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Julien Green, Mont-Cinère. Roman. (Deutsch von Rosa Breuer-Lucka.) Wien, Leipzig: F. G. Speidel'sche Verlagsbuchhandlung (1928). 336 S.
Man kennt die einsamen Landsitze des nördlichen Amerika, aus denen Poe die traurigen Feenschlösser der Arnheim, der Landor und der Usher erstehen ließ. Nun taucht von neuem und wie für ewig ein solches Bauwerk in seiner Umfriedung von Tannen mit dem Blick über Park und Waldung bis auf die fernen blauenden Hügel auf. Und niemand, der als Leser da eintrat, kann sagen, was er gesehen hat. Denn schwerlich gibt es Romane, die unerzählbarer bleiben, unerzählbarer von Anfang an waren als die Werke von Julien Green. Keine mit andern Worten, vor denen nach einem »Schlüssel« oder »Erlebnis« zu fahnden oberflächlicher oder perverser wäre. Keine, die sich strenger verschließen. Keine, die klassischer wären. Wo liegt dann aber das lebendige Prinzip solcher Werke?
Dies hier ist nicht Ausgeburt von einem Erlebnis. Es ist vielmehr erfahrbare Wirklichkeit an sich selber. Ein Wettersturz bricht über den Leser herein. Was hier vorgeht, ist ein meteorologischer Ausgleich zwischen dem Klima menschlicher Urgeschichte und dem unserer heutigen Zonen, der nicht anders als katastrophal sich vollziehen kann. Diesen Roman nacherzählen? Genau so gut könnte man einem zumuten, ein nächtliches Gewitter herzuerzählen.
Wenn die Blitze den Nachthimmel spalten, reißt eine Helle den Blick auf tausendstel Sekunden in fernste Fernen. So tun hier, eine nach der andern, fahl und flüchtig, die Lichtungen der Zeiten sich auf. Dies Haus »im allereinfachsten Stil amerikanischer Wohnbauten, truhenförmig, mit einem Säulenvorbau, der fast über die ganze Länge der Front sich hinzieht«, ist bald im Unwetter wie ein Nachthimmel transparent und eine Abflucht von Höhlen, Kammern und Galerien geworden, die sich in die Urzeit der Menschheit verlieren.
Wohnen – noch immer ist es also ein Hausen, ein Geschehen voller Angst und Magie, das vielleicht niemals verzehrender war, als unter der Decke des zivilisierten Daseins und der bürgerlich-christlichen Kleinwelt? Denn es glimmt und schwelt unter dieser Decke; kalte Flammen des Geizes lecken an den Wänden des frostigen Hauses. Wenn am Ende eine Feuersbrunst seine Fenster erleuchtet und aus dem Dachstuhl emporschlägt, ist es zum ersten Male erwärmt.
Die Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, deren Monumente seit den Surrealisten immer vernehmlicher zu uns sprechen, ist um ein unvergeßliches Zeugnis reicher. Wenn eines der tiefsten, legitimsten Motive der neuen Architektenschulen darin zu suchen ist, die magischen Gewalten zu liquidieren, denen wir in Zimmern und Mobiliar unfehlbar und ahnungslos unterstehen, wenn sie uns aus Bewohnern in Benutzer der Häuser, aus stolzen Besitzern in praktische Verächter verwandeln wollen, so ist das nur die Kehrseite von Erleuchtungen, wie sie dieses Werk inspiriert haben. Hier ist das Bett wirklich noch Thron, den die Träumenden beziehen oder die Sterbenden, das Feuer im Kamin wirklich noch ewige Herdflamme, wie die schreckliche Vestalin, die Heldin des Buches es nährt, die Nähkunst wirklich noch der Schicksalszauber, den selbst die letzte Magd mit den Parzen teilt. Und mit dem Umkreis der primitivsten Verrichtungen ist auch das Inventar des Hauses schon erschöpft, das Vokabular des Autors geschlossen. Die moralischen Begriffe des Katechismus, die Gegenstandswelt der Fibel – das sind die Runen, aus denen diese drei Frauen, die der Dichter in seinen Kreis lud, streng, achtlos, verträumt sich ihr Schicksal zusammenlesen.
