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»Für heute ist alles vorbei, aber morgen ist auch ein Tag, wenn wir den Nota los werden. Er muß den Brief kriegen und das Datum des Briefes muß geändert werden.«
So sprach Moses zu den Brüdern vor dem Hause. Sie stiegen nun alle drei hinauf und traten in Manasses Zimmer. Manasse sah fragend auf Ruben. Dieser sagte fest: »Schreib!«
Er war übrigens still und ruhig, aber ersichtlich ganz entschlossen, alles gutzuheißen und zu tun, was ihm Kamilla nahebringen könnte.
Manasse schrieb, seine Handschrift möglichst verstellend, denn er war immer noch besorgt, und änderte den Inhalt dahin, daß Nota am nächsten Tage, das hieße »morgen« verhaftet werden solle. »Warum so?« – sagte Moses – »darum: der liederliche Mensch kommt erst in der Nacht wieder in seine Wohnung. Und da Herr Manasse keine Courage hat, diesen Brief dem Portier einzuhändigen, so werde ich zwanzig Kreuzer dranwenden und einen Dienstmann schicken. Ich gehe hinterher und sehe zu, daß der Brief richtig abgegeben wird. Nicht wahr, Herr Ruben?«
Er fragte wegen der zwanzig Kreuzer und Ruben verstand es so gut, daß er ihm eine Fünfguldennote gab.
»Nun, wie weiter?« fragte Moses. »Nichts, gar nichts unternehmen in der Villa. Also auch den Abbate bis morgen warten lassen auf den Börsengalopin. Morgen erst geht Manasse hinaus und spricht nicht mehr von einem italienischen Sänger im ›Hotel de la ville‹, sondern von einem hiesigen Italiener, einem Partikulier, welcher heute in einem Privatkonzerte wunderbar gesungen und nach einem Abbate Salvo gefragt habe. In Ancona habe man ihm diesen Abbate als den feinsten Musikkenner geschildert, und er glaube nicht zuversichtlich an seine Virtuosität, solange ihn nicht dieser Abbate gehört und gelobt habe.«
Das wurde abgemacht. Wie ertrug nun aber Ruben die Pause von vierundzwanzig Stunden? Sehr gut. Seit er Kamilla gesprochen hatte, war die Überzeugung gleichsam durch den Verstand in ihm gefestigt worden: sie ist dir alles, sie ist der Inbegriff deiner Welt, nach ihrem Besitze wirst du trachten bis ans Ende deines Lebens.
Dadurch war eine freudige Ruhe in sein ganzes Wesen gebracht worden. Er sprach kein Wort darüber, weder zum fragenden Manasse, noch zur ängstlich forschenden Mutter. Zu dieser sagte er lächelnd: »Der Ungestüm und die Unklarheit sind vorüber, es waltet Friede in mir, stört mir den Frieden nicht durch Nachfragen.«
Noch ehe die Talmudstunde kam, saß er unten in der großen Stube am Klavier und phantasierte darauf. Die Mutter trat zu ihm, und zu ihr aufblickend, sagte er: »Die Musik ist voll wunderbaren Trostes; ich hab' mir auch ein Klavier gemietet für mein Zimmer. Wenn's gut ist, werd' ich mir's kaufen.«
»Kaufen?« Dies befremdete die Mutter nicht, denn sie wußte, daß Ruben schon seit einem Jahre eigene Geschäfte betrieb und recht ansehnlichen Gewinn erworben hatte. Er war in der Tat ein ganz praktischer junger Mann, und er war ihr nie so ungewöhnlich aufgeregt, so seltsam erschienen wie jetzt.
Als der Vater kam, setzte er sich gehorsam an den Tisch und machte keinerlei kritische Einwendung gegen den Satz, welcher an die Reihe kam. Es war just ein Satz, welcher den Widerspruch herausforderte, und Vater Abraham sah überrascht vom Buche auf, als Ruben schweigend verblieb. Vater Abraham schüttelte den Kopf und schaute wie fragend auf seinen ältesten Sohn, als er das Talmudstudium beendete und aufstand. Und immer wieder das Haupt schüttelnd, ging er hinaus, als Ruben sofort ans Klavier geschritten war und den feierlichen Synagogengesang anstimmte.
Er sang herrlicher als je, und die Mutter mußte ihn zum Schlusse zwingen, denn er zerstöre seine Nerven.
Statt auf sein Zimmer zu gehen, schritt er aus dem Hause und schritt wieder hinaus zur Villa, welche ihn eben anzog wie der Magnet das Eisen. Er erwartete nicht, sie zu sehen, er wollte nur ihr nahe sein und ging da hin und her, obwohl es regnete. Durchnäßt kam er nach Hause, aber wohlgemut.
