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20.

Die Folgen dieses Vorganges waren außerordentlich. Frau Molitore war aus Rand und Band. Sie hatte schon, ehe Marcia geschrien, die Abwesenheit Kamillas bemerkt, und hatte den auf dem Tische liegenden Brief von Rubens Mutter gelesen. Solch intimer Verkehr mit Juden war zu entsetzlich.

Jetzt bei der unerhört festen Erklärung der Liebesleute, daß Sie zueinander gehören und sich nicht mehr trennen lassen wollten, stand ihr der Verstand still. Sie erwiderte kein Wort; sie konnte es nicht, so entsetzt war sie. Nur ins Zimmer! ins Zimmer! brachte sie heiser heraus gegen Kamilla, und trieb sie ins Haus.

Kamilla wendete sich im Gehen zu Ruben und sagte nur: »Es bleibt beschlossen, Ruben.«

Woher nimmt das Mädchen die Dreistigkeit?! dachte Frau Molitore.

Ruben rief ihr nach: »Übernehmen Sie sich, gnädige Frau, nicht gegen Kamilla! Sie ist ein freies Geschöpf, und ich werde Rechenschaft von Ihnen fordern.«

Dann ging er langsam nach der Stadt, Moses hinter ihm, durch und durch erschrocken. »Du bist schuld! du bist schuld!« sagte er vor sich hin.

»Beruhige dich, Moses; kommen mußte es.«

Marcia flog ihnen voraus. Veitl, der sich natürlich auch eingestellt, konnte es ihr nicht gleich tun an Schnelligkeit und rief: »Sachte, sachte, wir kommen zurecht. Der Mensch hat's ja ausgesprochen, daß er die Christin heiraten will, sich also taufen lassen muß. Das soll sogleich die ganze Judenschaft erfahren und der alte Abraham allem voraus. Das bricht Ruben den Hals. Ich geh' zur Synagoge, geh' du zu deinen Bekannten und erzähl' es.«

Bis zum andern Tage war das alles verbreitet, die ganze Stadt wußte es. Nur der alte Abraham noch nicht. Es hatte sich doch niemand getraut, dem alten gebrechlichen Manne diesen Schlag auszuteilen. Nur Veitl wäre dessen fähig gewesen, aber er war dem Alten nicht begegnet. Abraham war unwohl und war nicht zum Tempel gekommen.

Sie war doppelt pikant, diese jüdische Begebenheit, weil sie zusammenfiel mit Farmers Börsenschicksal, welches Ruben mit betraf. Farmer hatte die Hilfssumme von Manasse eingefordert. Sie schien nicht zugereicht zu haben, denn es wurde klar und allgemein: der freche Spekulant Farmer ist gestürzt. Den Vormittag über war es zweifelhaft, ob er wenigstens redlich zahlen würde, soweit er's vermöchte, oder ob er die Flucht ergreifen würde.

Letztere Absicht hatte er aber durchaus nicht. Er sagte jedermann: »Man muß zahlen bis auf das letzte Hemd, wenn man wieder leben will; ein Betrüger muß verfaulen.«

So hatte er den Tag über noch alles auf eine Abenddepesche gestellt, welche angekündigt war. Sie traf ein und war nachteilig. Nun ergab er sich vollständig in den Untergang, und ersuchte den herbeigerufenen Freund Bellosi, seine Mätresse auf das abgehende Dampfschiff zu begleiten. Ihre Neigung gehe wohl zu Ende mit seinem Besitze, und der Abschied müsse ihr erleichtert werden. Bellosi befragte sie und kam zurück mit dem Bescheide, die artige Dame Carmen hätte sich teilnahmsvoll geäußert über Signor Farmer. »Kann ich« – schloß Bellosi – »Ihnen noch etwas nützen, tapfrer Mann?«

»Ja« – erwiderte Farmer, indem er sich an den Schreibtisch setzte, »bitten Sie sogleich den Redakteur unsrer Zeitung, mir heute nacht Platz zu lassen für einen Artikel, welcher mein Börsenschicksal betrifft. Ich schreibe ihn jetzt und sende ihm das Manuskript stückweise durch meinen Diener, welcher auffallenderweise noch nicht fortgelaufen ist.«

Bellosi fand die Fassung des Hingerichteten lobenswert und ging. Farmer schrieb.

