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Lily Braun, Die Emanzipation der Kinder. Eine Rede an die Schuljugend. München: Albert Langen (1911). 28 S.
Eines fällt an dem neuen Buche Lily Brauns vor allem auf. Es mag ein Fehler sehr vieler pädagogischer und schulreformatorischer Schriften sein, daß sie ihr Schulideal an so manchen Ideen und Institutionen orientieren – an Staat oder Religion, allgemeiner Bildung oder dem Prinzip der Arbeit – nur nicht am Ursprünglichsten: an der Jugend. Und bei vielen Schulplänen wird ein solcher Fehler nicht einmal auffallen. Denn – paradox konnte man formulieren: die Menge der geplanten Reformen hat den Blick auf die eine wirkliche, werdende Jugend verbaut. Die Verfasserin aber schreibt »eine Rede an die Schuljugend«. Sie hat diese eine wirkliche und werdende Jugend erblickt, die sich ihrer selbst langsam bewußt wird, ihrer Rechte, ihrer Stärke und ihrer Möglichkeiten, die zu Pflichten werden. Und doch indem Lily Braun zu dieser Jugend von der Schule redet, verliert sie ihre Hörer aus den Augen, schweift über sie hinweg zu irgendeinem leeren, negativen Ideal der Freiheit. Ziellosigkeit bei allem Fanatismus ist ein Hauptmerkmal der Schrift.
Der Jugend weiß Lily Braun nichts weiter zuzurufen, als: Ihr seid rechtlos! In der Schule dürft ihr keine eigene Meinung entwickeln, im Hause müßt ihr schweigen, die grundlegende, selbstverständliche politische Bildung verbietet der Staat den Vierzehnjährigen, die sich selber ihr Brot verdienen. Darum: Habt in der Schule den Mut eurer eigenen Meinung, und wenn man euch auch auf die letzte Bank setzte; darum: Versagt euren Eltern den Gehorsam. »Gehorsam ist keine Tugend, wenn er nicht ein freudiges Jasagen zum Befehle ist.«
Es kann sich nicht um die Tatsachen handeln, von denen die Verfasserin ausgeht. Man mag 10 Ausnahmen und 100 Ausnahmen nennen, trotzdem bleibt das Prinzip, wie es sich in jeder Alltäglichkeit in der Schule äußert, dasselbe – und nicht anders in der Familie. Von ganz bedeutender Wichtigkeit aber sind Lily Brauns Folgerungen, ihre Vorschläge, mit denen sie allerdings Wege angibt, ohne ein Ziel zu nennen. Denn die Freiheit ist zwar für den Augenblick und für den heutigen Schüler ein Ziel, an sich aber nur ein Ausgangspunkt. Wohin der Weg der freien Jugend gehen sollte, darüber schweigt Lily Braun. Sie schweigt da, wo gerade der, der sich an die Jugend wendet, das Bedeutendste zu sagen hätte.
Beachtenswert sind die Vorschläge der Verfasserin dennoch deswegen, weil sie keineswegs vereinzelt dastehen – höchstens so kategorisch in der Öffentlichkeit noch nicht geäußert worden sind. Denn es sind Aufforderungen und Begeisterungen, wie sie in den Gesprächen kühner, unruhiger Schüler Tag für Tag geäußert werden; allerdings um bald in ihrer Undurchführbarkeit erkannt zu werden oder dem allzu Mutigen ein oder mehrere Jahre seines Lebens zu verderben. Diese Vorschläge – ganz abgesehen davon, zu welchen positiven Zielen sie führen mögen erweisen sich auf den ersten Blick jedem, der auch nur oberflächlich mit den Verhältnissen vertraut ist, als völlig undurchführbar, weil unter der Schülerschaft die Organisation und Solidarität fehlt, die eine unerläßliche Vorbedingung auch des geringsten Erfolges wäre. Als undurchführbar auch, weil es sich mit der Emanzipation der Kinder durchaus nicht so verhält, wie mit jenen gewaltigen Bewegungen, die die Verfasserin so freigebig zum Vergleich heranzieht, wie mit dem Befreiungskampfe, den »die Sklaven des Altertums, die Bauern des Mittelalters, die Bürger des Zeitalters der Revolution, die Arbeiter und Frauen der Gegenwart« führen. Hinter der Schülerschaft steht nicht die materielle, rohe Macht, die den Kampf, der einmal so fürchterlich eröffnet wäre, durchhalten könnte. Und die Schulreform ist ein Kampf der Ideen, in dem die sozialen Momente, die jene erwähnten Kämpfe so furchtbar gestalteten, zurücktreten.
Doch nicht der Mangel an klaren Zielen, nicht die gänzlich verfehlten Vorschläge allein entwerten die Schrift. Unwürdig und empörend erscheint es, daß die Verfasserin als der ersten eine, die zur Jugend spricht, nicht mehr als eine – sozusagen politische Rede, nichts über einen aufreizenden Aufruf hinaus zu sagen hat. Daß die Schrift, die agitatorisch mit widerlich schwüler Selbstmord-Romantik aufgeputzt ist (man lese die ersten Seiten!), nichts weiter zu sein scheint, als eine Aufforderung zu brutaler Befreiung von brutaler Knechtschaft. Daß dieses Eine ganz verkannt oder ganz verschwiegen ist: eine Reform der Jugend müßte hervorbrechen, auch wenn unsere Schule die vollkommenste wäre. Von der neuen Jugend, die aus dem Bewußtsein ihrer selbst als jugendlicher Menschen wieder einen höchsten Sinn und Zweck in ihr Dasein legt, sollte vor allem sprechen, wer sich an die Jugend wendet.
Im Lichte einer solchen Anschauung erscheint die heutige Schule von selbst als Ruine.
Diejenigen, die den neuen Geist in der Jugend zum Bewußtsein seiner selbst bringen, werden die größten Reformatoren auch der Schule werden.
Trotzdem im einzelnen die Schrift hie und da wahre Gedanken enthält, kann man ihr nur wünschen, daß der Schulreformer sie zu den Akten lege, daß kein »kindlicher« Geist sich an ihrem gefährlichen Feuer entzünden möge.