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Sechs Monate waren vergangen seit meiner Abreise von Aden und drei Monate seit meiner Ankunft im Erdteil der farbigen Milliarde. Bis jetzt waren meine indischen Erfahrungen denkbar schlecht ausgefallen, das Erlebnis in der Dschungel hatte mich gesundheitlich restlos zu Boden geworfen, wenn ich auch augenblicklich wieder auf der Höhe zu sein schien. In Wirklichkeit aber fühlte ich genau, wie ich innerlich ausgehöhlt war und wohl bei der nächsten Gelegenheit versagen würde.
Daher überlegte ich mir genau, ob es richtig wäre, noch weiter nach Ceylon und Sumatra zu segeln, wie ich mir vorgenommen hatte. Ich hatte Indien, mein Ziel, erreicht. Richtig, aber ich wollte mich mit dem bißchen, was ich bis jetzt in diesem Lande erlebt hatte, nicht zufrieden geben, sondern es auch kennenlernen und wenn möglich auch eine oder zwei der Südseeinseln besuchen.
In dem Zustand, in dem ich mich befand, schien es aber fraglich, ob ich den Anforderungen und Strapazen der Reise noch gewachsen war. Ich mußte auch der Vernunft ihr Recht einräumen und mich entschließen – umzukehren. Die Südsee sollte ein anderes Mal an die Reihe kommen, zusammen mit dem Fernen Osten, mit China und Japan.
Ich legte mir dazu folgenden Plan zurecht: Das Boot und alles was drum und dran hing mußte irgendwo untergebracht und aufgehoben werden. Ich wollte auf ein Jahr nach Europa reisen, bis ich gesundheitlich wieder auf der Höhe war. Gleichzeitig würde ich dort die Fahrt auswerten und mir das nötige Geld für die spätere Fortsetzung des Unternehmens verschaffen. Dies schien mir das Richtigste zu sein.
In Karachi war ich endlich wieder einmal in einer Stadt. Seit meiner Abfahrt von Port Said hatte ich keine mehr berührt, denn Port Sudan, Massaua, Aden und die sonstigen Küstenorte führten wohl den hochtrabenden Namen Stadt, aber sie waren es alle nicht.
Das Europäer- und Portugiesenviertel übte die geringste Anziehungskraft auf mich aus. Es ging mir dort viel zu kultiviert zu. Ich wollte ein Stück Indien erleben. So kam es, daß mein gewöhnlicher Aufenthaltsort das Herz des Eingeborenenviertels um den Boultonmarkt herum war. Dort traf man Leute aus dem Pandschab, den oberen Himalayagebieten, von Kaschmir und Peschawar, aus dem wilden Belutschistan, dem verbotenen Afghanistan, aus Persien und Arabien. Tausende von Kilometern zogen sie mit ihren Karawanen. Ein unglaubliches Gewirr von Gassen und Gäßchen öffnete sich allenthalben, in denen man vieles sehen und erleben konnte. Man sah merkwürdige Karren auf riesengroßen Rädern, von Büffeln gezogen. Sie hatten überhängende Strohdächer und Seitenwände von Holzlatten. Auf der Deichsel hockte der Kutscher und stocherte hin und wieder die Rinder ins Hinterteil, mehr in der Absicht, etwas zu tun, als die Tiere zur Eile anzutreiben. Eile spielt in Indien keine Rolle – Zeit kostet nichts.
In die Düfte der zahllosen Garküchen mischten sich die Gerüche von Senkgruben, nasser Kinderwäsche und alten Kleidern.
Heilige Kühe trollten beschaulich umher, blieben dann und wann vor einem Gemüsestand stehen und fraßen, was ihnen gerade zusagte, ohne daß der Besitzer den Mut aufgebracht hätte, ihnen eines auf den Hintern zu knallen, denn die Kuh soll in Wahrheit die Göttin Saraswanin sein – und Göttinnen darf man nicht erzürnen, um bei ihnen nicht in Ungnade zu fallen.
Da sah man ein Kind hinter solch einer Kuh herwackeln. Es trug ein Geschirr in den Händen und beobachtete das göttliche Tier ohne Unterlaß forschend. Denn wenn es diesem gerade irgendwo einfiel, seine Notdurft zu verrichten, dann konnte es den kostbaren Urin sogleich in dem Gefäß auffangen und nach Hause bringen.
Durch Straßen und Gassen schoben sich endlose Menschenschlangen, schwatzend, handelnd und betend. Polizisten zu Pferd, Wallfahrer mit Frauen und Kindern. Auffällig waren die flott gekleideten Pandschabmänner. Sie trugen Sandalen, die hinten und vorn in einer Spitze endeten, die Hosen saßen stramm an den Beinen, die Jacke wurde von einem gestickten Gürtel um den Leib gehalten, andere Männer wieder trugen nur ein Hemd über den drallen Hosen.
