Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Wacht im Kum Kale

Das weite Becken des Marmarameeres verengte sich zu einer schmalen Wasserstraße – den Dardanellen. Einsam waren die gebirgigen Küsten, mit spärlicher Vegetation. Kein Haus, kein Mensch, in großen Abständen manchmal ein Dorf. Da auf der europäischen Seite der Strom entgegenlief, fuhr ich die asiatische Küste entlang. Bei stürmischem Wetter kam Gallipoli in Sicht, ich kreuzte über die Meerenge und fuhr in den wunderbaren Seglerhafen des kleinen Städtchens ein. Am folgenden Tag ging ich vor Canakale vor Anker. Canakale war eine rein türkische, ehemals ansehnliche Stadt, die aber heute größtenteils in Trümmern liegt. Hier, in Gallipoli, Mudros, Kilid Bahr, Sidd el Bahr, Ertrogul, Kum Kale, Jenisher und Orhanie, standen während des Weltkrieges die Batterien, welche den Alliierten Flotten ein dröhnendes Halt entgegenschleuderten, als sie sich mit Gewalt Eingang in die Dardanellen verschaffen wollten, und dabei auf die genannten Orte Gebirge von Stahl aus ihren Kanonenschlünden niederhageln ließen.

Man hatte sich noch keine Mühe genommen, die Spuren des Krieges zu verwischen, Schritt für Schritt ging man durch Ruinenstätten.

Trotz des Verbotes der Behörden nahm ich mir vor, auf der Weiterfahrt bei Kum Kale zu landen; einerseits, um dieses berühmt gewordene Festungswerk aus der Nähe anzusehen, andererseits wollte ich das in der Gegend liegende antike Troja aufsuchen. Troja war der Sehnsuchtstraum meiner ganzen Schuljugendzeit gewesen, und ich hatte, als ich von zu Hause wegfuhr, in Voraussicht dieses Besuches mein Geschichtsbuch mit den griechischen Heldensagen sorgsam eingepackt. Die Breite der Dardanellenmündung dürfte kaum mehr als zweieinhalb Seemeilen betragen. Die asiatische Küste verflachte, ich passierte die Bucht mit der Mündung des ausgetrockneten Flusses Menderes, wo einst die Griechen ihre Schiffe ans Land gezogen hatten, als sie gegen die Trojaner rückten. Kümmerliches Gestrüpp wucherte auf dem zerrissenen Boden.

Kum Kale kam in Sicht.

Kum Kale bedeutet Sandschloß, und diese Bezeichnung ist richtig. Vom Meer, selbst aus allernächster Nähe betrachtet, sieht man von diesem Fort nur einige graue Mauern, die aus dem Sande aufragen und deren Fuß vom Wasser bespült wird. Ich konnte im ersten Augenblick nicht verstehen, daß dieses unscheinbare Werk eine Festung sein sollte. An einer günstigen Stelle landete ich. Ehrfürchtig, wie ein Heiligtum, betrat ich den Boden, auf dem die Weltgeschichte mehr denn einmal ihre Dramen aufgeführt hat. Wahrscheinlich war ich der erste ausländische Zivilist, welcher hier eindrang seit jener Zeit, als die letzten englischen und französischen Truppen nach dem Weltkriege die Türkei verlassen hatten. Das Fort machte von innen einen wesentlich wehrhafteren Eindruck als von der See her und erwies sich als sehr weitläufig angelegt. Es war nur mehr ein erschütternder Trümmerhaufen.

Was konnten diese Schutthügel, zwischen denen heute Disteln wucherten und graues Gestrüpp, alles erzählen! Hier war furchtbar gekämpft worden. Hier standen deutsche Artilleristen, bayrische Maschinengewehrschützen, Österreicher und Türken. Hier hatten die Trommelfeuer gerast und gewütet, die Hölle war über diesen Fleck tausendmal hinweggegangen – losgelassen aus hunderten gewaltiger alliierter Schiffsgeschütze, konzentriert auf den einzigen kleinen Punkt – das Fort. Es war umgepflügt worden, nachdem die Mauern zerbrochen waren – und es war wieder umgepflügt worden, und wieder – und immer wieder!

Und wenn die feindlichen Landungstruppen zum Sturm ansetzten, im festen Glauben, nun könne unmöglich noch eine Maus leben hinter dem zermürbten Gemäuer – da hoben sich aus Staub und Schutt immer wieder Gestalten, sie wühlten sich an die Oberfläche, zerfetzt, verbrannt, verblutet, verwundet – heisere deutsche Kommandorufe – Maschinengewehre brüllten auf, sie lagen hinter ihren Schießmaschinen, sie hatten die Kolben ihrer Gewehre in die Achseln gepreßt – über ihnen, über dem Mann aus den bayrischen Bergen, über dem Kameraden von der Wasserkante flatterte ein Stück rotes Fahnentuch – der Halbmond – unbesiegt!

Staunend sahen die türkischen Soldaten dieses beispiellose Heldentum, das nun in ihren Liedern unsterblich geworden ist.

Hier an der Nordwestecke Kleinasiens kämpften sie für die viele tausend Kilometer entfernte Heimat – für ihr Deutschland.

Tausende waren hier in den Tod gesunken, jeder Fleck des heißen Sandes hatte heißes deutsches und türkisches Blut getrunken.

Das war die Wacht von Kum Kale.

Ich stieg durch die Schutthügel. Ich kam an Kasematten vorbei, über deren verschütteten Eingängen noch Schilder angebracht waren, zerfetzt, verbeult und von Kugeln durchlöchert. Neben den türkischen Schriftzeichen standen, noch gut leserlich, deutsche Worte: »Kasematte II« – »10 Pferde« – »Sanitätsunterstand«.

