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Iwan Schmeljow, Der Kellner.

(Übertr. aus dem Russischen von Käte Rosenberg.) Berlin: S. Fischer-Verlag (1927). 233 S.

Die russischen Autoren der Vorkriegszeit verstehen nicht, dem Dasein Kontur zu geben. Sie können – ausgenommen Tolstoi – kein Schicksal zeichnen. Ihnen stellt alles von der Innenseite des Erlebnisses sich dar. Jedoch, sie haben die Dynamik des Geschehens für den Roman entdeckt, den allseitig geschlossenen Spannungsraum. Damit hat sich der russische Roman aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wie er am gültigsten von Dostojewski vertreten wird, einen neuen Typus des Lesers geschaffen. Das ist so zu verstehen: schließe ich einen Roman von Stendhal oder Flaubert, einen Roman von Dickens oder von Keller, ist mir, als träte ich aus einem Haus ins Freie. Wie tief ich immer ins Erzählte mag versunken gewesen sein, ich blieb ich selber, fühlte, in sehr verschiedener Art und Stärke, mich bestimmt, aber doch immer wie durch Proportionen eines Raums, in dem ich weile, will sagen, ohne mich in der Substanz zu wandeln und die Kontrolle des Bewußtseins zu verlieren. Habe ich aber ein Buch Dostojewskis geendet, so muß ich erst zu mir kommen, mich sammeln. Ich habe, wie erwachend, mich zurecht zu finden, fühlte mich selbst im Lesen nur so schattenhaft, als sei ich Träumer. Denn Dostojewski liefert mein Bewußtsein gefesselt in das furchtbare Laboratorium seiner Phantasie, setzt es Geschehnissen, Visionen und Stimmen aus, in denen es mir fremd wird und sich auflöst. Noch den geringsten seiner Figuren ist es auf Gnade und Ungnade preisgegeben, ist gebunden ihm ausgeliefert. Dieses an sich nicht unproblematische Verfahren wird durch die Größe des Versuchs beglaubigt, welchen der Dichter in dem Räume der religiösen und moralischen Erfahrung veranstaltet. Das gleiche Verfahren muß seine Fragwürdigkeit an jedem kleineren Unternehmen verraten. Es hilft also nichts, daß Schmeljow es mit ungemeiner Gewandtheit, mit Gewissenhaftigkeit in seinem beschränkten Bezirke handhabt. Der Kellner, der in diesem Buch Bericht von einigen Monaten seines Lebens erstattet, ist eine beliebige Nebenfigur aus der Welt Dostojewskis, in Wort und in Gebärde meisterhaft vergegenwärtigt. Nur eben ist von jener Welt nichts um ihn. Sein Jammerdasein bleibt ein »Innenleben«, das einer Außenwelt nur korrespondiert, sie nirgends in sich hineinzieht und hell macht. Darum ist dieses Buch ein Gebilde, das alle Spannungen des Dostojewskischen Romans, gereinigt von Erschütterungen, dem Leser mitteilt, ein unschädliches Narkotikum, vollendet geschriebene (nicht minder vollendet übertragene) Unterhaltungslektüre.


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