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Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch

Erich Kästner, Ein Mann gibt Auskunft. Stuttgart, Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt (1930). 112 S.

Kästners Gedichte liegen heute schon in drei stattlichen Bänden vor. Wer aber dem Charakter dieser Strophen nachgehen will, hält sich besser an ihre ursprüngliche Erscheinungsform. In Büchern stehen sie gedrängt und ein wenig beklemmend, durch Tageszeitungen aber flitzen sie wie ein Fisch im Wasser. Wenn dieses Wasser nicht immer das sauberste ist und mancherlei Abfall darin schwimmt, desto besser für den Verfasser, dessen poetische Fischlein daran dick und fett werden konnten.

Die Beliebtheit dieser Gedichte hängt mit dem Aufstieg einer Schicht zusammen, die ihre wirtschaftlichen Machtpositionen unverhüllt in Besitz nahm und sich wie keine andere auf die Nacktheit, die Maskenlosigkeit ihrer ökonomischen Physiognomie etwas zugute tat. Nicht etwa, daß diese Schicht, die nur den Erfolg visierte, nichts als ihn anerkannte, nun die stärksten Positionen erobert hätte. Dazu war ihr Ideal zu asthmatisch. Es war das kinderloser, aus unbeträchtlichen Anfängen emporgekommener Agenten, die nicht wie die Finanzmagnaten auf Jahrzehnte für die Familie, sondern nur für sich selbst, und das kaum über Saisonabschlüsse hinaus, disponierten. Wer hat sie nicht vor sich: ihre verträumten Babyaugen hinter der Hornbrille, die breiten weißlichen Wangen, die schleppende Stimme, den Fatalismus in Gebärde und Denkungsart. Es ist von Haus aus ganz allein diese Schicht, der der Dichter etwas zu sagen hat, der er schmeichelt, indem er ihr vom Aufstehen bis zum Zubettgehen den Spiegel weniger vorhält als nachträgt. Die Abstände zwischen seinen Strophen sind in ihrem Nacken die Speckfalten, seine Reime ihre Wulstlippen, seine Zäsuren Grübchen in ihrem Fleisch, seine Pointen Pupillen in ihren Augen. Auf diese Schicht bleiben Stoffkreis und Wirkung beschränkt, und Kästner ist genau so außerstande mit seinen rebellischen Akzenten die Depossedierten, wie mit seiner Ironie die Industriellen zu treffen. Das ist, weil diese Lyrik, ihrem Augenschein zum Trotz, vor allem die ständischen Belange der Zwischenschicht – Agenten, Journalisten, Personalchefs – wahrt. Der Haß aber, den sie dabei gegen das kleine Bürgertum proklamiert, hat selbst einen kleinbürgerlichen, allzu intimen Einschlag. Dagegen büßt sie der Großbourgeoisie gegenüber zusehends an Schlagkraft ein und verrät am Ende ihre Sehnsucht nach dem Mäzen in dem Stoßseufzer: »O gäbe es nur ein Dutzend Weise, mit sehr viel Geld.« Kein Wunder, daß Kästner, wenn er mit den Bankiers in einer »Hymne« abrechnet, auf so schiefe Art familiär wie auf schiefe Art ökonomisch ist, wenn er unter dem Titel »Eine Mutter zieht Bilanz« die nächtlichen Gedanken einer Proletarierfrau darstellt. Zuletzt bleiben Heim und Rente die Laufbänder, an denen eine bessergestellte Klasse den knautschenden Dichter gängelt.

