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Frau von Molitore saß aufrecht in ihrem Bette, als der Abbate und Kamilla bei ihr eintraten. Sie hielt einen Brief in der Hand und schalt auf die österreichische Regierung in ungewählten Ausdrücken.
»Diese Regierung« – rief sie den Eintretenden entgegen – »will den Cavaliere heute nachmittags verhaften. So schreibt er mir eilig. Er müsse deshalb augenblicklich abreisen und könne nicht zur Verlobung kommen. Hoffentlich ist er noch nicht fort. Lassen Sie sogleich anspannen, Abbate, und fahren Sie zum ›Hotel de la ville‹. Ist er noch da, es ist ja kaum Mittag, so bringen Sie ihn samt seinem Gepäck heraus zu uns. Im Mansardenzimmer oben kann er verborgen bleiben, wenigstens bis morgen. Ich bitte, Abbate, für Ihren Landsmann!«
Der Abbate war sehr erschrocken, er war ein furchtsamer Mann und erklärte stotternd, daß er als Fremder die einheimische Regierung um keinen Preis herausfordern dürfte.
»Dann schreiben Sie ihm rasch, was ich gesagt habe, dort an meinem Schreibtische!«
Er setzte sich ungern und schrieb ungern – man konnte ja seine Handschrift entdecken. Aber er schrieb, was sie diktierte.
»Fahren Sie in die Stadt und geben Sie den Brief beim Portier des ›Hotel de la ville‹ ab. Er soll ihn schleunigst dem Cavaliere einhändigen. Einen Gulden Trinkgeld für den Portier.«
»Das würde ebenfalls auffallen.«
»Herr Abbate!«
»Gefunden! Mein Börsengalopin wartet unten auf mich, ein junger Mensch mit raschen Beinen, der kann den Brief hinbringen.«
»Also vorwärts, vorwärts!«
Der Abbate ging hinunter zu Manasse und bat ihn, die Börsenangelegenheit bis morgen zu verschieben – »sie steht doch gut?«
»Ausgezeichnet!«
»Und diesen Brief beim Portier des ›Hotel de la ville‹ abgeben.«
Manasse sah die Adresse, dachte sogleich an Moses, nahm den Brief und eilte von dannen.
Er fand auch Moses im kleinen Buchladen Veitls – Veitl saß im Hintergrunde über seinem Kataloge – und erzählte ihm: »Was tun?«
Moses lachte und erwiderte: »Nichts. Höchstens den Brief lesen.«
»Warum nicht gar! Ich bin ja verantwortlich für die Abgabe.
»Abgabe gibt's nicht. Der Flegel von Cavaliere, der Nota, ist ja nicht mehr da.«
»Wer weiß! Und wenn ich morgen hinauskomme in die Villa, muß ich ja Auskunft geben über den Brief. Und wenn Ruben dann –«
»Still, der Veitl horcht!« sagte Moses und zog den Manasse auf die Straße, ärgerlich sagend: »Wie können Sie sprechen von Ruben und der Villa vor den Ohren Veitls, der ist ein Duckmäuser. Was Sie aber gesprochen, das sind lauter Skrupel, Skrupel vorn und hinten, weiter nichts. Der Nota ist fort, deshalb geh' ich heute zum Portier zu Ihrer Beruhigung, und wenn er sagt ›fort‹, dann brauchen Sie den Brief nicht abzugeben und bringen ihn morgen wieder hinaus. Kommen Sie!«
Unterwegs erzählte Manasse dem Moses, daß er den Bruder in der Villa gefunden, und zwar als einen willkommenen Gast.
»Die Liebe, die Liebe! 's ist unglaublich!« – schrie Moses. – »Ein schönes Gesicht ist mehr wert, als eine Million Guldenzettel, auch wenn die Guldenzettel sicher sind. Unsereins ist ausgespuckt von Jehovah! Pfui! Und überflüssig sind wir auch mit all unseren Ratschlägen, denn die Liebe macht alles besser, sie braucht keine Ratschläge. Wie heißt das Fazit? Man verhungert. – Sachte! sachte! Der Portier steht an der Tür. Bleiben Sie zurück! Wir gehören nicht zueinander.
