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Moses hatte sofort dringend bemerkt: »Wenn also, wie es scheint, der Nota nicht mehr in Triest ist, so wird er sicherlich nach Ancona, nach seiner Vaterstadt, gefahren sein, und Herr Ruben wird ihm dort begegnen.«
»Ich reise nicht nach Ancona, ich reise nur bis Ancona; hole einen Wagen vor unser Haus. Ich nehme nur ein Handkofferchen mit und warte auf deinen Wagen.«
So geschah es. Um elf Uhr war Ruben auf dem Bahnhofe. Manasse war mit ihm gefahren. Er war verblüfft, er war stumm. Sie führe nach Ancona, das war alles, was er erfahren hatte.
Ruben trug ihm nun auf, den Eltern zu sagen, daß er in einem dringenden Geschäfte nach Venedig gereist sei und wohl morgen schon zurückkehren werde.
Da wurde die Kasse geöffnet. Er nahm ein Billett erster Klasse und faßte Posto in der Nähe der Kasse, die Ankunft Kamillas und des Abbate erwartend.
Sie kamen auch mit dem Diener, welcher das Gepäck besorgte. Kamilla eilig, unruhig, aufgeregt. Sie sah zunächst Ruben gar nicht, und als er ihr einen Schritt entgegentrat, da rief sie: »Ah, Sie auch? Sie reisen auch?«
»Ja. Der Herr Abbate, ein hilfloser Mann, genügt nicht zu Ihrem Schutze.«
»Sie wollen –?«
»Ich will Sie beschützen. Auch habe ich ein Geschäft abzumachen in der Nähe von Ancona.« »Nicht doch, Herr Abbate!« – wendete er sich zu diesem, welcher eben zwei Billette zweiter Klasse an der Kasse genommen hatte. – »Nicht doch! Eine junge Dame kann nicht in der zweiten Klasse fahren.«
Dabei nahm er dem Abbate die Billette aus der Hand und tauschte sie an der Kasse um in Billette erster Klasse, das Aufgeld schnell berichtigend.
Der Abbate schien das kaum zu bemerken. Er reichte Kamilla den Arm, da ein Glockenzeichen gegeben wurde, um sie auf den Perron zu führen, und der Diener nahm die Billette von Ruben, um die Koffer und das Violoncell aufzugeben.
Ruben selbst folgte auf den Perron, winkte einen Schaffner zu sich, drückte ihm Geld in die Hand und ließ ein Halbkupee mit drei Plätzen aufschließen, den Abbé und Kamilla einladend, da einzusteigen.
Kamilla schwieg zu alledem; sie dachte wohl nur an ihren geliebten, gefährdeten Vater. Frühzeitig hatte sie ihre Mutter verloren, und der Vater, ein würdiger Kriegsmann, war ihr alles. Nur mit dem Gedanken an ihn beschäftigt und im weltlichen Verkehre noch ganz naiv und unbefangen, fand sie Rubens Teilnahme gar nicht befremdlich. Sie sah in ihm einen angenehmen Freund, half dem kleinen, dicken Abbé das Kupee erklettern und folgte ihm nach. Der Diener kam mit dem Gepäckszettel und den Billetten zurück, es ertönte das letzte Glockenzeichen, Ruben stieg rasch ein, und der Zug dampfte fort.
Manasse in seiner dauernden Verblüffung sah ihnen nach und sagte halblaut: »Unbegreiflich!«
»O nein, sehr begreiflich« – sprach neben ihm Moses mit fliegendem Atem – »nur ich habe Pech. Was bin ich gerannt, um das himmlische Kind noch einmal zu sehn in Trauer! Nix da! Ich bin ein nach unten hin verwunschener Prinz, ein Schacherjude. Pfui, Jehovah!«
Die drei Abreisenden saßen der Reihe nach wie sie eingestiegen waren: der Abbate drüben in der Ecke, Kamilla in der Mitte, Ruben neben ihr in der Ecke. Niemand sprach ein Wort. Der Abbate machte alle Anstalt, einzuschlafen, Kamilla sah vor sich hin; ihr halbgeschlossenes Auge verriet Angst und Trauer, Ruben blickte bekümmert auf sie. Er wollte nicht durch Reden ihre Empfindung stören.
So fuhren sie ein paar Stationen weit, bis an der sogenannten Dinerstation länger gehalten wurde und alle anderen Reisenden ausstiegen, um zu speisen. Auch die Kupeetür neben Ruben wurde geöffnet, und da sagte Ruben herzhaft: »Sie haben heute noch nichts genossen, Signorina, das ist aber notwendig, kommen Sie!«
Er stieg aus und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie folgte ihm, setzte sich an die Wirtstafel und aß.
»Aber der Abbate!« rief sie plötzlich.