Dieser Dichter ist unzufrieden, ja schwermütig. Seine Schwermut kommt aber aus Routine. Denn Routiniertsein heißt, seine Idiosynkrasien geopfert, die Gabe, sich zu ekeln, preisgegeben haben. Und das macht schwermütig. Dies ist der Umstand, der diesem Fall einige Ähnlichkeit mit dem Fall Heine gibt. Routiniert sind die Anmerkungen, mit denen Kästner seine Gedichte einbeult, um diesen lackierten Kinderbällchen das Ansehen von Rugbybällen zu geben. Und nichts ist routinierter als die Ironie, die den gerührten Teig der Privatmeinung aufgehen läßt wie ein Backmittel. Bedauerlich nur, daß seine Impertinenz so außer allem Verhältnis ebensowohl zu den ideologischen wie zu den politischen Kräften steht, über die er verfügt. Nicht zum wenigsten an der grotesken Unterschätzung des Gegners, die ihren Provokationen zugrunde liegt, verrät sich, wie sehr der Posten dieser linksradikalen Intelligenz ein verlorener ist. Mit der Arbeiterbewegung hat sie wenig zu tun. Vielmehr ist sie als bürgerliche Zersetzungserscheinung das Gegenstück zu der feudalistischen Mimikry, die das Kaiserreich im Reserveleutnant bewundert hat. Die linksradikalen Publizisten vom Schlage der Kästner, Mehring oder Tucholsky sind die proletarische Mimikry des zerfallenen Bürgertums. Ihre Funktion ist, politisch betrachtet, nicht Parteien sondern Cliquen, literarisch betrachtet, nicht Schulen sondern Moden, ökonomisch betrachtet, nicht Produzenten sondern Agenten hervorzubringen. Und zwar ist diese linke Intelligenz seit fünfzehn Jahren ununterbrochen Agent aller geistigen Konjunkturen, vom Aktivismus über den Expressionismus bis zu der Neuen Sachlichkeit gewesen. Ihre politische Bedeutung aber erschöpfte sich mit der Umsetzung revolutionärer Reflexe, soweit sie am Bürgertum auftraten, in Gegenstände der Zerstreuung, des Amüsements, die sich dem Konsum zuführen ließen.

Derart verstand der Aktivismus, der revolutionären Dialektik das klassenmäßig unbestimmte Gesicht des gesunden Menschenverstands aufzusetzen. Er war gewissermaßen die Weiße Woche dieses Intelligenzmagazins. Der Expressionismus stellte die revolutionäre Geste, den gestellten Arm, die geballte Faust in Papiermaché aus. Nach diesem Werbefeldzug schritt sodann die Neue Sachlichkeit, aus der die Kästnerschen Gedichte stammen, zur Inventur. Was findet »die geistige Elite«, die an die Bestandaufnahme ihrer Gefühle herantritt, denn vor? Diese selbst etwa? Sie sind längst verramscht worden. Was blieb, sind die leeren Stellen, wo in verstaubten Sammetherzen die Gefühle – Natur und Liebe, Enthusiasmus und Menschlichkeit – einmal gelegen haben. Nun liebkost man geistesabwesend die Hohlform. An diesen angeblichen Schablonen glaubt eine neunmalweise Ironie viel mehr als an den Dingen selbst zu haben, treibt großen Aufwand mit ihrer Armut und macht sich aus der gähnenden Leere ein Fest. Denn das ist das Neue an dieser Sachlichkeit, daß sie auf die Spuren einstiger Geistesgüter sich soviel zugute tut wie der Bürger auf die seiner materiellen. Nie hat man in einer ungemütlichen Situation sich's gemütlicher eingerichtet.

Kurz, dieser linke Radikalismus ist genau diejenige Haltung, der überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht. Er steht links nicht von dieser oder jener Richtung, sondern ganz einfach links vom Möglichen überhaupt. Denn er hat ja von vornherein nichts anderes im Auge als in negativistischer Ruhe sich selbst zu genießen. Die Verwandlung des politischen Kampfes aus einem Zwang zur Entscheidung in einen Gegenstand des Vergnügens, aus einem Produktionsmittel in einen Konsumartikel – das ist der letzte Schlager dieser Literatur. Kästner, der eine große Begabung ist, beherrscht ihre sämtlichen Mittel mit Meisterschaft. Weitaus an erster Stelle steht hier eine Haltung, wie sie schon im Titel vieler Gedichte sich ausprägt. Da gibt es eine »Elegie mit Ei«, ein »Weihnachtslied chemisch gereinigt«, den »Selbstmord im Familienbad«, das »Schicksal eines stilisierten Negers« usw. Warum diese Gliederverrenkungen? Weil Kritik und Erkenntnis zum Greifen naheliegen; aber die wären Spielverderber und sollen unter keiner Bedingung zu Worte kommen. Da muß denn der Dichter sie knebeln, und nun wirken ihre verzweifelten Zuckungen wie die Kunststücke eines Kontorsionisten, nämlich belustigend auf ein großes und in seinem Geschmack unsicheres Publikum. Bei Morgenstern war der Blödsinn nur die Kehrseite einer Flucht in die Theosophie. Kästners Nihilismus aber verbirgt nichts, sowenig wie ein Rachen, der sich vor Gähnen nicht schließen kann.