Von den Mauerruinen sah ich hinab ins Meer, wo halb versandet bronzene Geschützrohre lagen, zum Teil mit gesprengten Mündungen – aber unbesiegt! Geschützrohre, die man damals in höchster Not aus den Museen geholt hatte, als der Mangel an Verteidigungsmitteln offenbar wurde, und aus denen dann trotz ihres ehrwürdigen Alters Tod und Verderben den Angreifern entgegenraste. Auf einer Plattform, ziemlich an der höchsten Stelle des Forts, stand noch eine einzige Kanone – völlig in Ordnung, soviel ich erkennen konnte. Sie war von kleinem Kaliber und drehbar nach allen Richtungen. Wie man mir später sagte, war sie nachträglich dort aufgestellt worden, zum Zeichen, daß das Fort nie niedergekämpft werden konnte. Früher lag neben dem Fort noch ein Dorf, das aber durch die Beschießung dem Erdboden gleichgemacht wurde. Heute ist die Gegend menschenleer.

Nach einigem Herumirren entdeckte ich plötzlich eine Halbmondflagge. Ich begab mich an die Stelle und stand vor dem Eingang zu einer Kasematte. Der Schall einer Stimme drang heraus. Neugierig schob ich einen Mattenvorhang zur Seite und sah in einen fast leeren Raum, in dem ein Greis am Boden kniete, der einen mit einem grünen Tuch umwundenen Fez trug und betete. Bei meinem Erscheinen erhob er sich ohne das geringste Zeichen der Überraschung und hieß mich mit feierlicher Miene willkommen. Nebenan hauste noch ein Mensch in den Ruinen – ein Gendarm.

Er verstand einige Brocken deutsch und benutzte das, mir Schwierigkeiten zu machen. Es wäre verboten, hier an Land zu gehen. Das wußte ich, und deswegen war ich restlos zufrieden und glücklich, doch hier zu sein. Er ging an den Fernsprecher und setzte sich mit der Polizei in Canakale in Verbindung. Die kannten mich sehr gut, hatte man mir doch dort das Landen in Kum Kale verboten. Aber nun war ich einmal da, und man schien Einsicht zu haben. Ich durfte bleiben und bekam sogar die Erlaubnis, nach Troja zu gehen!

Am anderen Morgen machte ich mich frühzeitig auf und wanderte voll Erwartung Troja zu, über eine unwirtliche, mit Disteln und häßlichem Krummholz bestandene sandige Fläche. Das Gehen war sehr mühsam. Ein Hügel erhob sich vor mir, das sollte Troja sein, hatte der Gendarm erklärt.

Endlich stand ich vor diesem Hügel und suchte die Stadt – wo war sie? Der Hügel war Troja! Nichts mehr von der Stadt, um die Achill den Hektor geschleift hatte, nichts mehr von Mauern und Gebäuderesten. – Aufgewühlte Erde, ein geheimnisvoller gemauerter tiefer Schacht, einige vom Unkraut überwucherte Mauerteile und drei Maulbeerbäume auf der Kuppe des Hügels, das war der Ort, von dem ich zehn Jahre lang geträumt hatte!

Geschlagen mit bitterer Enttäuschung kehrte ich nach Kum Kale zurück. Ein heißer Wind hatte sich erhoben, die Zunge klebte mir am Gaumen. Unerwartet stand ich vor einer Hütte, die wahrscheinlich einem Bauern gehörte, die dieser bewohnte, während er die in der Nähe liegenden Felder bearbeitete. Leise Schritte regten sich – eine Frau kam um die Ecke und zerrte mit einem Schrei ihr Kopftuch über das Gesicht, als sie einen fremden Menschen stehen sah. Sie machte das so schnell, daß ich nicht einmal Zeit hatte, festzustellen, ob sie jung oder alt, hübsch oder häßlich war. So gut als möglich machte ich ihr begreiflich, daß ich durstig wäre. Sie wandte sich ab, ging etwas abseits und holte eine Gurke, die sie mir reichte. Bezahlung lehnte sie ab. Ein Windstoß fegte daher, riß dem Weib das Tuch vom Gesicht und wirbelte den Rock bis über die Hüften hinauf. Blitzschnell vergrub sie ihr Gesicht in beide Hände und wandte sich ab. Eine Europäerin hätte mit ihren Händen wohl in erster Linie ihr Kleid festgehalten. Hier war es anders. Die Begriffe von Schamgefühl sind eben relativ.

In Kum Kale erwartete mich eine Bombenüberraschung. Mein Boot war fort! Ich suchte den Strand ab – nach allen Seiten –, nichts war zu entdecken. Ganz gebrochen kletterte ich auf die höchste Stelle des Forts, wo die Kanone stand, und da sah ich meine »Bayern« mutterseelenallein ganz weit draußen vor Wind und Wellen treiben.

Wie ein Sturmwind stürzte ich zu dem Gendarmen hinab und fragte ihn, ob in der Nähe kein Boot zu haben wäre, um das meine wieder einzufangen. Nein, es war keines zu haben. Schnell wieder zum Strand, Stiefel und Kleider heruntergerissen und hinein ins Meer. Ich mußte die »Bayern« schwimmend erreichen. Ich erreichte sie auch und glaube, daß es zwei Stunden gedauert hat, bis ich mich an Bord ziehen konnte. Ein sehr gefährliches Unterfangen, leicht hätten mich die Dardanellenströmungen in die weite See hinausreißen können. Ich sah nun, daß sich aus unerfindlichen Gründen die Ankerkette vom Boot gelöst hatte, so daß es auf eigene Faust absegeln konnte.


 << zurück weiter >>