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Europäische Lyrik der Gegenwart. 1900-1925.

In Nachdichtungen von Josef Kalmer. Wien, Leipzig: Verlagsanstalt Dr. Zahn und Dr. Diamant (1927). 320 S. (Weltanthologie des XX. Jahrhunderts. I.)

Zunächst, wie es nicht anders zu erwarten ist, zahllose Namen. Man kann nicht sagen, daß kein Prinzip der Auswahl in ihnen läge. Doch es begreift sich, was dabei herauskommt, wenn man von möglichst jeder Schule einen Vertreter zu Wort kommen läßt. Man erfährt damit, wie es in Köpfen aussieht, denen das Bild einer »Weltanthologie« vorschwebt. Ein Gedicht ist ihnen vor allem Repräsentant: das Gedicht repräsentiert seinen Dichter, der Dichter repräsentiert seine Schule, die Schule repräsentiert die Lyrik ihrer Nation. Und so versammelt denn der Übersetzer nach seinem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht eine konstituierende Versversammlung, als deren Präsident er der begreiflichen Illusion unterliegt, Verhandlungssprache dieser Assemblée sei die Poesie. Er setzt zur Einführung in ihre Grammatik eine eigene, von ihm besonders gelungen erachtete Rimbaud-Übertragung neben entsprechende von Zweig, Stefan George, Rexroth u.a. Diese Geschmacklosigkeit ist bezeichnend für das terre-à-terre seiner Sammlung. »Gedichte sind uns heute ein Genußmittel – mit dem Strohhalm zu saugen.« So Josef Kalmer.

Übersetzt einer Drucksorten, Kataloge, so verlangt man von ihm nichts weiter, als daß er die Sprache, in der er liest, und die Sprache, in der er schreibt, hinreichend kenne. Wie tief diese Kenntnis im übrigen geht, ob sie gewachsen oder improvisiert, vermittelt oder direkt erworben, tut nichts zur Sache. Verse aber sind keine Informationen. Kommt einer, der aus fünfzehn oder zwanzig Sprachen lyrische Dichtungen übersetzt, erwartet man von ihm vor allem einen Hinweis, wie er dazu gekommen, wie es möglich war, daß so ein ungeheurer Sprachkreis lebendig konnte ausgemessen und erfahren werden. Den Wert der Lexika in allen Ehren – beim Übersetzer fremder Dichtung sind wir gewohnt, berechtigt tiefere Quellen des Vertrautseins anzusetzen. Auch gibt es keinen, der behaupten dürfte, zur »Lyrik« überhaupt ein inniges Verhältnis – es sei denn höchstenfalles eins zur türkischen, zur angelsächsischen, zur russischen, kurz eine Liebe, welche zuvörderst die bestimmte Neigung zu der bestimmten Sprache ist – zu hegen. Wie nun so ein linguistischer Don Juan seine Eroberungen gemacht hat, das zu erfahren wäre tausendmal wissenswerter als eine noch so getreue Beschreibung der Schönen, die er in den verschiedenen Zungen genossen. Und wer imstande ist, über einen so brillanten und süßen, aber auch anstößigen Wandel im Worte sich auszuschweigen, als ob er harmlos und alltäglich wäre, der macht uns unwillkürlich gegen seine bonne fortune ein wenig skeptisch. Wir schlagen daher nicht ohne Beklemmung dies neue Leporello-Album auf. Und in der Tat: uns klingen die Ohren.

So viel (mehr als genug), weil das Unternehmen verspricht, jene unvorstellbare Synthese von Bildung und Respektlosigkeit, die eigentliche Quintessenz des deutschen Philisteriums, in einer Folge weiterer Anthologien zu belegen. Und das in einer Zeit, die in Männern wie George, wie Borchardt die Meisterschaft, Männern wie Schröder, Wolde, Hefele die Gewissenhaftigkeit der Übertragung erneuert hat.


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