Am andern Morgen – er lag noch im Bette – kam das bestellte Klavier. In die Mitte des Zimmers hieß er es stellen und stimmen, und als die Träger wie der Stimmer fort waren, stand er auf und fing an zu spielen.
Manasse kam und erzählte, daß Moses schon dagewesen mit der Nachricht, der Brief für den Cavaliere sei richtig abgegeben worden. Wahrscheinlich lese ihn dieser aber erst gegen Mittag, denn so lange schlafe er. Man müsse sich also heute noch in acht nehmen vor dem schlimmen Italiener.
Um Mittag werde er – Manasse – zum Abbate hinausgehen und diesem erzählen, daß ein außerordentlicher Sänger vor ihm singen möchte. »Du erwartest mich?« schloß er.
»Ja.«
Er wartete aber nicht, sondern kleidete sich an, trat zu einem Regale, welches mit musikalischen Heften bedeckt war – er hatte von Jugend an Musikstudien betrieben – und wählte ein Heft aus. Dies faltete er zusammen und steckte es in die Brusttasche. Dann ging er aus dem Hause und ging seines Weges. Ein Liebender hat ja nur einen Weg, den Weg zur Geliebten, und er ist, weil von Liebe erfüllt, immer des sichern Glaubens, er werde ans Ziel kommen.
Jetzt regnete es nicht mehr. Dies war ihm ein Zeichen, da auch die Sonne nicht schien, Kamilla werde auf dem Bergsteige einherwandeln. Sie hatte ja gestern Scheu vor der blendenden Sonne gezeigt, der bedeckte Himmel also werde sie rufen.
In der Villa waren alle Fenster verhüllt. Dies störte ihn nicht. Ein leichter Wind wehte vom Karst herab; das ermunterte ihn, er stieg den Pfad hinauf und ließ sich auf der Bank unter der Platane nieder. Sein Vorsatz war: zu warten und zu warten, wäre es bis Sonnenuntergang. Er hatte eben, wie Liebende, nur einen Gedanken. Dieser alles umfassende Gedanke werde ihn, meinte er, den ganzen Tag nicht verlassen und ihm die Zeit auf das Angenehmste vertreiben, wenn Kamilla unerwarteterweise abgehalten würde, daherzukommen.
Und danach sah es aus: Kamilla war gestern abends beunruhigt worden. Die Tante hatte sie auf ihr Zimmer rufen lassen und hatte ihr angekündigt, daß morgen ihre Verlobung geschlossen werden sollte mit dem Cavaliere di Nota.
»Ah!?« hatte Kamilla ausgerufen, und nach kurzer Pause hatte sie erklärt, dazu sei doch die Bewilligung ihres Vaters notwendig.
»Dein Vater ist einverstanden« – hatte die Tante erwidert.
»Davon weiß ich noch nichts, ich werde ihm schreiben« – hatte Kamilla bemerkt.
Sie war wirklich ruhig. Ihr junges Leben war von einer stillen Harmonie erfüllt, und sie ließ sich nicht stören durch irgend eine Zumutung.
Als nun die Tante dies Schreiben nach Ancona für unnütz erklärte und hinzusetzte, daß sie, die Tante, allein für die Zukunft eines unvermögenden Mädchens zu sorgen hätte, Kamilla aber trotzdem stockstill verblieb, da war die Tante sehr ungnädig geworden und hatte gerufen: »Undankbares Kind! Du siehst, daß meine Krankheit mich ins Bett geworfen und ärgerst mich noch! Aber auch hier vor meinem Bette, wenn mir nicht besser wird, soll morgen dein Leben sichergestellt werden. Mein Testament liegt fertig da und wird morgen zum Abschlusse der Eheverbindung seine dich beglückende Rolle spielen. Geh' in dich und sei morgen ein gutes Kind. Du kennst die Welt noch nicht und mußt dich führen lassen. Eine Neigung steht dir nicht im Wege, wozu also der Aufschub?!«
Mit diesen Worten hatte die Tante sie verabschiedet und Kamilla war zum ersten Male gedankenvoll fortgegangen. Sie hatte zum ersten Male unruhig geschlafen und war mit den Worten aufgestanden: »Nein, ich mag ihn nicht.«
Dann hatte sie sich an den Schreibtisch gesetzt und hatte ihrem Vater geschrieben, daß sie diesen Mann nicht möchte.
Nachdem sie den Brief in ein Kuvert geschoben und adressiert hatte, war sie ans Fenster getreten und hatte hinausgeblickt, ob es noch regnet, und da es nicht mehr regnete, so hatte sie gemeint, ihre Unruhe werde vergehen, wenn sie in die freie Luft ginge.
Und sie ging hinaus auf den Bergpfad.
