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Reichlich spät kam das Frühjahr. Der Januar verging, der Februar, der März, Ostern war da. Der Schnee taute endlich, das Land wurde ein einziger Morast, man konnte das Haus kaum mehr verlassen, denn die Wege waren grundlos. Da befreite mich ein Telegram aus Braila aus der Gewalt des Winters und seiner Folgen. Die Donau war eisfrei! Vierundzwanzig Stunden darauf saß ich bereits im Zug – Richtung Galatz.
Wir waren einander etwas entfremdet, die »Bayern« und ich, nach der langen Zeit der Trennung. Den Winter über war sie nicht schöner geworden. Die abenteuerliche Zukunft, in die ich mit ihr segeln wollte, lockte mich mit einem Male gar nicht mehr. Ich dachte an die Bequemlichkeit in Solesti. Doch was hatten solche Gedanken für einen Zweck? Immer vorwärtsschauen – nie rückwärts!
Ehe ich die Weiterreise antrat, nahm ich mir das Boot erst einmal gründlich vor. Vieles gab es zu verändern und zu verbessern. Vor allen Dingen verschwand der Kajütenaufbau, das ganze Deck wurde ebengemacht. Sodann wurde der Mast stark verkürzt – ich glaube, es war zum vierten Male –, die rostigen Spannschlösser an den Pardunen wurden gegen Flaschenzüge ausgewechselt und so fort. Gerne ließ ich mich von jedem Schiffer belehren und beraten, denn auf diese Weise konnte ich mir am ehesten die Kenntnisse aneignen, die ich unbedingt brauchte.
Der letzte Teil der Reise auf der Donau führte durch ein ungeheures Sumpfgebiet. In der Nähe von Tulcea teilt sich die Donau in drei Arme und bildet das riesige Donaudelta. Der linke, wasserreichste Arm ist die Kilia Donau, der rechte heißt St. Georgs Donau und der mittlere ist der Sulinakanal. Kanal deshalb, weil die Ufer dieses Wasserlaufes sorgfältig reguliert sind und durch ständige Baggerarbeiten der Schiffahrt die nötige Wassertiefe gesichert wird, während die beiden anderen Arme für Fahrzeuge mit Tiefgang kaum befahrbar sind. Der Verkehr auf dem Strom ist hier in seinem Unterlaufe bedeutender als irgendwo anders. Selbst die großen Ozeandampfer kommen vom Schwarzen Meer herein bis nach Galatz und Braila hinauf, löschen dort ihre Frachten aus aller Herren Länder und laden Holz für Ägypten oder Getreide nach England oder Italien. Bis auf einige Fischerdörfer fehlen fast jedwede Niederlassungen in dieser Gegend, die im Sommer eine Brutstätte der Malaria ist. Außer Ismaila und Tultscha ist das Städtchen Sulina der einzige nennenswerte Ort, an der Mündung des Sulinakanals ins Schwarze Meer gelegen. Der Grund, auf dem sich seine Häuser erheben, besteht aus dem im Laufe zahlloser Jahrhunderte über Bord geworfenen Sand- und Steinballast von Segelschiffen, die über das Meer kommend in die Donau einliefen, um Getreide zu holen. Außer seiner eigenartigen Lage hat Sulina eine gewisse Bedeutung dadurch, daß es Sitz der Internationalen Donaukommission ist, welche die Regulierung des Stromes überwacht. Den wichtigsten Dienst im Aufgabenkreis dieser Kommission haben die Lotsen von Sulina, welche die ein- und auslaufenden Schiffe über die Barre bringen müssen.
Die Donaubarre ist gemeinhin eine Hölle. Das Schwarze Meer hat seinen Namen nicht davon, daß es etwa schwarz wäre – im Gegenteil, seine Farbe ist wegen des geringen Salzgehaltes hellgrün –, sondern weil es einen ungeheuren Verbrauch an Menschen hat. Es ist nebel- und sturmreich und alljährlich verschlingen seine Fluten viele hundert der ihrem harten Erwerb nachgehenden Fischer.
