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Auf meinen ferneren Fahrten durch den Ägäischen Archipel spielte ein Buch eine große Rolle, und dieses Buch war – die Bibel! Nicht, daß ich sie etwa in einer Aufwallung von Frömmigkeit in die Hände genommen und aufgeschlagen hätte; aber in Konstantinopel war ich mit einem Engländer zusammengekommen, mit Mister Baker, dem Besitzer eines Sportgeschäftes in der Perastraße und selber eifrigem Segler.
»Junger Freund«, sagte der, »wenn Sie die besten Plätze zwischen den Dardanellen und Rhodos wissen wollen, dann gehen Sie jetzt zur ›Bible societe‹ hinab und kaufen sich für ein paar Piaster eine Bibel. Dort finden Sie eingehend die Fahrten der Apostel beschrieben. Wenn Sie sich danach richten, so haben Sie den besten Reiseführer vom Ägäischen Meer.« Der Ratschlag leuchtete mir ein. Und eine Bibel kam an Bord der »Bayern«.
Ihr verdankte ich es, daß ich in den Golf von Edirmid geriet und auf die grüne Sapphoinsel Mytilene. Sie war griechisch. Ich lief den Hafen der Hauptstadt Mytilene an und wurde bei meiner Ankunft sofort von einem Marinesoldaten mit Beschlag belegt und zur Hafenbehörde geführt. Dort mußte ich in einem Zimmer eine ganze Weile warten, bis plötzlich die Tür aufflog und ein lebhafter kleiner Herr geradewegs auf mich zustürmte. Ohne Federlesens knöpfte er mir das Hemd an der Brust auf, drückte mein Kinn nach unten, um die Zunge zu sehen, dann sagte er: »Gesund« und gab mir die Hand zur Begrüßung. Es war der Hafenarzt und sein Ausspruch maßgebend dafür, daß ich nicht die Pest hatte.
Ich erkundigte mich nach Herrn Xenophon Miltiades. Man wies mich zu seinem Geschäftshaus, einem einstöckigen Gebäude am Hafen, nicht anders wie alle anderen. Aber ein gelbes Schild mit dem reichsdeutschen Adler und der Inschrift: Deutsche Konsulatsagentur – flößte mir gebührendes Ehrfurchtsgruseln ein. Fünfmal pendelte ich auf und ab, ehe ich mir den nötigen Anlauf nahm, die Schwelle zu kreuzen. Ich hatte mir nämlich hierher Post – ja noch viel mehr – Postanweisungen bestellt. Was ich an Bargeld noch besaß, überstieg kaum die zehn türkischen Pfund aus Kumbas. War das Geld, das ich erhoffte, nun angewiesen worden oder nicht? Wenige Minuten später sollte das Furchtbare Tatsache sein: es war kein Geld da! Dafür aber schöne, dicke, lange Briefe von Bekannten und Freunden daheim.
Wie die mich alle beneideten! »Der schöne, der herrliche Süden, das Meer, die Palmen, die Lieder, der Wein, die Frauen ...«, von was allem die nicht schwärmten! Merkwürdigerweise glauben die meisten Menschen, daß die Schönheit der Welt mit der zunehmenden Entfernung von der eigenen Heimat wachsen muß.
Ich besaß ein Empfehlungsschreiben an den Konsul, der eben selbst den Raum betrat. Im ersten Augenblick war ich versucht, den Bruder des italienischen Agenten aus Kumbas vor mir zu sehen, aber diesem Manne fehlte doch noch ein beträchtliches Stück an Umfang. Er studierte das Schreiben und lud mich zu Mittag in seine Villa, die eigentlich ein Palast war. Er sollte der reichste Mann der Insel sein.
Herr Miltiades bedauerte, daß mein Geld noch nicht da war und wollte mir gerne helfen. Ob ich Lust hätte, in seiner Fabrik – einer Ölraffinerie – zu arbeiten? fragte er. Unter Umständen könnte ich sogar für immer dableiben, heiraten und bei ihm Direktor werden.