Heute sah Ruben sie kommen und ging ihr entgegen, sie italienisch begrüßend. Er hatte gestern gehört, daß sie unvollkommen Deutsch spräche, er aber sprach geläufig Italienisch.
Sie schien nicht überrascht zu sein und fragte lächelnd – o, dieses unschuldige Lächeln des kleinen Mundes war Seligkeit für ihn! – ob er wieder ein neues Lied habe.
»Ja und eines, welches Sie nahe angeht.«
»Mich?«
»Ja. Es preist Ihr Vaterland, preist Italien und ist von einem unserer größten deutschen Dichter.«
»Ah!«
Er suchte ihr Raum zu geben, damit sie zur Bank gehen könnte. Diesmal wollte er von dem schmalen Pfade nach dem Abhange zu ausweichen und strauchelte. »Oh!« rief sie und streckte die Hand aus, ihn zu halten. War das ein Glücksschauer, der ihn durchbebte! Dann ging sie voraus und setzte sich auf die Bank, als ob sich das von selbst verstände.
»Also – sagte sie – »wie klingt es?«
»Nicht so leicht wie das gestrige und es braucht eigentlich Begleitung«, sagte er, das Notenblatt hervorziehend und sich neben sie setzend.
»Lassen Sie hören!«
Er sang mit halber Stimme: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn?«
»Italien!« rief sie, und als der Vers beendigt war, sagte sie zögernd: »Die Musik klingt nicht italienisch.«
»Sie braucht Klavierbegleitung, und hier haben wir kein Klavier.«
»Aber in unserer Villa haben wir ein treffliches Instrument und der Herr Abbate würde sich freuen ,…«
»Abbate Salvo?«
»Ja. Kennen Sie ihn?«
»Nein. Aber ich möchte ihn kennen lernen, er soll ein trefflicher Musiker sein.«
»Er hat ein feines Gehör und spielt Violoncell. Eben als ich fortging, spielte er im Salon. Wenn wir rasch gehen, finden wir ihn noch.«
Ob er wollte! Ob ihn die Unbefangenheit des naiven Mädchens entzückte?
Eiligen Schrittes, Kamilla voraus, gingen sie nach der Villa, traten sie in den Salon. Sie hatten unterwegs fast gar nicht gesprochen, Kamilla hatte nur mehrmals lachend ausgerufen: »Der Abbate mit seinem Violoncell wird sich königlich freuen, Deutsch singen zu hören!«
Ruben hatte sich schweigsam verhalten, weil er dachte, jede Äußerung könnte zu Bemerkungen führen, welche Kamillen stutzen machen und sie zum Stillstehen veranlassen könnten.
Da saß er wirklich neben dem Fortepiano, der kleine Abbate, und geigte auf seinem Violoncell, welches so groß war wie er. Ohne Unterbrechung spielte er weiter beim Eintritte der beiden; er war mitten in einem Adagio und wiegte sein Köpfchen hin und her. Erst als das Adagio beendigt war, hielt er inne und sah auf wie ein Träumender.
»Unser Sänger von gestern, Papa!« – sagte Kamilla. – »Er hat sich entpuppt als ein warmer Bewunderer des Abbate Salvo, des trefflichen Musikers. Sein Wunsch ist, Sie spielen zu hören und dann ein deutsches Lied zu singen, welches unser Italien verherrlicht.«
»Zunächst aber bittet er Sie« – setzte Ruben hinzu – »dies wundervoll vorgetragene Adagio zu wiederholen.«
»Sehr gern!« sprach der Abbate und spielte noch einmal das Adagio und wiegte wie vorher sein Köpfchen.
Kamilla und Ruben, ganz einig im Schmeicheln, und Kamilla unter schalkhaftem Lächeln, applaudierten lebhaft, als er fertig war und ihm fiel die Frage gar nicht ein: Wer ist denn der Mann? Nein, das war ihm gleichgültig, er schwamm in seiner Musika.
»Jetzt« – rief Kamilla – »jetzt das neue Lied anhören, Papa, und dann Ihre Komposition des Trios für Violoncell, Klavier und Gesang, welches dort im Staube des Regals liegt, weil uns bisher der Sänger fehlte, denn Nota singt falsch.«
»Ja, ja! Also das Lied zuerst und dann meine Musika.«
Ruben setzte sich ans Instrument, legte sein Notenblatt auf, erfand dazu eine Einleitung und spielte sie. Kamilla stand zu seiner Linken, der Abbate rückte sich mit dem Violoncell zu seiner Rechten. Dann sang Ruben: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn.« Das Land war ihm Kamilla, und es lag ein Ausdruck in seinem Vortrage, welcher beide Zuhörer in hohem Grade anregen mußte, obwohl der Abbate nichts verstand als die Worte Zitronen und Orangen, welche er leise vor sich hin wiederholte. Am Schlusse des ersten Verses aber rief er: »Merkwürdig, merkwürdig, gar nicht wie unsere Musik und doch auch Musik!«
»Weiter, weiter! flüsterte Kamilla. Sie war sichtlich sehr erregt. Sie verstand ja die Worte, und der Sinn derselben schien einen eigentümlichen Eindruck auf sie zu machen. Bei den Worten: »Und Marmorbilder stehn und sehn mich an, was hat man dir, du armes Kind getan?« griff sie an ihr Herz, und ihre großen Augen wurden feucht.