Wie jeder Strom, so führt auch die Donau gewaltige Mengen von Sand und Schlamm mit sich, die unter dem Druck der Wassermassen eine gewisse Strecke über die eigentliche Mündung hinausgetragen werden, um sich erst allmählich abzusetzen. Es bildet sich also auf diese Weise vor der Mündung eine Schwelle oder, wie der Fachausdruck lautet – eine Barre. Dabei wird der vorgelagerte Küstenstrich naturgemäß immer seichter. Treibt nun der Wind die See vor sich her auf das Land zu, was bei dem vorherrschenden heftigen Nordost an der Westseite des Schwarzen Meeres immer der Fall ist, so wird sie dort, wo sie mit der Barre zusammenstößt, zur Grundsee: Das freie Auf- und Niedertauchen der Wogen trifft plötzlich bei dem jäh ansteigenden Meeresboden auf eine Hemmung von unten her. Der Boden saugt ein tiefes, breites Wellental an sich, die nachfolgenden Seen stauen sich, sich überstürzend gewaltig empor, besonders wenn ein starker Strom läuft. Selbst bei leichtem Wind herrscht an dieser Stelle ungeheures Gewoge, und es gehört viel Geschick, Erfahrung, Sicherheit und Kühnheit dazu, sich mit einem Schiff in diesem Hexenkessel zurechtzufinden, ohne es auf den Grund zu setzen. Die Lotsen sind durchweg erfahrene, ergraute Seekapitäne. Sie tun ihre verantwortungsvolle Pflicht so ruhig und selbstverständlich, wie irgendein anderer im Büro oder in der Fabrik. Sie gehören zu den unbekannten Namenlosen der schweigenden großen Leistung – zu den Helden des Alltags.
Bald nach meiner Ankunft in Sulina machte ich einen Spaziergang zum nahen Strand, um das berüchtigte Meer zu sehen, dessen hohles Brausen über der Stadt lag und mit dem ich mich von jetzt ab auseinanderzusetzen haben würde. Es herrschte Sturm draußen.
Dunst versperrte die Sonne. Ich wanderte durch den Sumpf, Millionen von Fröschen verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm. Schwer ging die See, und wie der gedehnte Atem eines Ungetüms wehte die scharfe Brise. In schaumgekrönten Wellen stürzte das Wasser heran und peitschte das Land – unaufhörlich. Wie ein gieriges Tier leckte die Flut den Strand herauf. Ich setzte mich auf einen trockenen Haufen Tang und mußte mir die Mütze vor den Mund pressen, denn der Sturmwind raubte mir den Atem.
Es war später Nachmittag – dunstiger wurde die Luft, der Himmel verfinsterte sich. Ich stellte mir mein winziges Boot in diesem Chaos vor und erfaßte erst jetzt, was zu unternehmen ich im Begriffe war. Einfach war die Sache nicht. Viele meiner Träume und Vorstellungen wurden schon auf der Donau zerstört, doch hier stand ich einer erdrückenden Wirklichkeit gegenüber.
Ein Seevogel taumelte daher, sein Schrei zerriß die Luft. Er klang wie aus einer Menschenkehle gesprungen – ein langer, schriller Schrei ... Und wie ich so dasaß und sann und die Wellen sah, wie sie sich vorwärtsschoben, sich ausreckten und wieder zusammenfielen, weiterkrochen, sich rollten, matt wurden, neue Kraft sammelten, sich wieder reckten, wie toll und brüllend an Land stürzten, als müßten sie noch höher hinauf kommen, immer höher – immer noch höher – und wie sie sich wieder verliefen, um aufs neue anzurennen – da erkannte ich, daß die See ins Gigantische übertragen – der Abglanz des menschlichen Lebens ist ...
Am Kai in Sulina lag eine Anzahl Fischerboote aus Anatolien, »Kaike« nannten sie die Türken, denen sie gehörten. Ich unterhielt mich gerne mit ihnen, soweit ich mich verständigen konnte. Die Leute stammten aus Konstantinopel, aus Trapezunt und anderen Orten an der kleinasiatischen Küste. Sie waren echte Männer der See und neben dem Stempel ihrer Rasse trugen sie eine typische Prägung: schmale Gesichter mit dem Profil der Seevögel, die Augen klar, scharf, hart und unlebendig, wie tot vom ständigen Anschauen des großen Menschenverschlingers – des Meeres.