Sie waren in die Nähe des Hotels gekommen und Moses ging zum Portier und sagte: »Ich soll fragen nach dem Cavaliere di Nota, Herr Portier.«
Er erwartete die Antwort: »Der Cavaliere ist abgereist.« Der Portier aber sprach mürrisch: »Numero elf.«
Das war ein Schlag ins Gesicht für den Moses, und verblüfft wußte er nicht gleich, was er sagen sollte, als der Portier sagte: »Was soll's, Jüd?«
Moses faßte sich und sagte: »Ich werd's ausrichten.«
Nach diesen Worten ging er schleunigst weiter. Manasse folgte ihm, und als ihm der immer noch verblüffte Moses diese Antwort mitteilte, da sagte Manasse: »Er ist also noch da und ich muß den Brief abgeben.«
»Nein, nein!« rief Moses. Manasse aber mit dem Gewissen eines Geschäftsmannes kehrte wirklich um und gab dem Portier den Brief zur Bestellung. Der Portier nahm ihn, ohne ein Wort zu sagen und trat ins Haus zurück.
Auf der andern Seite des belebten Platzes, um nicht wieder vom Portier gesehen zu werden, folgte nun Moses dem rasch fortschreitenden Manasse und holte ihn erst ein vor dem Schmuelschen Hause.
»Ich glaub's nicht, ich glaub's nicht!« – schrie er.
»Ich aber! Und nun müssen wir den Ruben warnen.« Sie fanden Ruben in seinem Zimmer am Schreibtische. Er schrieb an einem Tagebuche, welches er sich seit gestern angelegt hatte. Zum ersten Male in seinem Leben. Früher hatte er dergleichen verlacht. Jetzt verzeichnete er jede Regung, welche ihm beim Anblicke Kamillas durch die Seele gegangen, jedes Wort, das sie gesprochen, jedes Lächeln, jedes Aufschlagen oder Niederschlagen des Auges. Dabei immer eine genaue Schilderung ihrer Persönlichkeit; das in Locken wallende rotgoldene Haar, die großen Augen mit langen Wimpern, die feine griechische Nase, den lächelnden kleinen Mund mit den kleinen, blendend weißen Zähnen, die Grübchen in den nur leise geröteten Wangen, wenn sie lachte, das Grübchen in dem runden, so fest vortretenden Kinn, die graziöse schlanke Gestalt, die weiche Bewegung derselben und die feine Hand. Zwischen die Beschreibung der einzelnen Schönheiten aber schrieb er kurze Verse, er, welcher niemals Verse gemacht.
Er sah kaum auf, als Manasse und Moses eintraten und auseinandersetzten, daß Nota nicht abgereist sein könnte, und daß er also, Ruben, morgen nicht hinausgehen dürfte in die Villa.
Statt irgend einer Antwort stand Ruben auf, ging ans Klavier und spielte einen triumphierenden Marsch.
Er war eben ganz der bürgerlichen Welt entrückt, er hörte, er sah, er dachte nichts als seine Liebe.
Moses schlenkerte ärgerlich die Arme auf und nieder und sagte heftig: »Machen Sie sich's doch klar, Herr Ruben, daß alles entzwei geht, daß alles aus ist, ganz aus, wenn der Nota Sie draußen antrifft. Er schreit bloß: Der Mensch ist ja ein Jude, wie kommt der Jude hieher?! Und da schreien die anderen alle mit und: ›Hinaus mit dem Juden!‹ heißt es, und die Kamilla erschrickt des Todes, daß sie zutraulich verkehrt hat mit einem Juden, und was tut sie in dem Schrecken? Sie greift nach ihrem Rosenkranze und betet, die Jungfrau Maria möge sie behüten vor Verunreinigung. Verunreinigung nennen sie's, verstehen Sie mich, Herr Ruben?«
Ruben spielte immer stürmischer seinen Triumphmarsch.
