Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12.

Ruben war noch eine Zeitlang sitzen geblieben, rückwärts denkend und vorwärts sinnend. Das Glück war erfüllt, Kamilla gehörte ihm, die Herzensfrage war erledigt, zum Entzücken erledigt – nun mußte der Verstand an die Reihe kommen.

Sein Sinnen ging dahin, wo und wie nun gehandelt werden müßte. Die Frage um den Vater war ihm die Hauptfrage. Er wußte ganz wohl, daß auch dann, wenn er den Vater gewinnen könnte, noch schwere Hindernisse vorlägen, aber unter tiefem Atemzuge stand er auf und sagte sich: »Eines nach dem andern! Zuerst der Vater – das schier Unmögliche.«

Langsam ging er den Bergpfad hinab. Er wollte zunächst, und zwar sogleich die Mutter aufsuchen. »Sie ist mild« – sagte er sich – »sie kann und wird vorbereitend helfen.«

Zu seinem Erstaunen sah er unter der Villa auf dem Steine am Wege Moses sitzen.

»Was machst du hier?«

»Ich sitze Schildwache.«

»Für mich?«

»Ja. Und ich suche dabei auch Profit für mich. Er ist freilich kaum einen Kreuzer wert, weil ein Frauenzimmer mitspielt. Jehova hat mich verzeichnet.«

»Was heißt das?«

»Marcia heißt das. Marcia heißt die Magd da drin. Sie kennen sie wohl noch gar nicht, Sie sehen sich eben nicht um, weil Sie besseres zu sehen kriegen, na, die Marcia ist derb und üppig und grob. Mein Geschmack ist bei alledem nicht schlecht. Ihr Herr Bruder, der Manasse, hat ihn auch.«

»Was?!«

»Die Marcia gefällt ihm auch, und er ist jünger als ich und reicher. Er verdirbt mirs Geschäft. Ich hatte schon ein kleines Eckchen Aussicht, sie hatte mir schon einen gelinden Backenstreich gegeben, da ist der Manasse mit einem großen Geschenke vorgerückt, und da war sie gestern abends hier, wo ich sie erwartete, bloß grob. Dabei sprach sie aber ein paar Worte dazwischen, welche mir verrieten, daß sie der jungen Signorina auflauerte, sobald diese des Morgens den Berg da hinaufging, wie sie früher getan. Signora Molitore würde sie gewiß belohnen, wenn sie ihr das anzeigte. Deshalb, Herr Ruben, bin ich hier. Manasse hatte mir gesagt, daß die Signorina angekommen, und da hab' ich gewußt, daß Herr Ruben auch gleich wieder – na, Sie waren doch noch früher hier als ich, und kaum hatte ich mich dahergesetzt, da kam auch schon die Marcia heraus und wendete sich nach links da hinauf. Ich aber rief sie an und sagte ihr: Marcia, am nächsten Ultimo – heut' ist erst der Fünfzehnte – erhältst du einen richtigen Fünfguldenschein, wenn du der jungen Herrin mit keinem Schritte mehr nachgehst. Da hat sie gelacht und hat gesagt, ich kann mit ihr reden, ich versteh slowenisch, 's ist meine Muttersprache. Also da hat sie gesagt: ›Was ist denn das Ultimo?‹ – und als ich ihr erklärt, daß dies der Letzte des Monats wäre, da hat der Balg ganz klug erwidert: Morgen ist besser als Ultimo. Na, also morgen! hab' ich gesagt. Hab' ich zuviel versprochen?«

»Nein, braver Moses. Jetzt komm' mit und schenk' mir deinen Rat.«

»Rat? Mein Rat wäre, den Veitl totzumachen bis morgen. Er versteht auch slowenisch, und wenn das Mädel an uns vorübergeht auf den Markt und ich sie anspreche, da kommt er immer gleich herangehumpelt und sagt ihr verliebte Anzüglichkeiten, der alte Bock. Das Mädel und der alte Bock sind beide gefährlich.«

»Nun, das Mädel wirst du bestechen, und der Veitl ist deine fixe Idee. Ich brauche deinen Rat wegen des alten Rabbi, den ich sprechen möchte. Du kennst den alten Rabbi Aaron?«

»Von meiner Jugend auf. Er spricht mich immer an, wenn ich ihm begegne, und schilt mich. Aber mit freundlicher Stimme tut er's. Er ist das Herz Israels in Triest und verachtet mich nicht, weil ich nicht alles glaube.«

»Du kannst ihn also sprechen?«

»O ja. Er hat ein kleines Gärtchen hinter seiner Wohnung, da sitzt er mittags, wenn's keine Bora gibt, unter einem Feigenbaume, und da spricht er mit jedem, der zu ihm kommt.«