Die Frauen hatten bloß den »Sari« an, ein um den Leib gewickeltes Tuch. Ihren Schmuck trugen sie auf die verschiedenste Weise zur Schau. Die eine prunkte mit Silberringen an den Zehen, die andere hatte den Arm bis zum Ellenbogen mit Glas- oder Silberreifen gepanzert, wieder andere trugen an den Knöcheln so schwere Spangen aus Gold, daß man es ihnen ordentlich anmerkte, wie sie sich nur mühselig dahinschleppten. Viele hatten auch schwere Ohr- und Nasenringe, die oft so umfangreich waren, daß sie das halbe Gesicht bedeckten.
Es wurde alles gehandelt in Karachi, was auf einem indischen Markt überhaupt denkbar ist. Vor den Läden lagen die Waren ausgebreitet und wurden von ihren Besitzern mit großem Stimmaufwand angepriesen. Baumwolle, Honig, Sandelholzabfälle, Mehl, Kuchen, Gerste, Bohnen, Erbsen, Reis, Hirse, Tschiratereiser, Zahnputzrinde, Stoffe, Leder. Matratzen, Schönheitsmittel für Frauen und Stärkemittel für Männer.
Der Boden war überreich bedeckt mit den Abfällen von Tieren und Menschen. Auf den Plätzen standen in Gruppen die Männer und schacherten. Unter ihnen stachen die Parsen mit ihren goldgestickten Fezen und die Mohammedaner durch ihre mit einem Edelstein geschlossenen Turbane hervor, während die Inder barhaupt gingen.
Ich war eingeladen bei einem vermögenden Kaufmann, an den ich eine Empfehlung gehabt hatte, und wohnte bei ihm in der Ghariktastraße. Das Haus dieses Mannes verriet äußerlich nichts von seinem Reichtum, über düstere, schachtartige Treppen mußte ich drei Stockwerke in die Höhe steigen, wie man es bei uns in alten Mietskasernen gewöhnt ist, ehe ich eine Holzgitterpforte durchschritt und einen Dachplatz erreichte, von dem verschiedene Türen abzweigten, hinter denen die Wohn- und Schlafräume der Familie lagen. Man hatte eine herrliche Aussicht von hier. Auf der einen Seite glänzte und flimmerte das endlose Meer, auf der anderen lag als gelber Teppich die weite, heiße Ebene vor der Stadt, und in der Ferne zogen die sanften Wellen der Belutschihügel. Recht wenig Grün blinkte dazwischen.
Die Räume meiner lieben Wirtsleute waren nach europäischen Begriffen nie aufgeräumt, zu welch einer Tageszeit ich sie auch betrat. Alles mögliche lag dauernd auf den niederen Gurtenbetten herum, die dort alles ersetzen: Stuhl, Diwan, Bett. Man saß darauf, arbeitete auf ihnen, aß, liebte und ruhte.
Als ich das erstemal kam, wurde ich von den Töchtern des Hauses feierlich auf indische Weise begrüßt. Sie legten erst eine Hand an die Stirn und entboten mir ihr »Salaam«, dann legten sie mir die Hände auf den Kopf, wozu sie sich in Anbetracht meiner Länge ganz ordentlich strecken mußten, und ihr Köpfchen – ich mußte mich zu dieser Prozedur ziemlich nach vorne beugen – auf meine linke Achsel. Die jüngste führte mich sodann in eine Ecke, wo sie mir Wasser über die Hände goß, worauf ich endlich an einen weiß gedeckten Tisch gebeten wurde.
Die Mahlzeit bestand aus Reis, stark mit Kümmel gewürzt, zu Brei gekochtem Dhal mit Pfeffer, Pokhoras, eine indische Speise aus leichtem Teig, mit Zwiebel, Petersilie und rotem Pfeffer gefüllt und in Öl gebacken. Abschließend kam Fisch und Curry, das pikante indische Gericht aus Koriander, Kardamomen, Kurkuma, weißem und rotem Pfeffer, Ingwer, Salz und Senf. Endlich wurden noch zur Nachspeise Baummelonen, Aprikosen und anderes Obst herumgereicht.
Nachdem der Hausherr die Tafel aufgehoben hatte, spülten wir uns die Hände und ließen sie an der Luft trocknen, während Raben und kleine Spatzen die Reste der Mahlzeit säuberlich aufpickten.
Später erfuhr ich auch, welche religiösen Vorschriften die Hindufrau bei der Zubereitung eines Mahles zu beachten hat. Sie muß sich die Hände waschen und frische Kleider anziehen. Dann hat sie die Herdstelle mit getrocknetem Kuhdünger zu umgeben, also einen magischen Kreis zu ziehen, den kein Nichtkochender überschreiten darf. Erst dann kann sie sich an die Arbeit machen.