Am nächsten Morgen lasen die Triester, warum Farmers Spekulationen verunglückt wären. Nicht durch Schuld falscher Berechnung, sondern durch unberechenbaren Zufall. Der deutsche Kaiser sei mit einem Schnupfen aufgewacht; daraus hätte die Börse Krankheit und Gefahr in Szene gesetzt und alle Werte verwirrt. Binnen zwei Tagen könnte die Verwirrung gehoben und er wieder ein reicher Mann sein, aber er behielte nicht die Zeit, das abzuwarten. Wie richtig seine Behauptung wäre, das wolle er beweisen. Eine Summe, welche das Haus Ruben Samuel – vorgestreckt, habe er nicht zu seiner Deckung benutzt, sondern er habe sie in demselben Papier angelegt, welches ihm jetzt den Hals breche. Nach einigen Tagen werde man erfahren, daß diese Summe ein glänzendes Geschäft gemacht habe.

Ruben selbst erfuhr dies erst am Morgen durch die Zeitungsartikel. Er fürchtete, man werde nun seine Kasse wieder überlaufen, weil sie geschwächt erscheint, aber nein, das geschah nicht. Der Artikel Farmers imponierte den Geschäftsleuten.

Übrigens war Ruben in gedrückter Stimmung. Nicht bloß des Farmerschen Schicksals halber. Der tapfere Aufschwung gestern gegenüber der Tante Molitore war heute gesunken. Er sah ein, daß er seinem Vater, wie ungerecht auch dieser gegen ihn verfahren, doch den Schmerz eines Übertritts nicht antun durfte. Und doch war es in die Öffentlichkeit gekommen, daß er es tun wollte.

Sorgenvoll hörte er Moses an, welcher am Morgen kam und erzählte, daß die jüdische Stadt durcheinander laufe wie ein Ameisenhaufen. Farmers Bankerott und Rubens Taufe waren in aller Munde.

Und seine Besorgnis erwies sich nur allzu begründet. Schon in den nächsten Stunden. Die Juden Triests waren durch diese Vorgänge in lebhafte Bewegung geraten und sammelten sich in ungewöhnlicher Menge vor der Synagoge. Sogar der uralte Rabbi Aaron war da. Er hatte sich herausgewagt, weil die Sonne warm schien. Um ihn gruppierten sich die Sprecher, unter ihnen Veitl, welcher sich hervortat in Anklagen Rubens. »Sei still« – sagte der Rabbi – »dort kommt Abraham, der Vater Rubens. Er soll es von uns nicht erfahren, wenn er's noch nicht weiß.«

Abraham wußte nichts. Seine Frau und Manasse hatten alle Nachrichten vor ihm verhehlt. Er trat zum Rabbi, grüßte und fragte, warum so viel Menschheit da wäre.

Man wich aus mit der Antwort, denn der alte Mann sah so gebrechlich aus, daß man meinte, ein Schreck könnte ihn niederwerfen.

Zu derselben Zeit, es war etwa zehn Uhr vormittags, schrieb Ruben einen Brief an Kamilla, um ihr auseinander zu setzen, daß er zuviel gesagt hätte für die Tante. Zu viel, indem er seine sofortige Verlobung angekündigt mit Kamilla. Wie sehr das auch übereinstimme mit seines Herzens Wünschen, so hätte er sich doch hinterher eingestehen müssen, daß solch eine öffentliche Erklärung ein Frevel gewesen gegen seinen Vater. Es würde einen zerschmetternden Eindruck auf den alten Mann machen, wenn es bekannt würde, daß sein Sohn vom Glauben seiner Väter abgefallen wäre.

Ruben war noch nicht zu Ende mit dem Briefe, da hörte er Lärm im Hausflur, und hörte das heftigste Zuschlagen einer Tür. Es schien ihm, als ob ein heftiger Ausruf Manasses dazwischen klänge. Er stand auf und ging hinaus. Es war nichts zu sehen. Er trat ins Kontor, wo Manasse das Wechselgeschäft zu führen hatte, und fand das Kontor leer. Er wartete, Manasse kam aber nicht. Dafür stellte sich ein bekannter Kunde ein, welcher eine kleine Summe in Mark gewechselt haben wollte. Dieser erzählte, daß vor der Synagoge ein großer Zusammenlauf stattfände. Ein alter Jude sei ohnmächtig zusammengestürzt, und wie es heißt, Todes verblichen.

