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Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, »Die Angestellten«

Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem Neuesten Deutschland. Frankfurt a.M.: Frankfurter Societätsdruckerei 1930. 148 S.

Uralt, vielleicht so alt wie das Schrifttum selber, ist in ihm der Typus des Mißvergnügten. Thersites, der homerische Lästerer, der erste, zweite, dritte Verschworene der Shakespeareschen Königsdramen, der Nörgler aus dem einzigen großen Drama des Weltkrieges, sind wechselnde Inkarnationen dieser einen Gestalt. Aber der literarische Ruhm der Gattung scheint ihren lebendigen Exemplaren nicht Mut gemacht zu haben. Sie pflegen anonym und verschlossen durchs Dasein zu gehen, und für den Physiognomiker ist es schon ein Ereignis, wenn einer aus der Sippe sich einmal bemerkbar macht und auf offener Straße erklärt, daß er nicht mehr mitspiele. So ganz namentlich freilich auch der nicht, mit dem wir es diesmal zu tun haben. Ein lakonisches S. vor dem Nachnamen warnt uns, zu schnell uns einen Vers auf seine Erscheinung zu machen. Auf andere Weise begegnet der Leser diesem Lakonismus im Innern: als Geburt der Humanität aus dem Geiste der Ironie. S. tut einen Blick in die Säle des Arbeitsgerichts und das unbarmherzige Licht enthüllt ihm selbst hier »nicht eigentlich armselige Menschen, sondern Zustände, die armselig machen«. Soviel steht immerhin fest: daß dieser Mann nicht mehr mitspielt. Daß er es ablehnt, für den Karneval, den die Mitwelt aufführt, sich zu maskieren – sogar den Doktorhut des Soziologen hat er zu Hause gelassen –, und daß er sich grobianisch durch die Masse hindurchrempelt, um hie und da einem besonders Kessen die Maske zu lüften.

Leicht zu verstehen, wenn er sich dagegen verwahrt, sein Unternehmen eine Reportage nennen zu lassen. Erstens sind neuberliner Radikalismus und neue Sachlichkeit, diese Paten der Reportage, ihm in gleichem Maße verhaßt. Zweitens läßt sich ein Störenfried, der die Maske lüftet, nicht gerne einen Porträtisten schimpfen. Entlarven ist diesem Autor Passion. Und nicht als orthodoxer Marxist, noch weniger als praktischer Agitator, dringt er dialektisch ins Dasein der Angestellten, sondern weil dialektisch eindringen heißt: entlarven. Marx hat gesagt, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt, zugleich aber, daß erst in der klassenlosen Gesellschaft das Bewußtsein jenem Sein adäquat werde. Das gesellschaftliche Sein im Klassenstaat, folgt daraus, ist in dem Grade unmenschlich, daß das Bewußtsein der verschiedenen Klassen ihm nicht adäquat, sondern nur sehr vermittelt, uneigentlich und verschoben entsprechen kann. Und da ein solches falsches Bewußtsein der unteren Klassen im Interesse der oberen, der oberen in den Widersprüchen ihrer ökonomischen Lage begründet liegt, so ist die Herbeiführung eines richtigen Bewußtseins – und zwar erst in den Unterklassen, welche von ihm alles zu erwarten haben – die erste Aufgabe des Marxismus. In diesem Sinne, und ursprünglich nur in ihm, denkt der Verfasser marxistisch. Freilich führt gerade sein Vorhaben ihn um so tiefer in den Gesamtaufbau des Marxismus, als die Ideologie der Angestellten eine einzigartige Überblendung der gegebenen ökonomischen Wirklichkeit, die der des Proletariers sehr nahe kommt, durch Erinnerungs- und Wunschbilder aus dem Bürgertum darstellt. Es gibt heute keine Klasse, deren Denken und Fühlen der konkreten Wirklichkeit ihres Alltags entfremdeter wäre als die Angestellten. Mit anderen Worten aber will das heißen: Die Anpassung an die menschenunwürdige Seite der heutigen Ordnung ist beim Angestellten weiter gediehen als beim Lohnarbeiter. Seiner indirekteren Beziehung zum Produktionsprozeß entspricht ein viel direkteres Einbegriffensein in gerade jene Formen zwischenmenschlicher Beziehung, die diesem Produktionsprozeß entsprechen. Und da die Organisation das eigentliche Medium ist, in welchem die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen sich abspielt – das einzige übrigens auch in dem sie könnte überwunden werden –, so kommt der Verfasser notwendig zu einer Kritik am Gewerkschaftswesen.