Direktor! Donnerwetter, was für ein Wicht war dagegen ein Zeitungsschreiber, der seine Honorare unpünktlich bekam! Mir schwindelte bei den Aussichten, die sich da plötzlich eröffnet hatten. Einen Tag Bedenkzeit aber bat ich mir aus. Nachher schlug ich ein. Ich wollte es versuchen.
Selbstverständlich mußte ich mich erst einarbeiten und deshalb von der Pike auf anfangen. Ich fand dies ganz in der Ordnung. Mein Gehalt sollte vorläufig 45 Drachmen, also etwa 2,15 Mark, täglich betragen. Es war nicht viel, aber für den Anfang wollte ich gerne Opfer bringen. Dieses Anfangen von der Pike dauerte nur sehr lange, nach drei Monaten bekam ich immer noch das gleiche Gehalt und schaufelte unentwegt Kohlen, rollte Fässer, bog Eisenrohre, putzte Messingverschlüsse, beobachtete Wasserstandsgläser, zerriß Kleider und Schuhe und wurde keinen Tag mehr satt. Dabei war die Arbeit mehr als mühselig und dauerte reichlich 13 Stunden täglich. Einmal mußten Kesselböden aufgenietet werden. Die großen Eisenröhren lagen vor dem Fabrikgebäude. Obwohl ich der Größte war, schickte mich der Vorarbeiter in den engen Kessel. Ich erhielt nun die glühenden Nieten mit einer Zange zugereicht, nahm sie rasch mit einer anderen Zange ab und steckte sie durch das Nietloch. Dann mußte ich die Zange schnell fallen lassen und einen schweren Hammer gegen die Nieten pressen, worauf die Draußenstehenden das hervorstehende Ende mit wuchtigen Schlägen rund hämmerten. Es herrschte eine wahnsinnige Hitze in dem Kessel, der dauernd von der Sonne beschienen wurde. Das durch das Hämmern hervorgerufene Dröhnen war so stark, daß ich stundenlang nachher wie taub herumlief. Aber das Gefährlichste waren die dummen Späße der Arbeiter. Sie warteten meist nicht ab, bis ich den Hammer gegen den Nietenkopf gestemmt hatte, sondern schlugen schon vorher zu, so daß das glühende Eisenstück in den Kessel zurücksprang und mir oft sehr schmerzhafte Verbrennungen zufügte. Einmal stürzte ich in ein unbedecktes Loch im Boden und vertrat mir den Fuß, was mich einige Zeit arbeitsunfähig machte. Für diese Zeit erhielt ich keinen Lohn. Mir begann der ehrenwerte Herr Miltiades immer weniger zu gefallen, je mehr mir die Gewißheit wurde, daß er gar kein Interesse hatte, mich vorwärtskommen zu lassen und nur eine billige Arbeitskraft haben wollte. Eine Weile beschloß ich noch zu bleiben, dann einen Nagel zu nehmen, ihn in die Wand zu schlagen und meinen zweifelhaften Direktorposten daran aufzuhängen.
Oft segelte ich nach der Arbeit noch aufs Meer hinaus, ließ mich dann ziellos treiben und wartete auf die nächtliche Kühle. Aus den unbeweglichen Kulissen der Bäume und Gärten an der Küste zog ein schwüler, süßer Duft über die See, ein Hauch betäubender Gerüche. Gegen Nordwesten und Südosten brachen die Uferfelsen jählings ab, die Bucht von Mytilene breitete sich vor mir. Weißer Sand leuchtete vor dem dunklen Hintergrund der Palmen, Feigen und Maulbeerbäume. Verspätete Fischerboote trieben vorbei ... Weit hinten am östlichen Horizont, auf der anderen Seite des Wassers, begannen Lichter aufzuflimmern – Lichter in der Türkei – in Asien. An einer einsamen Klippe machte ich fest, legte mich auf die rauhen Felsen und blickte hinauf zu dem mit flimmernden Lichtern übersäten Firmament. Unter demselben Himmel, irgendwo in weiten Fernen unter Mond und Sternen, lag meine Heimat – weit – weit – weit von hier ... Und da schaukelte auch das winzige, bescheidene Schifflein, das mich von ihr fortgetragen hatte!
