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Zwei Bücher über Lyrik

Franz Heyden, Deutsche Lyrik.

Nachschaffende Betrachtungen lyrischer Gedichte. Hamburg, Berlin, Leipzig: Hanseatische Verlagsanstalt (1929). 236 S.

Die Situation: »So singt es und klingt es, die Sinne in bestrickendem Wohllaut umschmeichelnd, schier endlos.« Heyden: Deutsche Lyrik, S. 99.

Es gibt Situationen, da kann einer gar nichts klügeres tun, als sich dumm stellen. Es sind nicht die Ungefährlichsten, die diese Taktik verlangen. Und wir rechnen die Situation, in die diese »Nachschaffenden Betrachtungen lyrischer Gedichte« den Leser versetzen, nicht zu den harmlosen.

Der Verfasser nimmt keinen Anstand, zum Genuß lyrischer Dichtungen einzuladen. Andere an dem »im Genuß« Empfundenen teilnehmen zu lassen, das ist eingestandenermaßen die Absicht. Bleiben wir beim Genuß. Auf dem Tisch steht eine Schokoladentorte. Bestimmt wird die gute Hausfrau zum Genusse derselben einladen. Aber wird sie in der »nachschaffenden Betrachtung« der Torte Mittel zu dessen Steigerung oder gar dessen Wesen sehen? Bestimmt nicht. Sie wird sogar diese nachschaffende Betrachtung eher zu vermeiden suchen. Und es ist gar nicht erfindlich, warum wir ihren guten Tischsitten nicht an geisterhafteren Tafeln Respekt verschaffen.

Bleiben wir begriffsstutzig. Stutzen wir bei dem Begriffe: Genuß. Der ist doch nur die erste Etappe, das Vorspiel der Einverleibung. Mit der Einverleibung, die dem Genuß folgt, setzt das Hauptstück des Vorgangs erst ein. Was hielten wir von einer Physiologie der Ernährung, die es nur mit den Freuden des Geschmacksinns zu tun hat? Nichts. Genau so viel von dem Buch, das hier vorliegt. Denn gerade für das lyrische Gedicht wie für sonst nichts im Schrifttum gilt: nur wo es einem ganz zu Fleisch und Blut geworden ist, beginnt es sein Werk. Der Schauplatz aber alles Förderlichen, Nahrhaften, Nutzbaren, das der Lyrik einwohnt, heißt Gedächtnis und ist in diesem Buche nirgends betreten. »Werde auswendig«, das ist das Geheiß, mit dem jede lyrische Dichtung ins Leben tritt. Schauplatz seiner Erfüllung ist das Gedächtnis.

»Nicht die Stärke, sondern die Dauer des großen Gefühls macht den großen Menschen« schreibt Nietzsche. Nun – das Gedicht ist die besondere Speise, die Stärke des Gefühls in organische Dauer umzusetzen bestimmt ist, die Gefühle überwältigt und einverleibt. Das ist sein einzig echter, einzig erheblicher »pädagogischer« Sinn. Und in nichts dem reformpädagogischen Vorwitz verwandt, der hier ein witterndes Naschen vorwagt.

Wie ein Gedicht nach jahrelangem Wissen Gewohnheit wird, das bestimmt sein Ethos. Nämlich griechisch: Ethos = Gewohnheit. Dann hat ein herbes Werk der Zersetzung es in solchem Grade verwandelt und so sehr jenseits von alledem was einst an ihm »genußreich« war gestellt, daß nun von ihm zu reden möglich wird. »Auswendig« heben wir das Gedicht aus den Angeln. Wie geringer ist es geworden und nur weniges an ihm fühlbar.

Es ist die Klosterzelle, das Gedächtnis, in dem die Sätze, Verse, Worte wie Trappisten stumm in die Särge ihrer Buchstäblichkeit sich zur Ruhe legen. Von diesem rechten, sprengenden, ja in Stücke sprengendem Sterben des Werkes hätte der Verfasser wohl etwas erkennen können, wenn er in der neuen, nachgeorgischen Lyrik sich umgetan, Brecht und Ringelnatz auf seinem Schreibtisch gefunden und so die Todeskrisis einer ganzen Gattung von Lyrik sich für ihn erschlossen hätte. Des Liedes nämlich. Denn das Lied, das noch in seinem hohlsten Nachklang (Falke, Brandes) dem Verfasser das A und O der Lyrik bedeutet, ist doch selbst in seinen erhabensten Lauten diesem rechtzeitig-zeitweiligen Verstummen gerade jetzt ausgeliefert. Seine Betrachtung kann nur so trostlose Begriffe wie den der »uneigentlichen Sprache«, des »seelischen Fluidums«, des »lyrischen Hauches« zutage fördern. Für den »Deutschunterricht« sind sie kein »Fortschritt«, für den Schüler eine Qual, für den Denkenden Unfug.


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