Diese Kritik ist nicht partei- oder lohnpolitisch. Sie ist auch weniger mit einer Stelle zu belegen als aus allen herauszulesen. Kracauer hat es nicht mit dem zu tun, was die Gewerkschaft für den Angestellten leistet. Er fragt: Wie schult sie ihn? Was tut sie, um ihn aus dem Bann von Ideologien zu befreien, die ihn fesseln? Bei der Antwort auf diese Fragen kommt nun sein konsequentes Außenseitertum ihm sehr zu statten. Er ist auf nichts von alledem festgelegt, womit Autoritäten, um ihn zur Ruhe zu verweisen, auftrumpfen könnten. Die Gemeinschaftsidee? Er entlarvt sie als Spielart eines wirtschaftsfriedlichen Opportunismus. Der höhere Bildungsgrad des Angestellten? Er nennt ihn illusorisch und beweist, wie ohnmächtig der verstiegene Anspruch auf Bildung den Angestellten in der Wahrung seiner Rechte macht. Die Kulturgüter? Sie fixieren, heißt für ihn, jener Meinung Vorschub zu leisten, derzufolge »die Nachteile der Mechanisierung mit Hilfe geistiger Inhalte zu beseitigen seien, die wie Medikamente eingeflößt werden«. Diese ganze ideologische Konstruktion »ist selber noch ein Ausdruck der Verdinglichung, gegen deren Wirkungen sie sich richtet. Sie wird von der Auffassung getragen, daß die Gehalte fertige Gegebenheiten darstellten, die sich ins Haus liefern lassen wie Waren.« In solchen Sätzen spricht nicht nur die Stellung zu einem Problem. Dies ganze Buch ist vielmehr Auseinandersetzung mit einem Stück vom Alltag, bebautem Hier, gelebtem Jetzt geworden. Der Wirklichkeit wird so sehr zugesetzt, daß sie Farbe bekennen und Namen nennen muß.

