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Zu Werner Hegemanns »Das steinerne Berlin«
Werner Hegemann, Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt. Berlin: Verlag Gustav Kiepenheuer (1930). 505 S.
Seit zwei Jahrhunderten hat Berlin seine ausgedehnte Spezialliteratur, in der es, wie die andern großen Städte auch, seine Lokalgeschichte aufzeichnet und seinen Überlieferungen nachgeht. Es ist aber ein Schrifttum, das im Bereich der Berolinensien bleibt, in dem die Stadt sich mehr zu spiegeln als zu begreifen sucht. Selbst die sprichwörtliche Kritiklust ihrer Bewohner machte vor der Erscheinung der Heimat mit Rührung Halt, nahm Einzelnes zur Zielscheibe ihrer Satire, bewitzelte die Denkmäler, aber behelligte nicht die Mietskasernen. Nun beginnt im Maße, wie die Liebe des Berliners zu seiner Stadt freier wird und ihre provinzielle Sentimentalität verliert, auch die Kritik an ihr zu erstarken. Das Schrifttum über die Weltstadt will öffentlichen, ja europäischen Charakter annehmen. Diese Entwicklung in der Stille einer langjährigen redaktionellen Arbeit unermüdlich gefördert zu haben, ist das Verdienst Werner Hegemanns, des Herausgebers der Wasmuthschen Monatshefte für Baukunst und Städtebau. Hegemann, der jetzt mit einer monumentalen Baugeschichte Berlins hervortritt, ist einer der ganz wenigen entscheidenden Köpfe, die ihr immenses Fachwissen nicht sowohl nach außen in immer umfassenderen Kreisen erweitert als von innen durch immer strengere Konzentration gesprengt haben. Wie er sich heute darstellt, ist er ein Mann von ausgeprägtester staatsbürgerlicher Bildung, ein Mann, der an jeder Angelegenheit, mit der er befaßt ist, die kulturellen und politischen Funktionen in engster Wechselwirkung erlebt, ein Mann, der an die Planung öffentlicher Anlagen in amerikanischen Städten mit der gleichen Exaktheit und Phantasie herantrat wie an die historischen Studien über die preußischen Könige.
Es ist freilich eine seltsame Phantasie, die im Bannkreis eines strengen Rationalismus seit jeher seine Arbeiten inspiriert. Sie ist nämlich eine rebellische. »Phantasie«, sagt Chesterton, »hat ihren höchsten Zweck in rückschauender Verwirklichung. Die Posaune der Phantasie wie die Posaune der Auferstehung ruft die Toten aus ihren Gräbern. Phantasie sieht Delphi mit den Augen eines Griechen, Jerusalem mit den Augen eines Kreuzfahrers.« Es ist wunderbar, wie sehr diese interessante, wenn auch fragwürdige Definition auf den Historiker Hegemann zutrifft. Er sieht wirklich die Dinge mit den Augen des jeweiligen Zeitgenossen und zwar eines grundsätzlich mißvergnügten. Man kann sein Mißvergnügen verstehen. Denn er hat die Quellen so unvergleichlich studiert, sein Wissen ist in allen Details so stichfest, daß er bis auf den Grund der tausend Schwächen, der tausend Unzulänglichkeiten der Menschen dringt, die ehemals – jemals – an der Spitze standen. Er schreibt die ewig aktuelle Geschichte, mit anderen Worten, die Skandal-Geschichte. Nur darf er sich's ausbitten, daß dies Wort im vollsten Sinne verstanden werde: nach dem lateinischen scandalum, als das Ärgernis. So begriffen, springt die Rolle dieses Aufklärers um, bekommt einen Einschlag ins Theologische. Und unwillkürlich sieht man sich in den moral plays nach ihm um, vermißt ihn; da scheint noch eine Stelle auf ihn zu warten: die Rolle des Querulanten beim Weltgericht.