Ruben erschrak in besonderer Weise, ohne zu wissen, warum? und rief dem hereinstürzenden Moses heftig entgegen: »Was ist? Was ist?«

Moses war atemlos und konnte keine Worte finden. Mühsam brachte er endlich heraus: »Vater Abraham ist tot.«

»Mein Vater! Um Gottes willen –«

»Wie es geschehn ist? Wer mag's wissen, wer mag's sagen! Der alte Mann ist ganz schwächlich auf dem Platze angekommen, und just wie er den Aaron, den Rabbi begrüßt hat, da ist er hingefallen.«

Moses wußte mehr, aber er verschwieg es, um Ruben zu schonen. Veitl hatte ihm zugerufen: »Da habt Ihr's! Man hat dem Vater Abraham gesagt, daß sein Sohn Ruben sich mit einer Christin verlobt hat, und sich taufen läßt – da hat den alten Mann der Schlag getroffen.«

Und andere Juden hatten dem forteilenden Moses nachgerufen: »Der Ruben ist ein Mörder.«

Konnte er das seinem geliebten Ruben sagen? Nein. Und niemand sagte es ihm. Ruben lief nach dem Hause der Eltern, wohin die Leiche gebracht worden war, und scheu blickten die Leute auf ihn, denen er begegnete, aber keiner sprach zu ihm. Auch die Mutter und Manasse sagten es nicht. Sie wußten es nicht. Aber innerhalb einer Stunde wußte es ganz Triest.

Jüdische Leichen werden rasch begraben. Ruben hatte am Begräbnisse teilgenommen und nichts erfahren. Mörder nannte man ihn, aber niemand sprach es laut.

Daß der alte gebrechliche Mann einem Schlagflusse ausgesetzt war, hatte nichts Auffallendes, dennoch hatte Ruben die größte Not, den Gedanken abzuweisen, daß sein Liebesverhältnis mittätig gewesen wäre bei diesem Todesfalle. Der Gedanke wich nicht von ihm.

Daran – sagte er sich – sind die Menschen schuld um dich her; sie gehen dir alle aus dem Wege. Tun sie das, weil du nicht wahrhaftig Trauer empfindest, denn das große Hindernis für dein Liebesleben ist nun aus dem Wege geräumt? O, wie garstig!

Farmer sogar und Bellosi zogen sich von ihm zurück. Sie entdeckten aus seinen Reden, daß er die wahre Veranlassung des Todes nicht kannte, und sie wollten ihn schonen. Moses blieb treu um ihn, aber nicht um die Welt hätte er ihn aufgeklärt.

So vergingen einige Tage – da erhielt er einen Brief von Kamilla, der lautete: »Lieber Ruben, nun freilich sind wir verloren. Daß wir schuld sind am Tode Deines Vaters, das lastet auf uns wie ein Verbrechen. O Gott! Wie hart, wie grausam ist es, uns so zu trennen? Ich weine und weine, und denke bei den Vorwürfen der Tante nur an das Kloster bei Ancona. Untreu werde ich Dir niemals.«

Was heißt das?! Es wurde schwarz vor den Augen Rubens. Was heißt das? »Moses komm her, lies diesen Brief, und sage mir, was er bedeutet.«

Nun blieb dem armen Moses nichts übrig, als einzugestehen, daß die Nachricht von Rubens Glaubenswechsel den Greis bis in den Tod erschreckt habe.

Dies war die Vernichtung selbst für den armen Ruben. Da gab's kein Hoffen mehr, gab's keinen Widerspruch.

In der natürlichen Empfindung jedes Menschen lag die Unmöglichkeit, daß zwei Liebesleute einander angehören könnten, nachdem der Vater durch sie getötet worden. Schweigend, wortlos lebte er die nächste Zeit dahin. Aber fleißig. Als müßte er täglich eine Wolke ziehn über seinen Tag, wurde er tätiger Geschäftsmann, der er nie gewesen. Und wie zur gemeinen Entschädigung gelang in diesem Bereiche alles. Vom verstorbenen Vater fiel ihm auch eine stattliche Erbschaft zu, welche das Bankiergeschäft in Kompanie mit Manasse erweitern ließ, und die spekulative Tätigkeit mit Farmer nahm einen großen Aufschwung. Farmer hatte recht behalten mit dem abgesonderten Anlageposten der Rubenschen Summe: sie hatte Früchte getragen, hatte Mittel gebracht für Farmer selbst zu neuen Geschäften. Alles was unternommen wurde von Farmer und Samuele gedieh, und es hätte nichts gefehlt zu glänzender Einrichtung eines Hausstandes für Ruben, wenn die Braut nicht gefehlt hätte.