Ihr Leben war sehr schwer und für unsere Begriffe freudlos. Mit einigen von ihnen freundete ich mich an. Sie waren bescheiden und gastfreundlich. Wenn sie mich am Kai sahen, baten sie mich an Bord und kochten rasch ihren starken Mokka zum Willkommen. Sie verstanden nicht, was Sport ist und verstanden auch nicht, daß ich ohne Zwang das feste Land verlassen wollte. Daß sie es tun mußten, betrachteten sie als ein hartes Geschick. Sie liebten die See nicht, sie fürchteten die schweren Stürme, nicht weil sie darin ihr Leben verlieren konnten, sondern weil die oft hart erworbenen Boote zugrunde gingen und die Netze zerrissen. Das Meer ist des Menschen Feind – sagten sie. Was ich vorhatte, betrachteten sie als Spiel, und spielen soll man nicht mit der See. Fast keiner von ihnen konnte schwimmen, denn dies machte das Sterben nur schwerer, wenn der Tod das Boot in die Tiefe riß ... Die Lotsen schüttelten ihre grauen Köpfe, als sie die »Bayern« liegen sahen und das sorglose Ziel erfuhren: Südsee! Sowie ich ihnen noch dazu verriet, daß meine ganze seemännische Vergangenheit in der Donaureise und einer Dampferfahrt von Fiume nach Ragusa bestand, wurden sie von Grausen gepackt. Sie weissagten mir unbedingten Untergang – spätestens zehn Minuten nach Verlassen der Donau.
Der Chefpilot Herther, ein freundlicher Herr – ein Siebenbürger Sachse – erlaubte mir, eine Lotsenfahrt mitzumachen, einerseits, um den Dienst dieser Männer aus eigener Anschauung kennenzulernen, andererseits, um mir eine Abschreckung zu vermitteln. Er machte mich mit dem Lotsen Karpathi bekannt, einem ehemaligen ungarischen Marineoffizier, mit dem ich mich bald gut befreundete.
Um fünf Uhr früh wurde ich eines Morgens von Karpathi geweckt, es war noch finstere Nacht. Wir erreichten den Kai, und da schaukelte der kleine »Rasmussen« schon unter Dampf. »Rasmussen« war das beste Lotsenboot am ganzen Schwarzen Meer; etwa zwölf Meter lang, gedrungen und solid gebaut, verfügte es über eine unglaubliche Stabilität im Wasser und über eine starke Maschine im Bauch. Wir beide stiegen in die kleine Kajüte hinab, in der schon ein zweiter Lotse saß, der den »Rasmussen« wieder glücklich nach Sulina bringen sollte, nachdem Karpathi und ich auf den Dampfer übergestiegen waren. Durch das Bullauge beobachtete ich, wie sich der Kapitän und zwei Mann der Besatzung neben dem Ruder festbanden. Es würde einen bösen Tanz geben.
Im Maschinenraum stand der alte Miron, ein stocktauber Mann, der den Maschinentelegrafen nie klingeln hörte. Er fühlte an der Bewegung des Bootes, ob es in einem Wellental lag, ob es durch einen Brecher stieß oder ob es gestoppt werden mußte – und danach drosselte er den Dampf oder ließ ihn in die Zylinder sausen.
Wir fuhren.
Eine Weile ging es an der Mole entlang. Nun stiegen wir an Deck, hängten uns an einem Tau fest, und ich blickte hinaus auf das Meer, das dunkel war wie die Mündung eines grundlosen Schlundes. Bö auf Bö heulte heran. Auf die Seen haute das stampfende Boot, daß es dröhnte. Es ging in die Barre hinein!