Diese Sagenwelt liegt genau so tief unter der Erdoberfläche wie die Märchenwelt über ihr. Emily ist das Märchenkind – nur gespiegelt. Wie im Märchen, in all seiner Anmut das Sonntagskind hilflos und siegreich dasteht, so steht hier drohend, schrecklich, dennoch unterliegend, die Heldin dieser Geschichte. Gäbe es einen Werktag vor anderen, stünde das Grau aller Wochentage in Einem gesammelt, das wäre der Geburtstag der Heldin, wäre ihr Lebenstag. Ja, er ist es, denn das ist der Tag, der jahraus, jahrein über Mont-Cinère liegt. Dies Alltags-Werktags-Mühsalskind, das ungeläutert und auf verrufenen Wegen in wenigen Jahren das Greisenalter gewann und nichts von der schrecklichen Torheit der Frühzeit verlor, steht zwischen ihrer eigenen und deren Mutter, nach Natur und Alter dieser viel näher als jener. Jene – das ist die fromme, die arme, treusorgende Witwe der Märchen. Aber gespiegelt: so fromm wie herzlos; so treu und sorglich mit Leinen, Hausrat und Brennholz wie treulos und sorglos gegen Mutter und Kind; so arm und reich, wie nur ein Geizhals es sein kann. Diese – die Großmutter, die, wie wir aus Märchen es kennen, dem Kind an langen Winterabenden Geschichten erzählt; aber es sind Geschichten, wie der Verfolgungswahn sie der Irren zuraunt und denen das Kind sich nur darum preisgibt, weil der Kamin im Zimmer der Kranken der einzige ist, wo ein Feuer brennt. Und da ist Stevens, der Gärtnerbursche, der törichte Glücksprinz, der die Prinzessin erlöst. Nur gespiegelt: denn nun erst, nach der Hochzeit, beginnt die wahre Geschichte, und wenn sie nicht verbrannt sind, so brennen sie heute noch. Die Märchenwelt, wie sie im nachtschwarzen Wasser des Todes sich spiegelt. »Ach weh! Frau Mutter, wie weh!« sang der junge Brentano, als er den Blick in den gleichen Spiegel hineintat.
Emily sitzt im Schaukelstuhle, am Fenster. Sie sieht in die Landschaft hinaus. Sie betrachtet sie aufmerksam wie ein Bild. »Ihr Blick glitt unaufhörlich von einem Punkte zum andern. Man fühlte: das war eine unter vielen kleinen Zerstreuungen, wie sie ein Leben ohne große Beschäftigungen ausfüllten. Und eine, die zur Regel geworden war.« Es ist ein Tag wie tausend andere. Vielleicht aber doch nicht. Vielleicht ist es der geheimnisvolle Tag, von dem ein großer zeitgenössischer Denker, Franz Rosenzweig, schreibt: »Das Selbst überfällt den Menschen eines Tages wie ein gewappneter Mann und nimmt von allem Gut seines Hauses Besitz.« Dies tief Verschlossene, in sich vertrotzte Selbst, das Erbe sämtlicher Gestalten dieses Dichters, tritt hier als stummer Hochmut des Besitzes in die Heldin ein. Und nicht so bald erscheint es, ist dies Kind in seinem Prätendententrotz erstarrt wie Ödipus in seiner Verblendung, Antigone in ihrer Pflicht, Elektra in ihrer Rache. Es ist nicht zuletzt die außerordentliche Komposition, die diese Vergleiche heraufruft. Ein Menschenschlag, ein sagenhaftes Geschlecht, das in der griechischen Tragödie die Verhaftung im Mythos zum erstenmal durchbricht – nichts anderes als diese Durchbruchstelle ist die Tragödie –, taucht hier mitten in der gespenstischen Helle und Nüchternheit des vorigen Jahrhunderts in sein finsterstes, gebundenstes, ausweglosestes Dasein von neuem unter. Daher konnte das Außerordentliche eintreten: ein Roman die Notwendigkeit der antiken Tragödie erreichen, ja eine hoffnungslosere und strengere. Denn hier müssen die Tore fehlen, durch welche der Chor sich eindrängt.
Doch ist es nicht im Grunde germanische viel eher als griechische Antike, der Todestrotz germanischer Frauengestalten, der hier im Geiz sich auf das unheilvollste mit jener scheelen, verkümmerten Dingwelt verklammert? Der Trotz hat sich aufs Unnatürlichste geworfen und den Besitz zum Charakter geschlagen. So ist die Heldin von Mont-Cinère in früher Jugend schon von Leidenschaft verholzt, durchwachsen. In allem ihrem Tun ein einziges, atemraubendes Widerspiel zu dem reinen, sachlichen Kinde, das in den Märchen handelt. Dem müssen alle Dinge zum besten dienen. Es hat eine glückliche Hand. Wie anders hier. Wie glänzend besteht dies Kind die Märchenprüfung von den sechs Armenhemdchen, und dennoch wird die Fee, die tapfere Methodistenschwester, die sich seiner annimmt, mit ihrem Segen nur Not und Tod stiften. Denn der Geiz ist immer in Todesnöten, ihm werden alle Dinge zum Strohhalm, an welchen er in letzter Angst sich klammert. Dem Geiz kommt überall der Boden der Kassette zum Vorschein. Die Welt ist ihm fadenscheinig von Anfang an. Er ist immer Matthäi am letzten. Giotto vergaß ihn unter den Allegorien der Laster in Padua. Aber mit jeder ihrer Gebärden sind die Gestalten dieses Werkes bereit, in den ewigen Zyklus seiner Fresken hineinzutreten.