Als er geendigt hatte, waren alle still. Er sah zu ihr in die Höhe mit seelenvollem Blicke, und ihr feuchtes Auge schien zustimmend zu antworten, als ob er gefragt hätte. Dann nickte sie ihm zu und sprach endlich: »Wunderbar! Ganz anders als unsere Lieder. Aber es trifft ins Herz.«
»Merkwürdig« – sprach der Abbate – »aber nun –«
»Jawohl, Papa, nun zu Ihrem Trio.«
Sie holte es herbei und legte es vor Ruben hin. »Ich bitte nur um einige Minuten, um mich zu orientieren«, sagte er, und sie erwiderte: »Natürlich!«
Der Abbate kehrte seinen Stuhl wieder nach der früheren Richtung, stimmte sein Violoncell, summte eine Melodie und nickte dann, auf Ruben zeigend, Kamilla zu, als wollte er sagen: »Dank dafür, daß du mir den Mann gebracht für mein Werk.«
Ruben intonierte ganz leise auf den Tasten die vorliegende Musik, welche ganz leichter Gattung war, fragte einige Male nach den Stellen, wo der Gesang eintreten sollte, erhielt rasch eifrige Auskunft vom Abbate und begann nun mit einem eigenen mächtigen Akkord, indem er rief: »Violoncello!« – »Ah!« schrie der Abbate und fiel ein.
Die musikalische Fertigkeit Rubens brachte es zuwege, daß Klavierspiel und Gesang rasch und fehlerlos von statten gingen, und da auch das Violoncell des Abbate immer lebhaft dazutrat, so wurde das Musikstück prompt ausgeführt. Kamilla rief bravi! über bravi! und der Abbate fiel Ruben um den Hals, fast weinend vor Freude.
Diese Gruppe wurde gestört durch den eintretenden Diener. Er meldete von der oben im Bette liegenden Signora Molitore, daß sie den Herrn Abbate und die Signorina Kamilla sofort zu sprechen wünschte.
Hatte sie von der Anwesenheit Rubens erfahren? Nein, ein Brief des Cavaliere Nota sei angekommen – sagte der Diener – und dies möchte wohl der Grund sein, daß sie die beiden Herrschaften sprechen wollte.
Die Herrschaften, an strenges Regiment gewöhnt, folgten denn auch sofort dem befehlenden Wunsche, und der Abbate sagte nur noch zu Ruben: »Sie kommen doch morgen wieder zu einer Wiederholung, ja?« – Ruben sagte bereitwillig ja. Kamilla aber reichte ihm die Hand und sprach: »Also auf Wiedersehen!«
Sie eilten, von der Tante scharf erzogen, dergestalt, daß sie vor Ruben aus dem Salon traten. Die Tür blieb offen, und der langsam folgende Ruben blieb an der Schwelle betroffen stehen, betroffen, denn er sah seinen Bruder Manasse im Hausflur. Manasse grüßte den Abbate und zog Papiere aus der Tasche, der Abbate aber sagte: »Warten, mein Lieber, warten, ich komme herunter. Großes Talent dort von Triest, großes!« und dabei zeigte er auf Ruben.
Manasse, nicht minder betroffen beim Anblicke Rubens, hatte doch die glückliche Eingebung, des besprochenen Namens eingedenk zu sein und auszurufen: »Des Signore Samuele?«
»Ja, ja,« antwortete der Abbate, »ich komme gleich herunter.«
Die neben ihm die Treppe hinaufsteigende Kamilla hatte den Namen gehört und grüßte noch einmal mit der Hand und mit den Worten: »Also, Signore Samuele, morgen um dieselbe Zeit!«
Manasse blickte offenen Mundes auf Ruben, leise flüsternd: »Du hier?« Ebenso leise verständigte ihn Ruben mit dem Zusatze: »Nicht eine Silbe erwähnen vom italienischen Sänger, wie Moses vorgeschlagen, nur wenn der Abbate fragen sollte, antworten: Ein wohlhabender Privatmann.«
Der Diener kam die Stiege herab, um Manasse ins Zimmer des Herrn Abbate zu führen, wie derselbe oben angeordnet habe, und Ruben verließ das Haus.