So verklagt er nun die Stadt Berlin vor dem Weltgericht. Wir, die geschundenen Steuerzahler, haben, weiß Gott, das Recht, diese Stadt, deren Verwaltung von einer Blamage in die andere taumelt, vor allen möglichen Gerichten zu belangen. Wie weit wir aber vor dem Weltgericht sie belasten möchten, werden wir, trotz allem, noch überlegen. »Die größte Mietskasernenstadt der Welt« nennt sie Hegemann. Wer muß es nicht mit Schrecken innewerden, was dieser Name bedeutet? Und wen muß nicht beim Aufmarsch der Entlastungszeugen Zorn und Ekel packen, dieses Treitschke, der die unvergeßlichen Worte für sie gefunden hat: »So elend ist keiner, daß er im engen Kämmerlein die Stimme seines Gottes nicht vernehmen könnte«, und dieses Hobrecht, der im Jahre 1868 schon die ganze schlummernde Courths-Mahler-Poesie aus der Mietskaserne herausholte, wenn er schrieb: »In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns auf dem Wege nach dem Gymnasium. Schusters Wilhelm aus der Mansarde und die alte bettlägerige Frau Schulz im Hinterhause ... werden in dem 1. Stockwerk bekannte Persönlichkeiten. Hier ist ein Teller Suppe zur Stärkung bei Krankheit, da ein Kleidungsstück, dort die wirksame Hilfe zur Erlangung freien Unterrichtes oder dergleichen, und alles das, was sich als das Resultat der gemütlichen Beziehungen zwischen den gleichgearteten und wenn auch noch so verschieden situierten Bewohnern herausstellt, eine Hilfe, welche ihren veredelnden Einfluß auf den Geber ausübt.« Wer möchte nicht atemlos einer Verhandlung folgen, bei der sie alle aufmarschieren, von den Hohenzollernkönigen an, die das Kasernenwesen auf die Zivilbevölkerung ausdehnten und durch unsinnig hohe Bauten den Berliner Bodenwucher begründeten, über die superklugen Polizeiassessoren, die als erste auf den Gedanken gekommen sind, um der Stadt die Enteignungskosten für ihr Straßenland zu sparen, den Eignern für die ihnen bleibenden Terrains die unbeschränkte Ausbeutung durch eine Bauordnung zu gestatten, derzufolge jeder von den drei Höfen in den durchschnittlichen Mietskasernen nur etwas über 5 Quadratmeter zu umfassen brauchte, bis zu jenen »Millionenbauern«, deren spekulativ verteuerte Terrains die Stadt bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit einem Eisengürtel umgaben. Wer könnte sich der aufwühlenden Gewalt der corpora delicti entziehen, die in vollendeter Wiedergabe bei den Akten befindlich sind: »der Spittelkolonaden als Rahmen für Litfaßsäulen«, der Nummer 62b der Schönhauser Allee, deren stattlich muntere Fassade dem sehenden Auge die stinkende Öde der drei Höfe verrät, die sich hinter ihr aneinanderreihen, der Gegenüberstellung des Großen Sterns in der edlen Schinkelschen Planung und der tierischen wilhelminischen Ausführung? Hier, wo der Verfasser von der dialogischen Form seines »Fridericus«, seines »Napoleon« und »Christus« abging, ist er zur allerhöchsten dialogischen, ja forensischen Spannung durchgedrungen. Der Anteil, den diese weit angelegte, aber niemals weitschweifige Darstellung dem Leser abgewinnt, ist für dessen Kultur in öffentlichen, ja politischen Dingen ein Maßstab.
Hegemann hat dieses Monumentalwerk dem Andenken an Hugo Preuß gewidmet. Nach Wermuths Worten war dieser es, »der den Berliner Gedanken zum Aufbau der neuen Großstadt die Form gab«. Dasselbe gilt bekanntlich von den Gedanken zum Aufbau des neuen Reiches: Preuß ist einer der Urheber der Weimarer Verfassung. Der Schluß ist nicht zu kühn, daß auch Hegemann ein demokratischer Kopf ist. Wer hinter seinem fanatischen Negativismus linksradikale Tendenzen im heutigen Sinne vermuten würde, ginge sehr fehl. Dieses Faktum – man mag zu ihm stehen, wie man wolle – ist unbestreitbar. Und es ist im Grunde der Schlüssel zu der höchst fesselnden, ja inkommensurablen Erscheinung des Mannes. Gewiß hat es einen demokratischen Fanatismus gegeben – das Jakobinertum von 1792. Heute aber gilt nicht umsonst das demokratische Credo als das des in jedem Sinne Gesetzten, Gemäßigten. Der demokratische Geist ist der unserer herrschenden Ordnung. Härte und Grausamkeit können einer herrschenden Sache dienen, Fanatismus niemals. Hegemann stellt diesen Anachronismus: den fanatischen Demokraten, den Jakobiner von heute, dar. Das ewig wache Mißtrauen Robespierres, seine unbestechliche Witterung für Korruption, seine weltfremde Lauterkeit – all' das ist in Hegemann auferstanden. Dem entspricht der methodische Ort seines Werkes. Es ist ein politisches im Sinne der Aufklärung, will sagen ein kritisches durch und durch. Aber in keinem Sinn ein entlarvendes. Was immer Hegemann entdeckt, – und sein Werk ist voller Entdeckungen – es sind Zufälligkeiten. Ärgerliche, anstößige, empörende Abweichungen von der Norm des Graden, Vernünftigen, niemals jedoch Auswirkungen der besonderen, konkreten, verborgenen Konstellationen des geschichtlichen Augenblicks. Seine Darstellung ist eine einzige imposante, in ihren Grundzügen gewiß unwiderlegliche Korrektur an der pragmatischen Geschichtsschreibung, niemals aber deren Umwälzung wie der historische Materialismus sie erstrebt, wenn er in den Produktionsverhältnissen der Epoche die konkreten, wechselnden Kräfte aufspürt, die das Verhalten der Machthaber so gut wie der Massen ohne deren Wissen bestimmen. Lässigkeit und Korruption der Herrschenden, wo immer der Verfasser ihnen begegnet, stellt er fest. Aber noch der unbestechlichste kritische Geist bleibt im Pragmatischen. Das Innere der Geschichte ist dem dialektischen Blick vorbehalten. Daher das Problematische, ja hin und wieder Querköpfige des Werkes. Oder sollte der vollkommene Demokrat unserer Tage ein Querkopf sein müssen?