Moses und Manasse schwiegen bestürzt. Nein, Moses war nicht bestürzt, er sagte leise zu Manasse: »Gott der Gerechte, was ist's für ein Glück, in Liebe zu stecken bis über die Ohren! Glück über Glück. Unsereins ist deshalb gar kein Mensch, nein, man ist nur ein kluges Tier, weiter nichts. Kommen Sie, Herr Manasse, wir müssen für ihn sorgen, er kann's nicht.«
Sie gingen fort und beschlossen draußen, daß Manasse am nächsten Morgen zeitig hinausgehen sollte, früher als Ruben, um vom Abbate herauszukriegen, ob auf den Brief Antwort gekommen, ob Nota noch in Triest sei. Wenn er noch da ist, dann müßte der Herr Bruder an Händen und Füßen gebunden werden. »Aber frühzeitig, Herr Manasse,« schloß Moses, »denn der Herr Bruder ist imstande, schon bei Sonnenaufgang hinauszulaufen.«
Und so geschah es. Als Manasse gegen neun Uhr des Morgens in das Zimmer seines Bruders trat, war das Zimmer leer, Ruben war fort.
Der arme Manasse! Ihm waren diese abenteuerlichen Dinge so fremd! Und sie ängstigten ihn fortwährend, aber die Liebe zu seinem Bruder nötigte ihn doch, an alledem teilzunehmen. Er eilte zu Moses, den er wieder bei Veitl fand. »Ruben ist fort,« rief er, »was tun?«
»Sie sollen stille sein vor dem Veitl«, erwiderte dieser halblaut und ging mit ihm.
»Was tun?« wiederholte Manasse.
»Trotz der frühen Stunde«, antwortete Moses, »zum Abbate gehen und von ihm erforschen, ob Nota noch in Triest steckt. Eilen wir!«
Beide liefen hinaus. Manasse ging in die Villa; Moses wartete auf dem Steine.
Schon nach einer Viertelstunde kam Manasse wieder heraus. »Nun?« – Manasse zuckte die Achseln. Der Abbate hatte nicht acht gegeben auf Manasses vorsichtige Anspielungen wegen des Nota. Die Anspielungen waren ja leicht: er hatte den ihm anvertrauten Brief an den Portier abgegeben, und der Portier hatte ihn angenommen, also, hatte Manasse kühn hinzugesetzt, war wohl der Herr Cavaliere im Hotel? Diese halbe Frage hatte der Abbate nicht beachtet, sondern hatte nur gesagt: »Ich danke für die Bestellung«, und war aufs Börsengeschäft übergegangen.
»Futsch! Wir wissen also nichts. Und war Ihr Herr Bruder im Salon?«
»Ich glaube nicht; es war still im Salon?«
»Da kommt er!«
Ruben kam vom Bergpfade, kam von der Platane herunter. Dort hatte er träumend gesessen seit Anbruch des Tages. Nicht etwa Kamillen erwartend, nein, ihrer nur gedenkend. An der vertrauten Stätte und nicht weit von ihr den über Berg und Meer aufsteigenden Tag genießend. Die Reize der Natur hatten ihn nie so gefesselt wie jetzt, da sein Herz voll war von lauter Wohlbehagen.
Er hörte ruhig an, daß er nicht sicher wäre vor dem Nota und daß er deshalb nicht eintreten möge. Ruhig erwiderte er: »Man muß keine Stunde versäumen, in welcher man glücklich sein kann, auch wenn Gefahr droht. Das Glück ist sicher, die Gefahr nur möglich.« Und so ging er in die Villa.
Sich den grauroten Haarbusch kratzend, sagte Moses: »Nun bleibt uns nichts übrig, als am Wege zu warten, ob der Nota kommt, und ihn, Gott weiß wie? aufzuhalten oder doch den Ruben abzurufen. Wie? Ich weiß es nicht. Vielleicht werd' ich sagen: Die Pest ist ausgebrochen in der Villa, und Sie werden nach dem Bruder laufen. Ach, das ist ein zähes Geschäft, aber zur Pleite führt es sicher. Dort ist eine Bank, setzen wir uns wenigstens und sprechen wir davon, ob die Kreditaktien heute steigen werden oder fallen.« – »Steigen werden sie«, sagte Manasse. – »Fallen werden sie«, sagte Moses, während sie sich setzten.