Ruben sprach nicht mehr davon, auch nicht mit Farmer und Bellosi, welche nun wieder getreu mit ihm verkehrten. Getreu aber selten. Er lebte im Grunde allein. Daß die Menschen ihn scheu anblickten, ja ihm ein Attentat auf seinen Vater nachsagten, das blieb ihm nicht mehr verborgen. Er empfand es täglich, stündlich. Nur Moses, der sich zu seinem Diener eingerichtet hatte, war ihm ein kleiner Trost.

So vergingen einige Wochen – da sagte er eines Morgens beim Erwachen, als die Sonne hell auf sein Bett schien: »Moses, heut will ich mich putzen. Bring mir meinen Gesellschaftsanzug, ich will noch vormittags, da die Sonne so voll scheint, einen Besuch machen. Ahnst du, wo?«

»Ja.«

»Nun?«

»In der Villa.«

»Solch ein aufmerksamer Trödeljude kennt mich besser als die ganze Welt. Aber Kamilla wird mich auch kennen, Sie wird, wenn ich überraschend komme, doch auf der Stelle wissen, daß ich nicht ankämpfen will gegen das Schicksal unserer Trennung, aber daß ich sie absolut noch einmal sehen, daß ich Abschied nehmen muß von ihr, ein stiller gefaßter Mann. Mir ist, als würde dann eine fast fröhliche Ruhe des Todes über mich kommen.«

»Aber die Tante.«

»Sie ist doch eine Frau. Sie wird das Herzensbedürfnis kennen und wird es gestatten, wenn es gar keine weitere Folge in Anspruch nimmt, als den Blick des Auges, einen Händedruck, einen Abschiedsgruß für diese Welt.«

Er sprach so zu Gehör seines Moses, unbekümmert darum, ob es für einen Trödeljuden verständliche Worte wären. Er mußte laut sprechen. Und Moses hatte in der letzten Zeit viel gelernt, er verstand alles.

So ging denn Ruben hinaus und trat in die Villa. Er hatte sich nicht geirrt: Frau Molitore bei seinem Eintreten aufschreiend, wurde still, als sie aus seiner herzlichen Rede vernahm, daß er keinen andern Anspruch machte, als den eines mündlichen Abschieds. »Dem Unglück« – sagte sie – »muß man Schonung gewähren.«

Aber Kamilla! Ach, wie selig erschien sie! Die Jugend ist ja begnügt mit dem Augenblicke, und es war ihnen ja nicht verboten – wenn sie einander auch nicht gehören durften – einander zu sagen, wie lieb sie einander hätten, so daß selbst Frau Molitore weinend aus dem Zimmer ging, damit sie das einander ungestört sagen konnten.

Sie weinte wirklich, die Tante, weil sie gerührt war von all' den echten Herzenstönen – einmal war sie ja doch auch jung gewesen – und weil sie sich sicher gestellt wußte. Es sollte und konnte doch nur eine Zusammenkunft ohne Wiederkehr sein.

»Nicht zum letzten Male! O, nicht zum letzten Male!« rief Kamilla, als Ruben fortging.

»Doch, mein Kind, doch« – sprach die Tante. »Der plötzliche Tod des Vaters hat entschieden, Rubens Empfindung hat das von selbst eingesehn, und öftere Begegnung zwischen dir und ihm würde der Welt wie ein Frevel erscheinen. Es widersprach auch deiner eigenen Empfindung.«

Trotz alledem gab es noch einen Menschen, welcher sich nicht ergeben wollte an die Hoffnungslosigkeit. Dies war Moses. Er wußte keinen Ausweg, er wußte keine Hilfe, aber er ergab sich nicht. Er war wie die kleinen Kinder, welche ungezogen zu sagen pflegen, aber ich will nicht.

