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Anläßlich der Uraufführung in München und Hamburg
Hugo von Hofmannsthals »Turm« hat in diesen Wochen seinen Weg über die deutschen Bühnen begonnen. Daß die Bühnenfassung Hugo von Hofmannsthal, Der Turm. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. 2., veränderte Fassung. Berlin: S. Fischer Verlag (1927). 149 S. von der Urform, die 1925 in den »Neuen deutschen Beiträgen« erschienen ist, sich sehr wesentlich unterscheidet, ja einen völlig neu verfaßten vierten und fünften Akt bringt, möchte an dieser Stelle zumindest – einen Vergleich beider Fassungen noch nicht rechtfertigen. Nein, was den Anlaß gibt, trotz unserer Anzeige in Nr. 15/II der »L[iterarischen] W[elt]«, auf das Drama zurückzukommen, sind die außerordentlichen Einblicke, die der Fortschritt von einer Fassung zur andern in die Arbeitsweise des Dichters und die Struktur seines Stoffes eröffnet. Man weiß, daß er den einem Werk von Calderon »Das Leben ein Traum« entnahm. Dieser formelhafte Titel, in dem das dramatische Wollen der Zeit einen gewaltigen Ausdruck fand, heißt bei Calderon zweierlei. Er sagt: Das Leben ist nicht mehr als ein Traum, seine Güter sind Spreu. Das ist seine weltliche Weisheit. Aber er sagt auch: So wie ein Nichts – dies Leben – über unsere Seligkeit entscheidet, vor Gott gewogen und gerichtet wird, so entrinnen wir sogar träumend, in der Scheinwelt des Traumes, nicht Gott. Traum und Wachen – sie sind vor Gott nicht geschiedener als Leben und Tod; die christliche Achse ragt ungebrochen durch beide. Dieses zweite Motiv des Titels: der Traum als theologisches Paradigma konnte der neuere Dichter unmöglich sich aneignen wollen. Und aus einer gänzlich veränderten Fassung des Traummotivs schien ein neues Drama sich mit zwingender Logik als Variante herauszubilden. Der Traum nämlich hat in der ersten Fassung des »Turms« alle Akzente eines chthonischen Ursprungs. Der letzte Akt der Urfassung insbesondere zeigt Sigismund, den Prinzen, als beschwörenden Meister der finsteren Gewalten, denen er dennoch, in eben diesem Endkampf, schließlich weichen muß. So ließ in einem gewissen Sinne sich sagen, der Prinz sei an Mächten zugrunde gegangen, die aus dem eigenen Innern gegen ihn aufstanden. Spielt nun ein solcher Vorgang in das Tragische hinüber, so hat doch der Dichter eben nicht ohne Absicht sein Stück »Trauerspiel«, nicht »Tragödie« genannt. Und es ist unverkennbar, wie in der neuen Fassung die reinen Züge einer Duldergestalt im Sinne des christlichen Trauerspiels immer deutlicher nach Gestaltung verlangten, das ursprüngliche Traummotiv damit zurücktrat, und die Aura um Sigismund lichter wurde.