»Er schläft; ich bringe ihm kalte Küche.«
Da lächelte sie, und nachdem Fleisch, Früchte und Brot in ein Papier gehüllt worden, gingen sie wieder in ihr Kupee zurück. Jetzt stieg aber Ruben zuerst ein, wie er sagte, um den Abbate zu wecken und zu versorgen, was sich dieser auch ruhig gefallen ließ. Solcherweise kam Kamilla auf den Eckplatz, getrennt vom Abbate durch Ruben, welcher den kleinen Herrn bediente, bis dieser sich zurücklehnte und wieder einschlief.
»Er schläft wieder« – sprach Ruben leise – »er hat keine Sorgen. Sie müssen sich auch den Ihrigen nicht vorzeitig hingeben, Ihr Herr Vater kann ja geheilt werden.«
»O, möchte er! Er ist so gut und hat mich so lieb. Er allein in der Welt.«
»O nein, nicht allein«, sagte Ruben leise.
Sie blickte ihn an mit vollblickendem, vielleicht fragendem Auge.
Hiemit war ihr Schweigen gebrochen, und auf Rubens Frage nach ihrem Vater und ihrer Familie erzählte sie nun langsam, wie diese Familie beschaffen wäre. Ihr Vater sei der Einzige und Letzte seines Stammes, welcher bis auf die römische Kaiserzeit zurückreiche. Ein Theodoros sei aus Griechenland zu Kaiser Marc Aurel gekommen, ein sehr weiser Mann, welcher den Kaiser beraten und welchen der Kaiser reich beschenkt und zum römischen Ritter erhoben habe. Aus dem griechischen Theodoros sei Teodori geworden, und der Reichtum sei verschwunden. Sie selbst, habe ihr Vater zu sagen gepflegt, sei eine echte Theodoros, denn sie habe noch die griechische Nase und Stirn. Deshalb sei ihre Familie auch vielleicht so gut christlich, weil der griechische Apostel Paulus ihr Landsmann gewesen.
Das war ein schmerzliches Wort für Ruben.
»Weil aber«, fuhr sie fort, »der Reichtum aus der Familie verschwunden, hat mich der Vater nach Triest geschickt zur Schwester meiner Mutter, welche mich zu ihrer Erbin bestimmt hat. Das sagte mein Vater recht traurig, als er mich zum letzten Male umarmte. Sie haben wohl noch Vater und Mutter?« setzte sie hinzu.
»Ja,« antwortete Ruben, »aber eigentlich nur eine Mutter.«
»Was heißt das?«
»Mein Vater lebt in einer Gedankenwelt, welche mir fremd geblieben ist, ja welche mir widerstrebt.«
»Ah, welch eine Gedankenwelt?«
Und nun erklärte ihr Ruben die ganze Entwicklung seiner Jugend, welche genährt worden sei von den Idealen der heutigen Zeit. Dies tat er höchst ausführlich mit allem Aufwande poetischen Schwunges. Dies just mißbillige sein Vater, dessen Ideen in einer vergangenen Zeit wurzelten, in einer überlebten Zeit. Er vermied dabei die Worte Religion und Glaube sorgfältig und ging lebhaft darauf ein, als Kamilla nach Einzelheiten fragte, nach Büchern und nach Dichtern. Sie bekannte sich als recht unwissend und bat um Belehrung.
Was konnte Ruben erwünschter kommen! Er wurde von unerschöpflicher Beredsamkeit, sie aber vergaß ihre Trauer und fragte unablässig. So schilderte er ihr das ganze Leben eines denkenden und trachtenden Menschen und das unbeschreibliche Glück, wenn solch ein ehrlicher Mensch einem weiblichen Wesen begegnete, welches ihn verstehe, welches sich ihm zuneige, welches ihn – das entscheidende Wort Liebe sprach er jedoch nicht aus.
Es wurde auch nicht ausgesprochen während der ganzen Fahrt, obwohl der Abbate ununterbrochen schlief.
Ließ er es unausgesprochen, weil er Kamillen nicht so früh damit überraschen wollte, weil er von dem überraschten, scheuen Mädchen eine Abweisung fürchtete? Nein! Seine Neigung war so tief und sicher, daß sie meinte, keine Eile nötig zu haben, daß sie meinte, das gegenseitige Verhältnis werde von selbst sprechen, wenn es gegenseitiges Verhältnis sei oder werde.
So kamen sie unter steten Fragen von ihrer Seite, unter langen Schilderungen des Lebens und der Bildung von seiner Seite an die letzte Station vor Ancona, und nun mußte er Abschied nehmen. Abschied, denn der Hinweis des weitsichtigen Moses auf den gefährlichen Cavaliere di Nota war nicht nötig gewesen; er selbst wußte, daß dieser Nota ihn oft im Kaffeehause gesehen, daß er ihn kannte und daß er ihn verächtlich als Juden bezeichnen würde, wenn er ihn neben Kamilla sähe. Es war Ruben klar, daß die Tante Molitore die Abreise Kamillas sofort telegraphisch nach Ancona gemeldet haben würde und daß Nota leichtlich schon im Bahnhofe den Zug erwarten und Kamilla abholen könnte.