Zu tun wußte er freilich auch nichts, aber er folgte dem richtigen Instinkte: bei dem ungestümen Unglücke, dem Ursprunge des Unglücks so nahe zu treten wie möglich. Dem Ursprunge. Wer war denn immer der Feind Rubens gewesen? der nichtswürdige Veitl. Konnte der nicht –? Ja, was nützte es, ihm Bosheit nachzuweisen; hier war doch die Wahrheit gesagt worden; Ruben hatte ja wirklich ausgesprochen, daß er sich mit der Christin verlobt habe.

Dennoch blieb Moses bei dem Kindergeschrei: Ich will nicht. Er fragte: Wo ist's denn zum Klappen gekommen? Vor der Synagoge. Wer hat's denn ausgesprochen? Das wußte er nicht genau. Der Rabbi Aaron ist dabei gewesen, den muß man fragen. Aber der Rabbi Aaron war nicht zu sprechen, der war an jenem Vormittage plötzlich krank geworden, der lag sterbenskrank darnieder; niemand konnte zu ihm.

Diese Dinge rumorten in Moses. Deshalb suchte er der Marcia und dem Veitl wieder einmal nahe zu kommen, vielleicht fände er da einen Fußsteig.

Dazu bot sich eine Anknüpfung. Als Ruben von der letzten Zusammenkunft mit Kamilla heimkehrte in der weichsten Stimmung von der Welt, und den noch sinnenden Moses in seinem Zimmer fand, wo er Möbel abstäubte, da sagte er, nachdem er ihn eine Weile schweigend betrachtet hatte: »Moses, ich möchte dir gern etwas Gutes erweisen, und ich kann's vielleicht, denn der Gelderwerb ist groß geworden, ich bin wohlhabend. Da bin ich eben auf dem Heimwege am Laden Veitls vorübergekommen, und der Veitl, welcher mich sonst haßt, hat mich gegrüßt. Das hat er sonst nie getan, da muß etwas vorgefallen sein, was? weiß ich nicht. Aber ich habe daran gedacht, daß du früher solch einen antiquarischen Laden zu besitzen gewünscht hast –«

»Ja, Herr Ruben, und gerade den vom Veitl.«

»So gehe hin und frage, warum er mich jetzt grüßt, und wieviel er haben will für seinen Laden. Der alte Kerl verkauft vielleicht jetzt, er sah verstört und verfallen aus.«

Ruben hatte ganz richtig gesehn. Moses eilte sogleich hin und fand ihn wirklich verfallen, den alten Veitl. Der hat etwas Schlechtes begangen und das Gewissen bedrückt ihn – sagte sich Moses.

Veitl ging auch ein auf den Verkauf des Ladens, und war kleinlauter, als ihn Moses je gesehn. Während sie um den Preis handelten – zwei Juden! – ging Marcia vorüber und trat einen Augenblick ein, bloß um Veitl zu sagen: »Es sei wieder nichts mit dem neuen Dienste, welchen er ihr empfohlen. Wir haben kein Glück mehr« – sagte sie matt beim Fortgehn.

Und die auch! – sagte sich Moses – wie ist die herunter! Das Paar hat was begangen.

So fragte er denn Veitl, der ja damals auch vor der Synagoge gestanden: »Wer hat's denn eigentlich gesagt zum alten Abraham, daß der Ruben –«

»Laß mich in Ruh, Moses, mit der Geschichte« – schrie Veitl – »und sieh her –! Hier schreib ich dir den Preis auf für meinen Laden; ich will verreisen. Kannst du bezahlen, so bleib' ich im Wort bis heute abend.«

»Ich komme wieder« – sagte Moses und ging. Der Kopf dröhnte ihm. Er hatte nichts erfahren, aber er bildete sich ein, der gesuchte Fußsteig liege um die nächste Ecke. Er müsse Herrn Ruben – nein! der ist zu gutmütig, den Herrn Farmer müsse er zu Rate ziehen, der sei der Klügste.