Daß auf den Lippen dieses Unmündigen jeder Laut zum Laute der Klage sich formen mußte – weil Klage der Urlaut der Kreatur ist – darin lag eine der ergreifendsten Schönheiten der ersten Fassung. Aber auch der gewagtesten. Denn die Lösung der Klage aus den Banden des Verses ist ein unerhörtes, seit der Prosa des Sturmes und Dranges nie unternommenes Vorhaben, von dem nichts weniger als gesichert ist, ob es im Rahmen des Dramatischen völlig zu glücken vermöchte. Freilich ist auch der stillere, bestimmtere Sigismund dieser zweiten Fassung Glied jener Kette, welche immer wieder von den Dichtern aufgegriffen ward, wenn sie die heimliche Bindung wortlosen Duldens an all das, was nebelhaft, urmütterlich um frühe Kindheit braut, gestaltet haben. Der Prinz, auch in der neuen Gestalt, ist vom Schlage des Kaspar Hauser. Auch in dem neu gestalteten Helden tauchen die Worte aus dem aufgewühlten Lautmeer nur flüchtig hervor, mit erdfremdem Najadenblick um sich schauend. Es ist der gleiche, welcher heute in der Sprache der Kinder, der Visionäre oder der Irren uns so tief betrifft. In den Urlauten der Sprache, nicht in ihren höchsten, kunstvollsten aber auch abhängigsten Gebilden, hat der Dichter deren gewaltigste Kräfte aufgerufen, als Nothelfer in ihren Kampf sie eingestellt, der der seine ist. Nur wandte das kreatürliche Wort, mit dem der Dichter seinen ersten Sigismund begabte, sich gegen Ende immer finsterer ins Chthonische, Dräuende. Dagegen dringt, wo in der neuen Fassung das lichte Schweigen des Prinzen wie Morgennebel zerreißt, das unverstellte Wort der anima naturaliter christiana wie Lerchenruf zu uns. Das Chthonische, das mit dem Fortfall des Traummotivs sein Gewicht verlor, klingt nur noch verhallend nach. Und nichts ist für die strenge und gelassene Haltung, in der der Dichter an die neue Fassung ging, bezeichnender, als daß selbst das schrecklichste Wahrzeichen des kreatürlichen Innern, der aufgeschnittene Bauch eines Schweins, das Sigismund vor Zeiten schauernd beim Bauern, seinem Pflegevater, am Querholz erblickte, nun seine Bedeutung gewandelt hat: »Die Morgensonne fiel ins Innere, das war dunkel; denn die Seele war abgerufen und anderswo geflogen. Es sind alles freudige Zeichen, aber inwiefern, das kann ich euch nicht erklären.«
Mit ganz anderem Nachdruck als vordem gruppiert sich nunmehr das Geschehen um die politische Aktion. Abgesehen von zwei Szenen, ist Schauplatz die Burg des Königs. Diese Wendung rechtfertigt sich nicht allein durch einen sehr viel strafferen Aufbau der Handlung, sondern bewährt sich besonders glücklich in der Darstellung des Aufstands, der für den Zuschauer etwas von dem Gesicht einer Palastrevolte erhält, und damit dem »in der Atmosphäre dem siebzehnten« Jahrhundert verwandten Ablauf dieses Geschehens sich sicherer einfügt als vorher. In der Verschwörung, auf die es hinausläuft, durchdringen sich das politische und das eschatologische Element. Mit diesem Widerspiel ergriff der Dichter ein Ewiges, Providentielles aller Revolution. Wie denn vielleicht ewige politische Konstellationen kaum je in neuere Geschichte bleibender, bewußter als in ihr siebzehntes Jahrhundert sich prägten. Die Macht jedoch, die von Gewalttätigen und Schwarmgeistern getragen wird, behielt mit ihrem schwärmerischen Führer, dem Kinderkönig, in der ersten Fassung das letzte Wort, während in der zweiten die Landsknechtsfigur, Olivier, am Ende als Befehlender dasteht. Das macht: Sigismund selber hat die Figur des Kinderkönigs in sich aufgenommen. Der Zwiespalt, der ihn wollen und nichtwollen ließ, ist vom Dichter geschlichtet, und jetzt erst tritt mit ganzer Bedeutung heraus, was er seinem Meister, dem Lenker der Revolte und dem Wegbereiter seiner Herrschaft, zu sagen hat: »Du hast mich ins Stroh gelegt wie einen Apfel, und ich bin reif geworden, und jetzt weiß ich meinen Platz. Aber der ist nicht dort, wohin du mich haben willst.« Nicht im Kriegslager und als Herr über Truppen und Fürsten stirbt Sigismund, sondern als Wanderer an der Landstraße, die da in »ein weites offenes Land« führt. »Es riecht nach Erde und Salz. Dort werde ich hingehen.«
Wenn im Verscheiden über seine Lippen die Worte: »Mir ist viel zu wohl zum Hoffen« kommen, was heißt das anderes als Hamlets: »In Bereitschaft sein ist alles. Da kein Mensch weiß, was er verläßt, was kommt darauf an, frühzeitig zu verlassen?« Daher ist es vielleicht nicht voreilig, den dichterischen Raum, den diese beiden Versionen des »Turms« erfüllen, von den gleichen Kräften durchwaltet zu denken, die die blutige Fatalität des vorshakespearischen Dramas in die Welt der christlichen Trauer wandeln, die im »Hamlet« begründet ist. Der große Dichter darf in der Spanne weniger Jahre inneren Notwendigkeiten der Formen und Stoffe gerecht werden, die im Ursprung Jahrzehnte brauchten, sich zu erfüllen.