Früh begannen die Dichter Bekanntschaft mit dieser sonderbaren Spielart der Verzweiflung zu machen: der gequälten Stupidität. Denn meist ist die wahrhaft politische Dichtung der letzten Jahrzehnte heroldhaft den Dingen vorangeeilt. Es war im Jahre 1912 und 1913, als Georg Heyms Gedichte die damals unvorstellbare Verfassung der Massen, die im August 1914 zutage trat, in befremdlichen Schilderungen niemals gesichteter Kollektiva: der Selbstmörder, der Gefangenen, der Kranken, der Seefahrer oder der Irren, vorwegnahmen. In seinen Versen rüstete sich die Erde, von der roten Sintflut bedeckt zu werden. Und lange ehe der Ararat der Goldmark als einziger Gipfel aus der Flut ragte, bis auf den letzten Platz von Freßsack, Gürtelpelz und Naschkatz besetzt, hatte Alfred Lichtenstein, der in den ersten Tagen des Krieges gefallen war, jene tristen und aufgeschwemmten Figuren ins Blickfeld gerückt, für die Kästner die Schablone gefunden hat. Was nun den Bürger in dieser frühen, noch vorexpressionistischen Fassung von dem späteren und nachexpressionistischen unterscheidet, ist seine Exzentrizität. Lichtenstein hat nicht umsonst eines seiner Gedichte einem Clown zugeeignet. Seinen Bürgern steckt die Clownerie der Verzweiflung noch in den Knochen. Sie haben noch nicht den Exzentrik als Gegenstand des großstädtischen Amüsements aus sich herausgesetzt. Sie sind noch nicht so gänzlich saturiert, noch nicht so ganz Agenten, daß sie nicht ihre dunkle Solidarität mit einer Ware, für die die Absatzkrise schon am Horizont heraufzieht, fühlten. Der Friede kam dann – jene Absatzstockung der Menschenware, die wir als Arbeitslosigkeit kennenlernen. Und Selbstmord, wie ihn Lichtensteins Gedichte propagieren, ist Dumping, Absatz dieser Ware zu Schleuderpreisen. Von alledem wissen Kästners Strophen nichts mehr. Ihr Takt folgt ganz genau den Noten, nach denen die armen reichen Leute Trübsal blasen; sie sprechen zu der Traurigkeit des Saturierten, der sein Geld nicht restlos seinem Magen zuwenden kann. Gequälte Stupidität: das ist von den zweitausendjährigen Metamorphosen der Melancholie die letzte.

Kästners Gedichte sind Sachen für Großverdiener, jene traurigen schwerfälligen Puppen, deren Weg über Leichen geht. Mit der Festigkeit ihrer Panzerung, der Langsamkeit ihrer Fortbewegung, der Blindheit ihres Wirkens, sind sie das Stelldichein, das Tank und Wanze sich im Menschen gegeben haben. Diese Gedichte wimmeln von ihnen wie ein Citycafé nach Börsenschluß. Was Wunder, da sie ihre Funktion darin haben, diesen Typ mit sich selbst zu versöhnen und jene Identität zwischen Berufs- und Privatleben herzustellen, die von diesen Leuten unter dem Namen »Menschlichkeit« verstanden wird, in Wahrheit aber das eigentlich Bestialische ist, weil alle echte Menschlichkeit – unter den heutigen Verhältnissen – nur aus der Spannung zwischen jenen beiden Polen hervorgehen kann. In ihr bilden sich Besinnung und Tat, sie zu schaffen ist die Aufgabe jeder politischen Lyrik, und erfüllt wird sie heute am strengsten in den Gedichten von Brecht. Bei Kästner muß sie der Süffisanz und dem Fatalismus Platz machen. Es ist der Fatalismus derer, die dem Produktionsprozeß am fernsten stehen, und deren dunkles Werben um die Konjunkturen der Haltung eines Mannes vergleichbar ist, der sich ganz den unerforschlichen Glücksfällen seiner Verdauung anheimgibt. Sicher hat das Kollern in diesen Versen mehr von Blähungen als vom Umsturz. Von jeher gingen Hartleibigkeit und Schwermut zusammen. Seit aber im sozialen Körper die Säfte stocken, schlägt Dumpfheit uns auf Schritt und Tritt entgegen. Kästners Gedichte machen die Luft nicht besser.


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