Der Name ist Berlin, das dem Verfasser die Angestelltenstadt par excellence ist; so sehr, daß er sich durchaus bewußt ist, einen wichtigen Beitrag zur Physiologie der Hauptstadt geliefert zu haben. »Berlin ist heute die Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur; das heißt einer Kultur, die von Angestellten für Angestellte gemacht und von den meisten Angestellten für eine Kultur gehalten wird. Nur in Berlin, wo die Bindungen an Herkunft und Scholle soweit zurückgedrängt sind, daß das Weekend große Mode werden kann, ist die Wirklichkeit der Angestellten zu erfassen.« Zum Weekend gehört auch der Sport. Die Kritik der Sportbegeisterung unter den Angestellten beweist, wie wenig der Verfasser gesonnen ist, seine ironische Behandlung der Kulturideale bei Wohlgesinnten durch ein desto innigeres Bekenntnis zur Natur wettzumachen, weit entfernt. Der Instinktunsicherheit, wie sie von der herrschenden Klasse gezüchtet wird, tritt hier gerade der Literat als Wahrer unverdorbener sozialer Instinkte entgegen. Er hat sich auf seine Stärke besonnen, die darin besteht, die bürgerlichen Ideologien, wenn schon nicht restlos, so in allem zu durchschauen, wo sie noch mit dem Kleinbürgertum in Verbindung stehen. »Die Ausbreitung des Sports«, heißt es bei Kracauer, »löst nicht Komplexe auf, sondern ist unter anderem eine Verdrängungserscheinung großen Stils; sie fördert nicht die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse, sondern ist insgesamt ein Hauptmittel der Entpolitisierung.« Und noch entschiedener an anderer Stelle: »Man richtet ein vermeintliches Naturrecht gegen das heutige Wirtschaftssystem auf, ohne sich darüber klar zu sein, daß gerade die Natur, die sich ja auch in den kapitalistischen Begierden verkörpert, einer seiner mächtigsten Verbündeten ist und ihre ungebrochene Verherrlichung zudem der planmäßigen Organisation des Wirtschaftslebens widerstreitet.« Dieser Naturfeindschaft entspricht, daß der Verfasser eben da »Natur« denunziert, wo die herkömmliche Soziologie von Entartungen reden würde. Ihm dagegen ist ein gewisser Reisender in Tabakfabrikaten, die Keßheit und Versiertheit selber, Natur. Daß bei so konsequenter Durchdenkung der Ökonomik, die den elementaren, um nicht zu sagen, den barbarischen Charakter der Produktions- und Tauschverhältnisse noch in ihren heutigen, abgezogenen Formen aufdeckt, die vielberufene Mechanisierung einen sehr anderen Akzent gewinnt als sie für die Sozialpastoren ihn besitzt, bedarf kaum des Hinweises. Wieviel verheißungsvoller ist diesem Betrachter der seelenlose mechanisierte Handgriff des ungelernten Arbeiters, als das so ganz organische »Moralisch-Rosa«, das nach der unschätzbaren Formulierung eines Personalchefs der Teint des guten Angestellten zeigen soll. Moralisch-Rosa – das ist also die Farbe, die die Wirklichkeit des Angestelltendaseins bekennt.

