauchen.«
Wahrhaftig ein seltener Gemütsmensch, dieser Erste Offizier. Nicht nur, daß der Feuerungsraum in diesen Breiten für Europäer eine ausgesprochene Hölle war, tauchten selbst die Hinduheizer, die gewiß an ein anständiges Quantum Wärme gewöhnt waren, alle Augenblicke an der Luke auf, um sich im Fahrtwind etwas abzukühlen.
Ich hatte es also diesem Menschen zu verdanken, daß ich in den wahnsinnig heißen Bunker hinab mußte. Eine furchtbare Arbeit, die mir da zugewiesen worden war! Vier Stunden lang mußte ich mit einem eisernen, schwer beladenen Schubkarren zwischen Bunker und Feuerlöchern hin- und herpendeln, auf dem schwankenden Schiffsboden balancierend. Vier Ewigkeiten!
Viel hätte ich darum gegeben, wenn es Pech und Schwefel auf diesen Ersten geregnet hätte!
Dann kamen vier Stunden Ruhe und die Arbeit begann von neuem. Als ich mich von meiner Koje, auf die ich mich vollständig ausgepumpt geworfen hatte, erheben wollte, hätte ich beinahe geächzt vor Schmerzen – so weh tat mir der ganze Rücken. Die Hände waren von Blasen bedeckt. Trotzdem biß ich die Zähne aufeinander und verrichtete die mir befohlene Arbeit. Am vierten Tage konnte ich nicht mehr. Ich lag auf der Matratze, steif wie ein Stück Holz, mein geschwächter Körper streikte. Ich schleppte mich auf die Brücke und meldete mich beim Ersten mit dem festen Vorsatze, ihm an die Kehle zu gehen, wenn er mich trotzdem in den Bunker schicken würde. Aber er brummte nur etwas von Faulheit und Frechheit und befahl mich für den nächsten Tag wieder.
Einen Tag lang konnte ich mich also erholen.
»Sie haben angegeben, etwas von Nautik zu verstehen«, schrie er mich an, als ich mich zu Beginn seiner Wache meldete. »Da kommen Sie mal gleich her! Ich will doch sehen, ob Sie ein Schwindler sind oder ob ich Sie für eine seemännische Arbeit einteilen kann.«
Er ließ mich den Kompaß nach allen Richtungen ablesen, unterwarf mich einem Kreuzfeuer von Fragen und nahm so ein mindestens dreiviertel Stunde währendes Examen mit mir vor. Zum Schluß sagte er: »Nehmen Sie den Polierklotz dort und polieren Sie das ganze Messinggut an Deck!« Das war also die »seemännische« Arbeit!
Der Klotz wog gut seine zehn Pfund, und da ich jeden Tag von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends arbeiten mußte, ausgenommen eine Stunde Freizeit für die Messe, so fühlte ich beim Schlafengehen weder Arme noch Hände mehr. Abgesehen von dieser harten Arbeit war ich den ganzen Tag der unbarmherzigen Sonne ausgesetzt.
Nie wieder blinder Passagier! schwor ich mir in diesen Tagen. – Lieber wollte ich zu Fuß nach Europa laufen.
Am fünften Tage war ich mit dem Polieren fertig. Mir graute bei dem Gedanken, was wohl der Erste für eine neue Teufelei für mich bereit halten mochte. Als er meine Arbeit überprüft hatte und nichts auszusetzen fand, sagte er: »Von morgen ab sind Sie wieder im Bunker, damit Sie sich nicht zu sehr als Luxusreisender vorkommen.«
Ich war einem Schuft ausgeliefert.
In der folgenden Nacht fiel das Malariafieber wieder über mich her, und ich war glücklich darüber. Ich konnte die Koje nicht verlassen und war somit von den Anordnungen des Ersten verschont. Wie haßte ich dieses Scheusal von einem Menschen, wie verfluchte ich ihn! Mit welchem Recht behandelte er mich so gemein? – War ich nicht ebensogut ein Mensch wie er? War mein Verbrechen, mich auf das Schiff geschmuggelt zu haben, wirklich so groß?
Siebenunddreißig Tage nach unserer Abfahrt kamen wir wieder nach Karachi. Der Kasten hatte nur die elende Geschwindigkeit von acht Meilen in der Stunde. Die Zeit in Padang und die ganze Rückreise hatte ich im Schiffslazarett verbracht, in dem ich der einzige Insasse war. Das Fieber hatte mich zwar bereits nach wenigen Tagen wieder verlassen, aber ich hielt es für klüger, dauernd den Schwerkranken zu spielen und das Fieberthermometer durch Klopfen auf die erforderliche Anzahl von Graden zu bringen. Erst mit der Annäherung an Karachi ging es mir dann besser. Ich konnte unbehelligt von Bord gehen, der Kapitän übergab mich nicht der Polizei. Offenbar hielt er mich für bestraft genug.
Mit einer meilenlangen Verwünschung verließ ich die Galeere. Nochmals gelobte ich mir: Nie wieder blinder Passagier!
Ohne Bedauern sah ich den »Bird« schon anderntags die Anker lichten.