Von meinem Zimmer hatte ich Gelegenheit, in den Hof eines Hindutempels in der Nähe zu schauen. Allabendlich flammte dort ein Scheiterhaufen, auf dem man Tote verbrannte. Vor dem Tempel, ein paar Schritte von der Verbrennungsstätte, saß unbekümmert ein Wanderkoch, der allerhand Fleischstücke briet und sonstige indische Leckerbissen an die Hungrigen verkaufte. Dicht vor unserem Haus hatte ein Sadhu, ein Mann von geweihtem Leben, seine Aufenthaltsstätte. Er kauerte, in Lumpen gehüllt, auf dem Boden, tat den lieben langen Tag nichts anderes, als dem Übersinnlichen nachzuspüren – und wenn er sich davon einige Augenblicke frei machen konnte, die Geheimnisse des Lebens zu ergründen. Seine Erkenntnisse gab er dann zu gewissen Stunden einem mehr oder minder großen Kreis andächtiger Zuhörer preis.
Eines Tages war aus der Heimat Post für mich da. Es war geradezu unfaßbar, aber ein Scheck war dabei, ein Scheck über siebenhundertfünfzig Mark! Ich hatte einen Bekannten gebeten, das Geld für mich von den verschiedenen Zeitungen einzukassieren und mir dann in einer Summe zu überweisen.
Siebenhundertfünfzig Mark! Fünfhundert hatte ich sowieso in der Tasche. So besaß ich also zwölfhundertfünfzig Mark – ein fürstliches Vermögen! Mit der Würde eines Maharadschas stolzierte ich durch die Stadt und ließ die Goldstücke in meiner Hosentasche klimpern. Ich dachte an die Zeiten auf der Insel Mytilene, wo ich um einen Hungerlohn Fabrikarbeiter war, an meine zehn Minuten lange Boxerlaufbahn in Port Said, wo ich mich für ein paar Pfund jämmerlich zerschlagen lassen mußte. Dann war noch die Geschichte mit dem Brand des Ölhafens im Piräus. Ich riskierte damals mein Leben um ganze tausend Drachmen, um fünfzig deutsche Mark, die ich postwendend brauchte. Zufällig befand ich mich am Brandherd, als die mächtigen Öltanks der Shellkompanie in Gefahr waren, in die Luft zu fliegen. Niemand außer ein paar verzweifelten Burschen wagte sich an die Kolosse heran, um die Schläuche zu bedienen, aus denen gigantische Wassersäulen zur Abkühlung der Öltanks geschleudert wurden.
Sie konnten also jede Sekunde erbarmungslos in die Luft gehen, und mit ihnen die daneben liegende chemische Fabrik der Lipasmaton. Das ganze Stadtviertel wäre außerdem in Trümmer und Schutt gerissen worden!
»Tausend Drachmen jedem, der löschen hilft!« brüllte ununterbrochen ein Mann. Wie erwähnt – nur ein paar Verzweifelte meldeten sich, denn die Chancen standen schlecht, sehr schlecht sogar.
Aber ich konnte tausend Drachmen gebrauchen – also ran an den Spritzenschlauch und auf zwanzig Meter an den zusammengeballten Tod in den silberglänzenden Behältern.
Wir flogen nicht in die Luft, es ging alles glatt ab. Um die tausend Drachmen mußte ich mir nachher einen neuen Anzug anschaffen, denn der alte war so voller Ölflecke geworden, daß ich mich nicht mehr sehen lassen konnte damit. Das war sehr ärgerlich, denn ich hatte zwar einen neuen Anzug, aber wieder kein Bargeld.
Dieser Geldmangel war überhaupt chronisch geworden bei mir, er hing wie ein Bleigewicht an der ganzen Fahrt. Nichts in meinem ganzen Leben hatte mir solches Kopfzerbrechen verursacht wie gerade die ewige Frage der Geldbeschaffung auf dieser Reise. Daneben erschienen mir alle anderen Schwierigkeiten geradezu winzig.
Von diesem Geldmangel und den Nöten, in die er mich dauernd gebracht hatte, im besonderen zu sprechen, hieße einen Rosenkranz abzubeten.
Ich war und bin aber auch heute noch überzeugt, daß die Reise mit gefüllter Brieftasche nicht halb so anregend verlaufen wäre, wie dies in der Tat der Fall war.
Nun besaß ich also auf einmal zwölfhundertfünfzig Mark – sechzig englische Pfund! Beinahe wäre ich der Versuchung erlegen, trotz meines Gesundheitszustandes nach Ostasien weiterzusegeln.
Doch ich hatte einmal beschlossen heimzukehren, und dabei blieb es. Da ich kein Mann von langen Überlegungen bin, schritt ich sofort ans Werk.