Die Redeblume des Personalchefs beweist, in welchem Grade der Jargon der Angestellten mit der Sprache des Verfassers kommuniziert, welch Einverständnis zwischen diesem Außenseiter und der Sprache des Kollektivs ist, auf das er es abgesehen hat. Ganz von selbst erfahren wir, was Blutorangen und Radfahrer, was Schleimtrompeten und Prinzessinnen sind. Und je genauer wir mit alldem Bekanntschaft machen, desto mehr sehen wir, wie Erkenntnis und Menschlichkeit in Spitznamen und Metaphern geflüchtet sind, um dem breitspurigen Vokabular der Gewerkschaftssekretäre und Professoren aus dem Wege zu gehen. Oder handelt es sich in all den Artikeln zur Erneuerung, Durchseelung, Vertiefung der Lohnarbeit weniger um ein Vokabular als um eine Pervertierung der Sprache selber, die mit dem innigsten Wort die schäbigste Wirklichkeit, mit dem vornehmsten die gemeinste, mit dem friedfertigsten die feindseligste deckt? Wie dem auch sei, es liegen in Kracauers Analysen, besonders der akademischen tayloristischen Gutachten, Anfänge der lebendigsten Satire, die ja längst sich aus dem politischen Witzblatt zurückzog, um einen epischen Spielraum zu beanspruchen, der der Unermeßlichkeit ihres Gegenstandes entspricht. Ach, diese Unermeßlichkeit ist Trostlosigkeit. Und je gründlicher sie aus dem Bewußtsein der von ihr erfaßten Schichten verdrängt ist, desto schöpferischer erweist sie sich – dem Gesetz der Verdrängung gemäß – in der Bilderzeugung. Es liegt sehr nahe, die Vorgänge, in denen eine unerträglich angespannte ökonomische Situation ein falsches Bewußtsein erzeugt, mit denen zu vergleichen, die den Neurotiker, den Geisteskranken aus unerträglich angespannten Privatkonflikten zu seinem falschen Bewußtsein führen. Solange wenigstens die marxistische Lehre vom Überbau nicht durch die dringend erforderliche von der Entstehung des falschen Bewußtseins ergänzt ist, wird es kaum anders möglich sein, als die Frage: Wie entsteht aus den Widersprüchen einer ökonomischen Situation ein ihr unangemessenes Bewußtsein? nach dem Schema der Verdrängung zu beantworten. Die Erzeugnisse des falschen Bewußtseins gleichen Vexierbildern, in denen die Hauptsache aus Wolken, Laub und Schatten nur eben hervorlugt. Und der Verfasser ist bis in die Inserate der Angestelltenzeitungen herabgestiegen, um jene Hauptsachen ausfindig zu machen, die in den Phantasmagorien von Glanz und Jugend, Bildung und Persönlichkeit vexierhaft eingebettet erscheinen: nämlich Konversationslexika und Betten, Kreppsohlen, Schreibkrampf-Federhalter und Qualitätspianos, Verjüngungsmittel und weiße Zähne. Aber das Höhere begnügt sich nicht mit der Phantasieexistenz, und setzt sich seinerseits im Alltag des Betriebes genau so vexierhaft durch wie das Elend im Glanz der Zerstreuung. So erkennt Kracauer im neopatriarchalischen Bureaubetrieb, der schließlich auf unbezahlte Überstunden hinauskommt, das Schema der mechanischen Orgel, der verschollene Klangfolgen entsteigen, oder in der Fingerfertigkeit der Stenotypistin die kleinbürgerliche Trostlosigkeit der Klavieretüde. Die eigentlichen Symbolzentralen dieser Welt sind die »Pläsierkasernen«, der stein-, vielmehr der stuckgewordene Wunschtraum des Angestellten. In der Durchforschung dieser »Asyle für Obdachlose« erweist die traumgerechte Sprache des Verfassers ihre ganze Verschlagenheit. Erstaunlich, wie sie gefügig all diesen stimmungsvollen Künstlerkellern, all diesen lauschigen Alkasaren, all diesen intimen Mokkabuchten sich anschmiegt, um sie als ebenso viele Schwellungen und Geschwüre abgegossen dem Licht der Vernunft preiszugeben. Wunderkind und enfant terrible in einer Person, plaudert der Verfasser hier aus der Traumschule. Und viel zu sehr ist er im Bilde, um diese Anstalten etwa nur als Verdummungsinstrumente im Interesse der herrschenden Klasse betrachten und ihr die alleinige Verantwortung für sie geben zu wollen. So eingreifend seine Kritik am Unternehmertum ist, es teilt für ihn, als Klasse betrachtet, mit der ihm untergebenen den Charakter des Subalternen zu sehr, um als eigentlich bewegende Kraft und zurechnungsfähiger Kopf im Wirtschaftschaos anerkannt werden zu können.

Auf politische Wirkung, wie man sie heute versteht – auf demagogische also – wird diese Schrift nicht nur um solcher Einschätzung des Unternehmertums willen verzichten müssen. Das Bewußtsein – um nicht zu sagen das Selbstbewußtsein davon wirft Licht auf des Verfassers Abneigung gegen alles, was mit Reportage und neuer Sachlichkeit zusammenhängt. Diese linksradikale Schule mag sich gebärden wie sie will, sie kann niemals die Tatsache aus der Welt schaffen, daß selbst die Proletarisierung des Intellektuellen fast nie einen Proletarier schafft. Warum? Weil ihm die Bürgerklasse in Gestalt der Bildung von Kindheit auf ein Produktionsmittel mitgab, das ihn auf Grund des Bildungsprivilegs mit ihr und, das vielleicht noch mehr, sie mit ihm solidarisch macht. Diese Solidarität kann sich im Vordergrund verwischen, ja zersetzen; fast immer aber bleibt sie stark genug, den Intellektuellen von der ständigen Alarmbereitschaft, der Frontexistenz des wahren Proletariers streng auszuschließen. Kracauer hat mit diesen Erkenntnissen Ernst gemacht. Darum ist seine Schrift im Gegensatz zu den radikalen Modeprodukten der neuesten Schule ein Markstein auf dem Wege der Politisierung der Intelligenz. Dort der Horror von Theorie und Erkenntnis, der sie der Sensationslust der Snobs empfiehlt, hier eine konstruktive theoretische Schulung, die sich weder an den Snob noch an den Arbeiter wendet, dafür aber etwas Wirkliches, Nachweisbares zu fördern imstande ist: nämlich die Politisierung der eigenen Klasse. Diese indirekte Wirkung ist die einzige, die ein schreibender Revolutionär aus der Bürgerklasse heute sich vorsetzen kann. Direkte Wirksamkeit kann nur aus der Praxis hervorgehen. Er aber wird sich arrivierten Kollegen gegenüber in Gedanken an Lenin halten, dessen Schriften am besten beweisen, wie sehr der literarische Wert politischer Praxis, die direkte Wirkung von dem rüden Fakten- und Reportierkram entfernt ist, der sich heut für sie ausgibt.