Farmer war seit seiner Katastrophe ein häuslicher Mann geworden, welcher fast täglich Börsenartikel schrieb für die Zeitung, und welcher Ruben die Leitung der gemeinschaftlichen Spekulation überließ, weil Ruben Glück im Spiel haben müsse, da er Unglück in der Liebe habe. Und so fand ihn auch Moses beim Schreibtische. Farmer empfing ihn freundlich; er war recht sanft geworden seit seinem Sturze. »Was bringst du, Moses?«

Ja, das war schwer zu sagen. Moses hatte mehr Ahnung als Anhalt. Er wußte auch kaum, wohin er strebte. Zunächst meinte er sagen zu müssen: Die beiden Feinde Rubens, der Veitl und die Marcia sind verwandelt, so verwandelt, als ob sie ein Verbrechen begangen hätten. Welches? Wie? Und hat es einen Bezug auf Ruben?

Farmer hörte vortrefflich. Er ließ Moses alles, was in ihm herumging, kunterbunt ausschütten, und als Moses nichts mehr zu sagen hatte, da schwieg er auch noch eine lange Weile. Endlich sagte er langsam: »Der Schlüssel zur ganzen Frage, welche unklar in dir wirtschaftet, liegt bei dem Alten. Führe mich zu ihm.«

»Zu wem?«

»Hoffentlich lebt er noch. Gestern sagte jemand, er liege im Sterben – der Rabbi Aaron.«

»Ah! Ich glaube, das ist der rechte Weg.«

Es war die höchste Zeit. Der Tod saß dem steinalten Rabbi auf der Zunge. Das hatte gestern Jonas, des Rabbi Diener zu Moses gesagt.

»Hol mir den Jonas!« sprach Farmer.

»O weh, der alte mürrische Grobian ist nicht zu haben.«

»Ist zu haben. So uneigennützig der Aaron, so eigennützig ist der Jonas. Er kommt öfters zu mir, damit ich ihm eine kleine Börsenanlage rate. Hol' ihn heraus auf den Platz vor der Synagoge; dort wart' ich auf ihn.«

Beide gingen; Farmer wartete, Jonas, ein kleiner knochiger Alter kam. Als er hörte, der Signor Farmer wollte den Rabbi sprechen, da kratzte er sich den Kopf: »Der Rabbi kann ja nicht mehr sprechen seit dem Unfalle auf dem Platze.«

»Na, wer regiert denn also die Gemeinde?«

»Er regiert noch. Wenn ich ihm das Auge aufriegle, da kann er schreiben.«

»Schreiben? Um so besser. Warst du dabei, als der alte Abraham umfiel?«

»Nein; er war gerade umgefallen, als ich dazukam, um unsern ohnmächtig gewordenen Rabbi aufzufangen.«

»Und der Rabbi hat seit der Zeit wirklich kein Wort mehr gesprochen?«

»Kein Wort mehr. Der Schreck über den zusammenstürzenden Abraham ist ihm auf die Zunge gefallen.«

»Weiß er, was vorgeht in der Welt?«

»Nichts weiß er. Wozu sollen wir's ihm sagen! Er antwortet nur mit dem Bleistifte aufs Papier, wenn man ihn fragt.«

»Jonas, ein kleines solides Geschäft liegt bereit für dich, wenn du übermorgen um zehn Uhr vormittags zu mir kommst, und wenn du mich jetzt zum Rabbi Aaron führst.«

»Ah, das ist nicht so leicht. Der Alte macht einem schrecklich viel zu schaffen. Weil er ein Prophet ist, will alles von ihm profitieren. Das ganze Haus ist voll zudringlicher Leute, die zu ihm wollen, um noch gesegnet zu werden. Da kann ich Euch nicht durchbringen.«

»Aber,« sagte Moses – »durch die kleine Tür, aus welcher der Rabbi sonst in das Gärtchen kam?«

»Die enge Stiege hinauf? Ja allenfalls. Kommen Sie, Signor.«

Es war ein kleines Gemach, in welchem der sterbende Priester lag. Unmittelbar am Fenster lag er, damit er von der Sonne beschienen wurde. So hatte er sich's ausbedungen, als er noch reden gekonnt. Halbliegend saß der Greis in einem Lehnstuhle, eingehüllt in einen dunklen morgenländischen Talar. Der volle weiße Bart reichte ihm bis unter die Brust, das Antlitz war tief gefurcht und regungslos, der Kopf völlig kahl, die Augen waren geschlossen. Vor ihm ein Tisch, worauf ein kleines Pult zum Schreiben, eine große Bleifeder und eine Anzahl weißer Papierblätter. »Auf diese Blätter« – flüsterte Jonas Farmer zu – »schreibt er noch die Anordnungen für die Gemeinde.«