Unter solchen Gedanken lauschte ich der mächtigen, herrlichen Stimme des Meeres rundum, das die ganze Welt zu beherrschen schien. Lange Wogen schwebten auf und ab, liefen wie leise Windwellen unter schwarzem Samt, hoben sich lautlos auf den geduldigen braunen Felsen unter mir und zerbrachen an seiner Härte brausend zu flüssigem Kristall.
Nach Einbruch der Dunkelheit zogen die bildschönen, schwarzhaarigen Griechenmädels, eine am Arm der andern hängend, vor die Stadt und suchten sich ausgerechnet den Liegeplatz meines Bootes in dem kleinen Fabrikhafen als Ausflugsort aus. Sie saßen dort oft stundenlang, sangen ihre schwermütigen Lieder und warteten, bis ich mit der »Bayern« zurückkam, denn die weibliche Neugierde schrieb ihnen vor, den Germanos, der mit seiner Nußschale so unvorstellbar weit herkam und in der Fabrik arbeitete, sich genau anzuschauen. Sehr zu meinem Mißvergnügen, denn dieses Anschauen konnte ich nicht leiden, und wenn ich bei meiner Rückkunft Singen über das Meer hörte, kam es oft vor, daß ich nicht in den Hafen einlief, sondern irgendwo hinter einem Riff schaukelnd die Nacht verbrachte.
Mein bester Freund in dieser Zeit des Mytilener Aufenthaltes war der alte Theodoros, ein Mann von fünfundsiebzig Jahren, der in der Nähe der Fabrik eine Kaffeebude bewirtschaftete. Ich war oft bei ihm zu Gaste, und von seinem jungen Sohn, der flott französisch sprach, erfuhr ich viel über das griechische Volk und seine Lebensgewohnheiten und bekam so ein anderes Bild, als man es mir zum Beispiel in der Türkei entworfen hatte.
Die Griechen sind lebensfrohe, gastfreundliche Menschen, die allerdings mit den Griechen des Altertums nichts mehr gemein haben. Ihr Haupterwerb ist der Handel. Die Enge des Lebensraumes zwingt viele zur Auswanderung nach Amerika, wo sie als Schuhputzer oder Tellerwäscher beginnen und sich infolge ihrer Genügsamkeit innerhalb weniger Jahre ein paar tausend Dollar auf die Kante legen können. Hat einer eine günstige Position drüben, so reist er in die Heimat und holt sich eine Frau, denn selten heiratet ein Grieche eine Ausländerin, oder aber er kehrt für immer in sein Dorf zurück und beginnt mit seinen Ersparnissen ein kleines Kaffeehaus, eine Speisewirtschaft oder sonst ein Geschäftchen.
Heiraten, Liebe und Frauen sind überdies ein besonderes Kapitel.
Das junge Mädchen darf keinerlei Männerbekanntschaften schließen, es darf nicht einmal mit einem Manne – außer er gehört zur Familie – auf der Straße sprechen. Bei Spaziergängen wird es stets vom Bruder, von den Eltern oder irgendeiner Freundin begleitet. In manchen Gegenden, besonders auf der Insel Kreta, wird noch an dem Gesetz der Blutrache festgehalten, wonach der nächste männliche Verwandte des Mädchens auf dessen Ehre zu achten hat.