So steht von Rechts wegen dieser Autor am Schluß da: als ein Einzelner. Ein Mißvergnügter, kein Führer. Kein Gründer, ein Spielverderber. Und wollen wir ganz für sich uns in der Einsamkeit seines Gewerbes und Trachtens ihn vorstellen, so sehen wir: Einen Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune »Menschentum«, »Innerlichkeit«, »Vertiefung« spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen. Ein Lumpensammler, frühe – im Morgengrauen des Revolutionstages.

S[iegfried] Kracauer, Die Angestellten.

Aus dem Neuesten Deutschland. Frankfurt a. M.: Frankfurter Societätsdruckerei 1930. 148 S.

Die Zeiten, da es üblich gewesen ist, Untersuchungen »Zur Soziologie ...« – der und der Gruppe, dieser und jener Erscheinung – zu überschreiben, werden noch in vieler Erinnerung sein. Damals hätte diese Schrift »Zur Soziologie des Angestellten« geheißen. Vielmehr, sie wäre gar nicht geschrieben worden. Denn was die Mode dieser Titel aussprach, war eigentlich nur, wie sehr man davor zurückschreckte, politische Gegenstände politisch klarzustellen, um sie statt dessen in ein Gespinst akademischer Floskeln zu wickeln, in dem ihre Ecken und Kanten keinem mehr weh tun konnten. Das ist Kracauers Sache nicht. Er hat aber diese alte Art, um die Dinge herumzukommen, nicht verlassen, um statt dessen eine neue zu wählen. Insbesondere ist ihm die Reportage, diese moderne Umgehungsstrategie politischer Tatbestände unterm Deckmanöver der linken Phrasen genau so verhaßt wie das euphemistische Gelispel der Soziologie. »Die Wirklichkeit«, sagt er, »ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird.« Soziologisches Wissen und Beobachtungsmaterial sind also bloße Vorbedingungen dieser Arbeitsweise, die ebensosehr wegen der Originalität als wegen der Durchschlagskraft ihrer Ergebnisse genaue Betrachtung verlohnt.

Daß hier einer sich auf eigene Faust auf den Weg macht, verrät schon die Sprache. Störrisch und stößig sucht sie sich ihre Fixpunkte mit einem Eigensinn, den ihr ein Abraham a Santa Clara hätte neiden können, wenn er seine Bußpredigten von Kalauer zu Kalauer führte. Nur: in den »Angestellten« hat der Bilderwitz die Rolle des Wortwitzes übernommen. Und so wenig jener Kalauer etwas Zufälliges ist, da er vielmehr mit dem Sprachleben des Barockzeitalters zusammenhängt, so wenig kommt ein Bilderwitz von ungefähr, der bei Kracauer auf jene surrealistischen Überblendungen ausgeht, die nicht nur, wie wir es von Freud erfahren haben, den Traum, nicht nur, wie wir von Klee und von Max Ernst es wissen, die sinnliche Welt, sondern eben auch die soziale Wirklichkeit kennzeichnen. »Im Lunapark«, heißt es bei Kracauer, »wird abends mitunter eine bengalisch beleuchtete Wasserkunst vorgeführt. Immer neugeformte Strahlenbüschel fliehen rot, gelb, grün ins Dunkel. Ist die Pracht dahin, so zeigt sich, daß sie dem ärmlichen Knorpelgebilde einiger Röhrchen entfuhr. Die Wasserkunst gleicht dem Leben vieler Angestellten. Aus seiner Dürftigkeit rettet es sich in die Zerstreuung, läßt sich bengalisch beleuchten und löst sich, seines Ursprungs uneingedenk, in der nächtlichen Leere auf.« Natürlich ist das mehr als eine Metapher. Denn dieses bengalische Licht glüht ja für die Angestellten selbst auf. Und damit wird klar, welche politische Helligkeit aus solcher Überblendung heraussprüht.