Ruben dagegen trat mit der Sicherheit eines Nachtwandlers in die Villa und sagte zum Diener: »Der Herr Abbate hat mich herbestellt. Wollen Sie ihm sagen, daß ich im Salon warte.«
Und er schritt in den Salon, setzte sich ans Piano und spielte wieder seinen Triumphmarsch.
Als er hinter sich die Tür gehen hörte, ging er über in das Adagio des Violoncellkonzertes. Der Schmeichler! Er wollte dem eintretenden Abbé Freude machen.
»Bravo! bravissimo!« rief dieser gefühlvoll und setzte mit starker Stimme für den Diener hinzu: »Signorina Kamilla sogleich rufen! Es sei der Signor Samuele da. Und sie möchte meine Noten mitbringen.«
»Ein neues Capriccio von mir« – fuhr er fort gegen Ruben – »welches wir spielen wollen. Kamilla studiert ihre Singstimme.«
Und nun entwickelte er dem aufmerksam zuhörenden Ruben den Charakter seiner neuen Musik, bis Kamilla eintrat.
»Das ist ja liebenswürdig von Ihnen, Signor Samuele, daß Sie so früh kommen« – sagte sie lächelnd und reichte Ruben die Hand. Er nahm sie, küßte sie aber nicht. Das wäre zuviel gewesen für das junge Verhältnis! Auch hatte ihn der Name Signor Samuele ein wenig erschreckt. Die Unwahrheit gegenüber seiner so wahrhaften Empfindung berührte ihn unangenehm.
Man ging ohne weiteres ans Musizieren, wurde aber grell unterbrochen. Signora Molitore in einem recht unvollständigen und durchaus nicht verlockenden Negligé stürmte in den Salon, ein Blatt Papier in der erhobenen Hand haltend.
»Kaum einmal aufstehend« – rief sie – »wird man wieder umgeworfen! Da, Kamilla, lies das Telegramm aus Ancona! Dein Vater ist mit dem Pferde gestürzt und hat sich schwer verletzt.«
Kamilla stieß einen schmerzlichen Schrei aus, las zitternd das Blatt, ließ es fallen und wendete sich zum Fortgehen, ausrufend: »Zu ihm! zu ihm!« Schluchzend verließ sie den Salon.
»Ich hab' mir's gedacht,« sagte Frau Molitore, »sie hat eine närrische Liebe für ihren Vater. Aber nun, Abbate, nun« – jetzt erst bemerkte sie Ruben, welcher zur Seite getreten war, betrachtete ihn von oben bis unten, und sich wieder zum Abbate wendend, fragte sie barsch: »Dieser Herr?«
»Signore Samuele, ein außerordentlicher Musiker.«
»Ja, was ich sagen wollte, wir können doch das junge Mädchen nicht allein reisen lassen, Sie müssen sich zur Begleitung rüsten, Herr Abbate.«
»Oh!«
»Und schnell, denn das Kind wird nicht zögern. Sie hat wenig Gepäck.«
»Mein Futteral fürs Violoncello!« rief der Abbate dem Diener zu, welcher an der Tür stand.
»Lassen Sie doch das Instrument hier! Sie werden ja zurückkommen.«
»Niemals zurücklassen, niemals.«
Und es hoch haltend, verließ er den Salon.
Frau Molitore, Ruben nicht weiter beachtend, folgte ihm auf dem Fuße, im Vorübergehen den Diener fragend: »Wann geht der nächste Bahnzug nach Venezia?«
»Ich glaube nach elf«, antwortete dieser.
Ruben hatte ebenso schnell wie Kamilla seinen Entschluß gefaßt und folgte der Hausfrau, welche sich nach der Treppe wendete, während er das Haus verließ.
Manasse und Moses, von der Bank aufspringend, eilten ihm entgegen und fragten besorgt: »Er war da?« – »Nein,« erwiderte Ruben, ohne stillzustehen, »aber wir reisen.«
»Reisen? Wohin?«
»Nach Ancona. Moses, wann geht der Eilzug nach Venedig?«
»Elf Uhr dreißig.«
»Jetzt ist's?«
»Zehn.«