»Und ist sein Geist noch klar?«

»Freilich, er ist ja Prophet, der Mann des Wunders. Fragen Sie also, ich richt' ihn schon. Aber kurz; das Augenlid bleibt nur einige Minuten in der Höhe.«

Und nun trat Jonas hinter den Lehnstuhl und sprach: »Rabbi, ein wichtiger Mann kommt mit einer Anfrage.«

Der Rabbi nickte mit dem Kopfe, und Jonas schob ihm das Augenlid in die Höhe. Ein tief dunkles Auge blickte auf Farmer, und während dieser fragte, drückte Jonas dem Rabbi die Bleifeder in die Hand, das kleine Pult nahe rückend mit einem Blatte Papier.

Farmer war durch die umhersuchenden Reden des Moses auf den Punkt geführt worden: Der Ursprung des Unglücks, der Vorgang vor der Synagoge, die Aussage des Rabbi könnte eine neue Aufklärung bringen für Ruben, und in diesem Sinne fragte er jetzt:

»Frommer Rabbi, wenn dein Geist noch auf der Erde weilt, so gib mir Antwort – du warst ja immer gütig – Antwort auf eine Frage, welche zwei gute Menschen betrifft. Deine Antwort kann sie glücklich machen.«

»Vorwärts! vorwärts!« flüsterte Jonas, während der Rabbi auf das Papier schrieb mit der Bleifeder.

Jonas las, was er geschrieben. Es lautete: Frage!

»Erinnerst du dich« – fuhr Farmer fort – »deutlich des Augenblicks, da vor der Synagoge Abraham Schmuel zu dir trat, und gleich darauf, tot niederfiel?«

Der Rabbi schrieb, Jonas las: Ja.

»Hast du zu ihm gesagt, daß sich sein Sohn Ruben taufen lassen wollte?«

Der Rabbi schrieb, Jonas las: Nein.

»Wer hat dies also gesagt?«

Der Rabbi schrieb und Jonas las: Niemand hat es gesagt. Es hat einer geschrien: Dein Sohn Ruben hat heute schmählich Bankrott gemacht. Beim letzten Worte schrie Abraham entsetzlich und fiel auf mich. Er war tot, ich besinnungslos.

Farmer und Moses stießen gleichzeitig einen Freudenruf aus, und Farmer ergriff den beschriebenen Zettel, während der Rabbi, dessen Auge sich schloß, an die Lehne zurücksank, unbeschriebene Papierstücke aber auf den Boden fielen.

»Dank, Dank!« rief Farmer. Jonas jedoch drängte ihn und Moses nach der Tür in die enge Treppe hinein. »Wer, Jonas, wer« – sagte Farmer – »wer kann es ausgebracht haben, daß Abraham an der Nachricht von der Taufe seines Sohnes gestorben wäre?«

»Es ist gerufen worden, als ich den ohnmächtigen Rabbi fortbrachte, und es war die Stimme des Buchverkäufers Veitl.«

»Oh!«

»Der alte Abraham hat nichts mehr davon gehört, der war gleich mausetot, der hat den Bankrott nicht vertragen. Also übermorgen, Signor Farmer, komme ich.«

»Und wirst willkommen sein, braver Jonas« – sagte Farmer, und Jonas trat zurück, die Nebentür inwendig schließend.

Farmer hielt das beschriebene Blatt hoch vor sich hin, »Gott sei Dank!« rufend, Moses jubelte. Er verstand, und laufend kamen beide nach Hause.

»Warte!« sagte Farmer, setzte sich und schrieb folgendes:

Der verehrungswürdige Greis Rabbi Aaron, im Sterben begriffen, hat noch ein gutes Werk verrichtet, er hat mit eigner Hand aufgeschrieben, daß man Unwahres ausgesprengt hat über den Tod Abraham Schmuels. Dieser Tod ist nicht veranlaßt worden dadurch, daß man erzählt hat, sein Sohn Ruben wolle sich taufen lassen. Das hat niemand erzählt, wohl aber ist geschrien worden, Abrahams Söhne hätten schmählichen Bankerott gemacht. Diese unwahre Nachricht hat den schwachen Greis Abraham so erschreckt, daß er einem Schlagflusse erlegen ist. Die eigenhändige Handschrift des sterbenden Rabbi, welche dies bezeugt, ist in meinen Händen und kann jedermann gezeigt werden. Farmer.