Woher dem politischen Traumdeuter diese Künste kommen? Von literarischen Einflüssen sei diesmal abgesehen. Was der Verfasser, sprachlich vor allem, dem anonymen Autor des »Ginster« verdankt, mag auf sich beruhen. Soviel steht fest, daß seine Deuterpraxis aus dem genauen Studium eigenster Erfahrung erwachsen ist. (Wie weißer Zauber ja mit strenger und nüchterner Betrachtung des Erfahrenen Hand in Hand geht, wo der schwarze nie über Bannkreis und Mysterium hinauskommt.) Die Erfahrung aber, die hier zugrunde liegt, ist einfach die des Intellektuellen. Der Intellektuelle ist der geborene Feind des Kleinbürgertums, weil er es ständig in sich selbst überwinden muß. Hier hat er sich auf seine Stärke besonnen, die darin besteht, die bürgerlichen Ideologien, wenn schon nicht restlos, so in allem zu durchschauen, wo sie noch mit dem Kleinbürgertum zusammenhängen. In den Angestellten aber kommt nun ein neues, uniformierteres, erstarrteres, gedrillteres Kleinbürgertum herauf. Es ist unendlich viel ärmer an Typen, Originalen, verschrobenen, aber versöhnlichen Menschenbildern als das verflossene. Dafür unendlich viel reicher an Illusionen und an Verdrängungen. Mit ihnen nimmt der Verfasser es auf. Nicht in der Art eines Gregers Werle, der gegen die »Lebenslüge«, wie Don Quichote gegen Windmühlen, angeht. Sein Interesse gilt nicht dem Einzelnen, gilt vielmehr der Verfassung einer homogenen Masse und den Zuständen, in denen diese sich spiegelt. Die Summe dieser Zustände deckt ihm der Name Berlin. »Berlin ist heute die Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur; das heißt einer Kultur, die von Angestellten für Angestellte gemacht und von den meisten Angestellten für eine Kultur gehalten wird.« Wenn Joseph Roth mit der Behauptung im Recht ist, die er vor kurzem an dieser Stelle aufgestellt hat, die Aufgabe des Schriftstellers sei, nicht zu verklären, sondern zu entlarven, so ist der Autor der »Angestellten« höchst schriftstellerisch an Berlin herangetreten. Das ist an diesem wichtigen Buche nicht das Unwichtigste. Im Augenblick, da die ersten Spuren einer tätigen Liebe zur Hauptstadt sich zeigen, geht man zum ersten Male ihren Gebrechen nach. Eben gab in seinem Monumentalwerk »Das steinerne Berlin« Hegemann die politische Baugeschichte der Mietkaserne, wie sie aus dem Grundbesitze entstand, nun folgt Kracauer mit der Darstellung der Berliner Büro- und Vergnügungspaläste als Abdruck der Angestelltenmentalität, die bis hoch in die Unternehmerkreise hinaufreicht. Gleichzeitig hat er den Posten eines Berliner Berichterstatters der »Frankfurter Zeitung« übernommen. Es ist gut für die Stadt, diesen Feind in ihren Mauern zu haben. Hoffen wir, daß sie verstehen wird, ihn zum Schweigen zu bringen. Wie? Nun, indem sie ihren besten Zwecken ihn nutzbar macht.


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