Unbestreitbar ist Hegemanns Buch ein Standardwerk. Man legt es aber schwerlich aus der Hand, ohne sich zu fragen, woran es liegt, daß es die schmale Spanne nicht überschreiten konnte, die es von jener letzten Vollkommenheit trennt, welche das Schicksal seines Buchs unabhängig von dem seines Gegenstands, ja, ein Schicksal dieses Gegenstands werden läßt. Wenn in dieser Weltgerichtsverhandlung über die Stadt Berlin irgend etwas zu wünschen übrig läßt, ist es die Ventilation. Im eigentlichen Sinne so gut wie im übertragenen. Der Verhandlungsraum ist nicht ventiliert, und auch die Fragen sind es nicht allseitig. Gewiß, wir leben in diesen Mietskasernen. Nostra res agitur. Aber hier ist ja nicht die Rede von dem, was ist, sondern dem, was war. Und da dürfte schon hin und wieder der kühle Wind des Gewesenen lindernd durch die überhitzte Aktualität der Verhandlung streichen. Selbst beim Weltgericht müßte es einen mildernden Umstand abgeben, daß alles schon so lange zurückliegt. Denn der Zeitlauf selber ist ein moralischer Vollzug, nicht im Vorrücken des Heute zum Morgen aber dem Umschlag des Heute ins Gestern. Chronos hält in der Hand ein Leporello-Bilderbuch, in dem die Tage einer aus dem andern ins Gewesene zurückfallen und dabei ihre verborgene Rückseite, das unbewußt Gelebte enthüllen. Mit ihr hat der Historiker es zu tun. Und von ihr gilt das Goethesche: »Es sei, wie es wolle, es war doch so schön.« Sie ist versöhnend.
Gewiß ist das Leben, das Hunderttausende Jahrhunderte lang in diesen Berliner Gelassen geführt haben, ungesund, unwürdig gewesen. Gewiß drückt sich das diabolische Wesen der Mietskaserne heute wie damals im Ehe- und Familienleben, in den Qualen der Frauen und Kinder, in der Borniertheit des Gemeinwesens, der Häßlichkeit seines Alltags aus. Aber ebenso gewiß ist es, daß Boden, Landschaft, Klima und vor allem Menschen – nicht nur Hohenzollern und Polizeipräsidenten – diese Stadt geschaffen und ihrerseits im Bilde der Mietskaserne einen Abdruck des ihrigen hinterlassen haben. Noch die planlose Rohheit dieser Siedlung, so gewiß ihr Kampf bis aufs Messer zu liefern ist, hat ihre Schönheit, nicht nur für den flanierenden Snob aus dem Westen, sondern für den Berliner, den Zille-Berliner selbst, eine Schönheit, die innigst seiner Sprache, seinen Sitten verwandt ist. Hegemann wäre freilich kein Jakobiner, wenn er vom Genius der Geschichte sich leiten, von seiner Hand den Zugang zu dem begnadeten Dasein – dem physiognomischen – sich weisen ließe. Dieser Aufklärer mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen besitzt für historische Physiognomie keinen Sinn. Sein Stammbaum hat seine Wurzeln in den knorrigsten, originalsten, aber auch blicklosesten Subjekten, die um die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts den norddeutschen Boden bevölkerten. Das ist ihm fremd, daß die Mietskaserne, so fürchterlich sie als Behausung ist, Straßen geschaffen hat, in deren Fenstern nicht nur Leid und Verbrechen, sondern auch Morgen- und Abendsonne sich in einer traurigen Größe gespiegelt haben, wie nirgend sonst, und daß aus Treppenhaus und Asphalt die Kindheit des Städters seit jeher so unverlierbare Substanzen gezogen hat wie der Bauernjunge aus Stall und Acker. Eine historische Darstellung aber hat all dies zu umfassen. Wäre es nicht um der Wahrheit, dann um der Wirkung willen. Nicht als abstraktes Negativum, als Gegenbeispiel darf vor uns stehen, was wir vernichten wollen. So kann es nur auf Augenblicke unterm erleuchtenden Blitze des Hasses erscheinen. Was man vernichten will, das muß man nicht nur kennen, man muß es, um ganze Arbeit zu leisten, gefühlt haben. Oder wie der dialektische Materialismus es sagt: These und Antithese zu zeigen, ist gut, eingreifen kann aber nur, wer den Punkt erkennt, an dem die eine in die andere umschlägt, da das Positive im Negativen und das Negative im Positiven zusammenfallen. Der Aufklärer denkt in Gegensätzen. Ihm Dialektik zuzumuten, ist vielleicht unbillig. Ist es aber unbillig, dem Historiker jenen Blick in das Antlitz der Dinge zuzumuten, der Schönheit noch in der tiefsten Entstellung sieht? Verneinende Geschichtserkenntnis ist ein Widersinn. Nichts zeugt mehr für die Kraft, die Leidenschaft und Begabung des Autors, als daß ihm im Herzen des Unmöglichen ein Werk von dieser Fülle und Gediegenheit geglückt ist. Nichts beglaubigt unwiderleglicher seinen Rang.