»Dies trage eiligst in die Zeitung und erzähle es aller Welt, aber laß mir den Vorrang bei Ruben, ihm will ich es sagen.«

Bei aller Freude verließ doch unsern Moses der Kopf des Trödeljuden nicht, nachdem die höhere Sorge endlich überstanden war. Er wollte jetzt gleich unterwegs ein Geschäft machen, welches nach Ruben ihm am Herzen lag. Der Weg führte nämlich an Veitls Laden vorüber, und dieser Laden war ja sein bürgerliches Ideal. Da blieb er denn stehen, und rief: »Herr von Veitl, lesen Sie einmal diese Schrift unsers Rabbi Aaron, Sie kennen sie ja. Lesen Sie aufmerksam! Ich trage sie in die Druckerei. Ja, ja, es ist nicht anders; wenn Sie auch kreideweiß werden. Nicht wahr, das ist deutlich? Nun, das ist Nummer eins. Es gibt aber auch eine Nummer zwei, die lautet: Wer hat's ausgesprengt, daß Vater Abraham vom Schlage gerührt worden sei, wegen der Taufe Rubens? Wer? – Herr von Veitl. – Schreien Sie nicht umsonst, es sind Ohren- und Augenzeugen vorhanden. Was folgt daraus? Herr von Veitl in Gemeinschaft mit der Dienstmagd Marcia werden kriminaliter angeklagt, öffentliches Unglück angerichtet zu haben, durch Lüge und Verleumdung, und Herr von Veitl mit der Dienstmagd werden aus dem Weichbilde von Triest ausgewiesen, dabei wird es an Rippenstößen und Prügeln nicht fehlen.«

Veitl starrte ihn an und war keines Wortes mächtig.

»Heute wird Nummer eins in der Zeitung abgedruckt, morgen kommt Nummer zwei, wenn nicht der von Veitl bis heut abend seinen Laden verkauft und sich unsichtbar gemacht hat, denn ein so kriminal angespuckter Mensch darf nicht mehr Bücher verkaufen. Ihr habt den Preis für Euren Laden aufgeschrieben?«

»Hier.«

»Ist um die Hälfte zu hoch. Diese Hälfte zahlt Herr Ruben bis Sonnenuntergang, wenn der von Veitl samt seiner Gesponsin zur Nacht die Stadt verläßt auf Nimmerwiedersehen. Alsdann, aber nur alsdann bleibt Nummer zwei in meiner Tasche. Verstanden? Gegend Abend komme ich mit dem Gelde und hole mir den Kaufschein.«

Während Moses nicht just edelmütig sich aufführte, ging Farmer hinunter zu Ruben. Er fand ihn und reichte ihm stillschweigend die Originalschrift des Rabbi.

Ruben verstand nicht sogleich, so unerwartet kam das, und als Farmer mit dem Kopfe nickte und sprach: »Ja, ja, es ist die blanke Wahrheit, welche der alte Priester verkündet«, da brach Ruben in einen Freudentaumel aus, welcher den nüchternen Farmer erschreckte. »Hinaus zu Kamilla! Hinaus!« schrie er und griff nach dem Hute –

»Nein,« sagte Farmer, und hielt ihn fest, »nein!«

»Warum nein?«

»Die Frucht nicht eher brechen wollen, als bis sie reif geworden. Da kommt Bellosi, unser Diplomat, er soll entscheiden, ob Frau Molitore so flugs zu gewinnen wäre.«

Bellosi, entzückt von der günstigen Wendung der Dinge, welche ihm in fliegenden Worten mitgeteilt wurde, drang noch strenger auf Zurückhaltung als Farmer. Frau Molitore, meinten beide, ist auch jetzt nicht zu gewinnen, und ohne ihre Einwilligung ist man zu peinlichen Gewaltschritten genötigt, welche selbst Kamilla ablehnen kann.

»Also? – Also warten und operieren, ob sie zu gewinnen ist« – sprach Bellosi mit einem Ernste, der selten bei ihm war. »Ich kenne diese zerfahrene, eitle Frau« – fuhr er fort – »und ich halte es für kaum möglich, ihre Einwilligung zu erlangen.«


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