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Heinz Kindermann, Das literarische Antlitz der Gegenwart. Halle: Max Niemeyer Verlag 1930. 104 S.
An dem vorliegenden Büchlein sind einzig interessant seine gesellschaftlichen Entstehungsgründe. Denn sein wissenschaftlicher Wert ist null. Aber nicht sein Wert, sondern seine Notwendigkeit steht in Frage.
Diese Notwendigkeit beruht in den Verhältnissen, aus denen die Schrift kommt. Der Verfasser ist Hochschullehrer. Es hätte nicht der letzten öffentlichen Kämpfe bedurft, um dem Beobachter der Universitäten anzuzeigen, daß ihre Angehörigen unzufrieden mit ihr geworden sind. Man kann dafür viele Gründe ausfindig machen, der nächstliegende ist gewiß, daß sie ihnen keine Sicherheit mehr verspricht. Die Fächer haben wirtschaftlich und geistig aufgehört Gehege zu sein. Weniger als je ist dem Studenten das Fortkommen in seinem Fache gewährleistet. Der Ruf nach geisteswissenschaftlicher Vertiefung des Fachstudiums, der unter diesen Verhältnissen laut wurde, das Streben, der Wissenschaft größere Lebensnähe zu garantieren, ist von dieser Seite nur eine glänzende Luftspieglung, deren elender Gegenstand das Leben proletarisierter Werkstudenten ist. Die freilich haben den »Kontakt mit der Wirklichkeit«, aber anders, als man ihn sich vorzustellen beliebt. Und doch kann einzig dieser, als der echte, es sein, nach dem die Lebensnähe auch der Wissenschaft sich auszurichten hätte. Gewiß ist, daß die akademische Forschung ein schärferes Bewußtsein der Umwelt, in welcher sie sich vollzieht, nötig hat. Das wird ihr aber nur verschaffen, wer von den nächstliegenden Gegebenheiten ausgeht, nicht wer die ideologische Spiegelwelt, die diese Not in Glanz verwandelt, um einige Reflexe bereichert. Am wenigsten aber wer den naiven Anschluß an den merkantilen Betrieb schon gefunden hat und die »Vertiefung« schöngeistiger Parolen, die Mystik von der »neuen« Jugend, die »Vermittlung des Kunstgenusses« zu seiner Sache gemacht hat. Es ist ein nicht mehr seltener Typ des jüngeren Hochschullehrers, von dem das gilt: der Akademiker, der die »Erneuerung« zu fördern glaubt, indem er die Grenzen seines Faches gegen den Journalismus verschleift. Weltläufig und geschniegelt segelt er herein, um alsbald vor dem wissenschaftlichen Apparat die kümmerlichste Figur zu machen. Wenn Komparsen wie Ginzkey oder Ebermayer, Lersch oder Wildgans von namenlosen Journalisten gefeiert werden, so weiß der Leser, woran er ist; es wird ihm nicht weiß gemacht in einem heiligen Hain, fern von Geschäften, Presse, Politik auf priesterliche Gestalten zu stoßen. Den Verfasser dagegen beherrscht ein fetischhafter Begriff von Dichtung, welcher ihn gegen alle Fragen der Echtheit oder des Niveaus gänzlich stumpf macht. Daß Dichtung wechselnde Funktionen im Dasein der Gesellschaft hat, kann ihm von seinem Konsumentenstandpunkt aus, für den sie etwas ebenso Abstoßendes wie Chimärisches: ein sakrales Genußmittel darstellt, nicht kenntlich werden. Kein Wunder, daß er an dem wichtigsten Zuge der heutigen Literatur vorbeigeht: der innigen Durchdringung jeder großen dichterischen Leistung mit der schriftstellerischen – mag man nun an Brecht oder Kafka, an Scheerbart oder Döblin denken. Die Synthese eines »Idealrealismus« freilich, für den die Schrift im Namen der »Vollwirklichkeit« und einer sie repräsentierenden neuen Jugend sich einsetzt, beruht ganz und gar auf jenem fetischhaften Begriff der »wahren Dichtung« oder Waren-Dichtung, die »immer begnadet und naturgegeben« sein soll. Synthesen dieser Art sollte man lieber Arrangements nennen. Das lockre Handgelenk, aus welchem sie kommen, ist das des Dekorateurs, wie eine Gesellschaft, die vom Ausverkauf lebt, ihn braucht. Neu ist nur das Katheder als Warenstand. Aber wie elegant fließen nicht die Draperien an ihm herab: »Wie wären Roman, Kurzgeschichte und Novelle der neuen Jugend denkbar ohne das anekdotarische (!) Meisterwerk Wilhelm Schäfers, ohne Federers geheimnisbeseelte Wirklichkeit, ohne Kolbenheyers realistische Vergangenheitsvision, ohne Nabls steil aufragende Sachlichkeit, ohne Strobls greifbare Unheimlichkeitsgestaltung, ohne Hohlbaums Realisierung der Musikalität, ohne Scholz' wirklichkeitsnahe Erfahrungstiefe, ohne Ina Seidels Glauben an die Erlebnisgewalt des Herzens, ohne Frank Thieß' Streben nach einer Art Seelenrealismus, ohne Döblins technisierte Psychologie, ohne Bluncks mythischen Realismus, ohne die religiöse Leidenschaftswelt der Handel-Mazzetti, ohne Ginzkeys lächelnde Resignation und Schaffners neues Sozialempfinden.«
Und wie wäre sie möglich, jene neue Jugend, ohne diese modernen, flotten, wissenschaftlichen Prospekte, in denen die Urteilslosigkeit abwägend, die Oberflächlichkeit gründlich, die Instinktlosigkeit temperamentvoll zu Worte kommt!