Mit fünfzehn Jahren kommt das Mädchen ins heiratsfähige Alter. Bemerkenswert ist, daß die vorhandenen Brüder in einer Familie nicht eher heiraten können, bis nicht die Schwester untergebracht ist. Die Ehe ist fast stets nur Geschäftssache. Der Bräutigam handelt mit dem Vater die Höhe der Mitgift aus, worauf bei einer Einigung sofort Verlobung und Hochzeit gefeiert werden. Ohne Widerrede fügt sich die Tochter der Wahl des Vaters, wenn sie auch ihren zukünftigen Mann erst bei der Verlobung zu Gesicht bekommt und derselbe nicht selten dreißig oder vierzig Jahre älter ist als sie. Trotzdem sind die Frauen treu. Verreist einmal der Mann, so wird sie von der ganzen Sippschaft mit Argusaugen bewacht. Der Verführer eines Mädchens kommt nicht unter fünf Jahren Kerker weg, sofern er nicht vorher schon der Blutrache zum Opfer gefallen ist.
Soziale Unterschiede kennt man nicht. Millionär und Lastträger stehen sich in gleicher Haltung gegenüber. Der reichste Mann läßt sich seinen Besitz weder am Aufwand noch an der Kleidung anmerken. Die kleine Insel Spalmadori in der Straße von Chios zählt nicht mehr als fünfzig Häuser mit ebenso vielen Familien; dabei sind aber dort hundertzwanzig Dampfschiffe, darunter solche mit über fünfzehntausend Tonnen, beheimatet! Die Besitzer gehen fischen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, während ihre Schiffe in Amerika oder Ostasien kreuzen. Der Grieche ist zwar ein gerissener Kaufmann, man kann ihm aber nicht nachsagen, daß er geizig wäre. Im Gegenteil, er ist großzügig und freigebig. Einmal stand ich im Hafen von Syros am Kai und sah einem mächtigen neuen Dampfer zu, der sich in den Hafen hineinlavierte. Neben mir stand ein Bauer. Ganz nebenbei sagte er: »Dies ist mein Schiff, es kommt eben von England, von der Werft ...« Er sagte dies mit einer Selbstverständlichkeit, die bei einem armen Teufel weder ein Gefühl des übermäßigen Respektes noch des Neides erweckt hätte.
Stirbt ein Grieche, so werden seine Gebeine drei Jahre nach der Beerdigung von den Verwandten ausgegraben und unter viel Geheul und Weinen mit Wein gewaschen und dann in frisches Linnen gewickelt. Dieses kommt dann mit seinem Inhalt in ein weißes Säckchen oder in einen Holzkoffer, welcher an einem Baumast im oder in der Nähe des Friedhofes aufgehängt wird. An kleinen Orten dient der Friedhof oft noch irgendwelchen menschlichen Verrichtungen, denn der Grieche hält es meist unter der Würde seines Hauses, einen Abort dort zu haben. Für den unkundigen Fremden ist dies eine peinliche Sache, wenn er in einem Lokal oder sonstwo in Verlegenheit kommt und man ihn auf seine diskrete Frage mit selbstverständlicher Geste zum nahen Meer oder zum Friedhof weist.
Ein Wort haftet den Griechen an, und das heißt Klephtis. – Dieb. Zu Unrecht. Sie betrügen gerne, um einen halben Pfennig, wenn es gar nicht anders geht, aber sie stehlen nicht. Man kann irgend etwas im lebhaftesten Straßenverkehr stehenlassen und am nächsten Tag erst wiederkommen, bestimmt wird der Gegenstand noch am Platze sein, oder es hat ihn höchstens einer in Verwahrung genommen.
Bis nach Mitternacht saßen wir oft und plauderten über solche Sachen. Ich weilte gerne unter diesen Menschen, wenn sie auch viele Charaktereigenschaften aufweisen, die uns Nordländern nicht angenehm sind. Es läßt sich aber leichter eine Brücke zu ihrer Seele finden, als beispielsweise zu der des Italieners.
Eines Morgens um sechs, als die Fabriksirene heulte, zog ich mich nicht zur Arbeit an, sondern schlüpfte in die weiße Hose, zog die blaue Jacke mit den goldenen Knöpfen an, setzte meine weiße Mütze auf und wanderte gemächlich in die Stadt zum Büro des Herrn Konsuls. Dort ließ ich mir meinen Lohn auszahlen, den ich noch gut hatte, und verabschiedete mich. Ich verzichtete darauf, Direktor zu werden.