Dem war auch so. Nota war Tags vorher noch mit demselben Zuge nach Ancona abgereist, und die Tante hatte an seine Abreise glauben müssen, da er auf ihren Brief keine Antwort gegeben. Sie hatte ihm wirklich die heutige Abreise Kamillas telegraphisch angezeigt mit der Aufforderung, sie auf dem Bahnhofe zu empfangen.
Ruben sagte also jetzt zu Kamillen: »Signora Kamilla, in einigen Minuten sind wir in Ancona und ich muß Abschied nehmen.«
»Ancona! O Gott, und über unseren Gesprächen habe ich meinen armen Vater vergessen!«
»Sie werden ihn besser finden, als Sie gefürchtet.«
»Und Sie, Sie wollen mich nicht bis zu ihm begleiten?«
»Ich würde nur stören.«
»O nein. Er wird Ihnen danken für Ihre Beschützung seiner Tochter; er ist so gut und immer dankbar.«
»Ich muß leider zurück nach Triest.«
»Sie sind also nur meinetwegen –?«
»Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie mir ein Telegramm schickten, wie Sie Ihren Vater gefunden.«
»Gern. Adresse Signore Samuele – Wohnung?«
»Nicht nötig. Telegraphenamt und Post kennen mich. Ich nenne auch die Post, weil ich hoffe, Sie schenken mir später einige Zeilen über die fortschreitende Genesung Ihres Herrn Vaters.«
»Ja, ja.«
»Und ob und wann Sie wieder zu Ihrer Tante kommen.«
»Sobald mein Vater hergestellt ist. Dann singen wir wieder.«
Die Glocke läutete, sie waren im Bahnhofe von Ancona.
»Da ist Nota!« – rief sie – »er bringt Nachricht von meinem Vater.«
Und eiligst sprang sie aus dem Kupee, als es geöffnet wurde und eilte zu Nota. Er war wirklich da, stand in einiger Entfernung von ihrem Waggon und musterte die Aussteigenden. Er hatte sie noch nicht gesehen, als er ihre Stimme hörte. Sie rief: »Mein Vater lebt?«
Er wendete sich und sprach unbedacht: »Noch lebt er.«
»Noch! Heilige Jungfrau! Zu ihm! Zu ihm!«
Und fort eilte sie aus dem Bahnhofe. Nota folgte ihr, sie aber rief ihm zu: »Nein, nein! Helfen Sie dem Abbate!«
Unterdessen hatte Ruben den Abbate geweckt und hatte ihm den Gepäckschein in die Hand gedrückt. Dann hatte er selbst, sein Köfferchen in der Hand, das Kupee rasch verlassen. Er sah noch die davoneilende Kamilla und den Nota, welcher ärgerlich stehen geblieben war auf Kamillas letzte Worte.
Es stürmte in Ruben, ihr doch die Hand zum Abschiede zu reichen, die Hand! und die Gefahr des Nota hinter sich werfend, ging er stracks des Weges, welchen Kamilla gegangen. Er führte an Nota vorüber. Sah ihn dieser? Doch wohl nicht. Seine Aufmerksamkeit wurde vom Abbate in Anspruch genommen, welcher nach seinem Violoncell schrie. Nota erwiderte heftig: »Das läuft ja nicht fort.«
Kamilla stieg schon in einen Wagen, als Ruben hinauskam. Sie sah ihn, streckte ihm die Hand entgegen und sprach: »Ach, was bin ich in Angst! Noch! hat er gesagt, der Garstige. Ich telegraphiere, ich schreibe. Vorwärts, Kutscher, zum Obersten Teodori!«
Der Wagen setzte sich in Bewegung, sie nickte noch einmal freundlich mit dem Haupte; aber Ruben sah, daß Tränen über ihre Wangen liefen.
Er sah ihr lange nach und sprach leise: »Mein Engel!« Der Abbate weckte ihn. Sein Rufen nach dem Violoncell drang bis heraus und um ihm auszuweichen, wendete sich Ruben nach der Seite.
Es gelang ihm nicht. Gerade nach der Seite, welche er einschlug, lag die Gepäckkammer, und er stand plötzlich vor Nota, welcher auf den Abbate und dessen Instrument wartete.
Nota wendete sich zu dem Abbate hin und fragte mit lauter Stimme: »Was will denn der Triestiner Jude hier?«
Der Abbate hatte nur acht auf die Gepäckstücke und antwortete nicht.