Schwarz kam es über das Wasser gefegt, weiß wurde die See dahinter, schon war es da; schwarzgrün, mit weißem Gischt auf der Krone, kam Brecher auf Brecher angeschäumt. Tief tauchte der Bug des Bootes ein, brodelndes Wasser spülte über das Vordeck, schon hob sich der »Rasmussen« wieder, kaskadengleich strömte das Wasser aus den Speigaten. Bis an die Brust überflutete es uns oft. Verdammt steil waren die Seen und von einer unvorstellbaren Gewalt.
Endlich Lichter voraus – der Dampfer!
Beigedreht lag er da, mit mahlenden Schrauben. Wie eine Erscheinung stand seine finstere Silhouette plötzlich vor unseren Augen. Wohl eine Stunde hatten wir zu ihm gebraucht. Das Heck des Schiffes wurde zeitweise aus dem Wasser geworfen; dann wirbelten die Flügel seiner mächtigen Schrauben durch die Luft, sein Bug staute sich wieder hochauf und das Heck versank in der Flut. Man hatte uns bemerkt und gab Lichtsignale. Unverständliche Rufe zerflatterten im Sturm.
Das Schwerste für den Lotsen kam: Das Anbordgehen bei hohem Seegang. Wie eine Katze pirschte sich der »Rasmussen« an den unruhigen Koloß heran. Einmal war er hoch über uns, dann konnten wir wieder auf seine Schornsteine hinabschauen. Nun war die Gelegenheit da: eben war ein Brecher vorüber ... Mit einem Satz schoß der »Rasmussen« längsseit und drehte im selben Augenblick schon wieder ab, um nicht an der Bordwand zerschmettert zu werden. Diesen kurzen Augenblick mußten wir ausnützen, um die von der Reling herabhängende Strickleiter zu erhaschen. Wir pendelten an ihr, eine Woge spülte über unsere Köpfe hinweg, bis auf die Haut waren wir naß. Dann aber packten uns kräftige Arme und wir waren an Deck. Eine kurze Begrüßung mit dem Kapitän; der Lotse übernahm das uneingeschränkte Kommando an Bord und damit auch die volle Verantwortung.
Der Dampfer, ein deutsches Schiff mit Reisladung aus Indien, nahm Kurs nach dem Leuchtturm von Sulina. Voraus sahen wir Funken stieben: Der »Rasmussen«, der sich zurückkämpfte!
Bald wurde es Tag, ein grauer Tag. Tief wühlte sich das zitternde Schiff in die See, stemmte sich wieder hoch, eine graugrüne Wand rollte von Achtern an, stieg bis in den Himmel, fünfzig Grad legte sich das Schiff über. Das mußte ein Unglück geben! Ich klammerte mich mit ganzer Kraft an die Brüstung der Kommandobrücke, kniff die Füße irgendwo ein – jetzt kam es wieder daher – ein irres Rütteln und Reißen im ganzen Dampfer, Wasserschlucken, Luftschnappen – und schon wieder kam es – wieder – und wieder – und nochmals ...
Und jedesmal kam der Dampfer wieder hoch!
Ich schaute auf den Lotsen. Unbeweglich stand er da, den Blick geradeaus gerichtet und erteilte dem Mann am Ruder mit leichten Bewegungen seiner Hand Befehle. Lange, unendlich lange ging das so zu, die Wogen warfen uns wie einen Spielball umher, sie bleckten wie gierige Tiere, sie wollten uns zurückreißen und hinab – in den schwarzen Abgrund.
Wir kamen durch!
Ein kurzer Abschied von der Besatzung. Innerhalb der Mündung nahm uns der »Rasmussen« wieder über und brachte uns ans Land. Das Boot legte an, die Maschine hörte auf zu arbeiten.
Seltsame Ruhe – für einen Augenblick verhallte selbst das Brausen der See. Wir waren wieder zurück!
Und das armselige Städtchen, das Dorf Sulina erschien mir plötzlich wie das heiße, bunte Leben selbst. Ich verstand jetzt, warum die Lotsen nach jeder Fahrt sagten: »Wieder einmal hat uns das Schicksal das Leben geschenkt.«