»Heute weht keine Bora, geh' also heute zu ihm. Das heißt – ich will ja deinen Rat hören – wenn du meinst, daß es ratsam ist, dich vorauszuschicken. Du kennst ja meine Lage und die Schwierigkeiten derselben. Ich will eine Christin heiraten und dabei doch meinen Vater nicht verderben.«

»Kurz, Sie wollen ein Wunder.«

»Du kennst mich, du bist mir geneigt, du wirst ihm die Dinge und Personen günstig schildern. Dann erst, meine ich, wird es am Platze sein, daß ich selbst zu ihm gehe, und dann endlich soll meine Mutter den Vater Abraham zu ihm senden.«

Moses kratzte sich wieder den Kopf und murmelte: »Ein Wunder soll geschehen, ein Wunder! Na dafür ist er ein Prophet. Ein Prophet muß eben ein Wunder verrichten können. Ich geh' also hin und bring' Ihnen zwischen Zwölf und Eins Bescheid in Ihre Wohnung.«

So trennten sie sich. Ruben fand, wie er gehofft, seine Mutter allein. Das Führen des Vaters in die Synagoge war ihr zu schwer geworden, Vater Abraham brauchte eine stärkere Stütze, und Andreas, der alte Hausdiener, hatte die Führung übernommen.

Sie schrie auf vor Freuden, als sie Rubens ansichtig wurde. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen und führte ihn die Stiege hinauf in sein verlassenes Zimmer, damit der zürnende Vater sie nicht stören könnte.

Oben ankommend, machte sie ihm sanfte Vorwürfe, daß er so lange fortgeblieben sei und sie ganz ohne Nachricht gelassen habe.

Er entgegnete, daß ihm dies unmöglich gewesen sei, solange er unsicher geblieben, ob Kamilla sein Liebesgefühl erwidere. So lange habe er wie in einem Banne gelebt, in einem Banne, welcher jeden andern Gedanken, jede andere Tätigkeit ausgeschlossen habe. In einem Banne übrigens von himmlischem Zauber. Erst jetzt –

»Sie erwidert deine Neigung?«

»Ja.«

»Ich habe es nie bezweifelt. Und du wirst mir sie zuführen eines Abends? Kannst du?«

»Ich hoffe, wenn nicht eine voreilige Entdeckung uns auseinander sprengt.«

»Sie weiß noch nicht, daß du ein Jude bist?«

»Nein!«

»Und wenn sie es erfährt, was glaubst du?«

»Ich glaube das Beste. Sie ist natürlich und unverbildet. Ihre Mutter war eine Evangelische, welche allein unter Katholiken gelitten und die Duldung schätzen gelernt hat. So kennt sie von ihrer Mutter her – die Evangelischen lesen ja das Alte Testament – unsere jüdische Geschichte und unsere Bedeutung für den Ursprung des Christentums.«

»Und sie wird nicht verlangen, daß du dich taufen lässest?«

»Das weiß ich nicht. Unter allen Umständen wird der Vater die entscheidende Person. Er wird meinen Übertritt zum Christentum nie zugeben.«

»Nie.«

»Und wenn ich ihn vollzöge ohne seine Einwilligung so könnte das ein Schlag für ihn werden, welcher –«

»Ja, Ruben, ja. So wie er jetzt ist, könnte das – er ist schon sehr schwach, er wird alle Tage schwächer und im Glauben immer reizbarer.«

»Um meinetwillen!«

»Ja. Aber nicht bloß um deinetwillen. Das hat er kommen sehen von lange her. Vor'm Jahre schon hat er mir einmal nach der Talmudstunde gesagt: Der Ruben wird verloren gehen für Israel. Selbst der Manasse ist ihm kein Trost. Er nennt ihn stumpf und gedankenlos, und was noch wichtiger: auch in der Gemeinde mißfallen ihm viele. Sie reden lau und flau – sagt er – Israel vertrocknet.«

»Wieviel weiß er von mir?«

»Das Ärgste. Gestern hat ein Junge einen Brief gebracht. Darin lag ein Zettel, und auf dem Zettel stand geschrieben: Dein Sohn Ruben liebt eine Christin, und damit er sie heiraten kann, wird er sich taufen lassen. – Der Vater zitterte am ganzen Leibe, als er mir den Zettel reichte. Vom alten Veitl ist der Zettel. Ich kenne die Handschrift von den Rechnungen, die er mir zugeschickt hat für gekaufte Bücher. Dieser Veitl ist der schlimmste.«

»Moses!« dachte Ruben und sagte dann: »Vielleicht könnte Rabbi Aaron Einfluß nehmen auf den Vater.«

»Ich glaub's nicht. Der Vater tadelt immer den Rabbi Aaron, und nennt ihn altersschwach, schilt ihn verweichlicht.«

»Demnach zeigt sich kein Ausweg. Auch du, meine liebe Mutter, weißt keinen.«

Mutter Ruth umarmte ihren Sohn. Tränen fielen dabei auf sein Angesicht, und sie sagte fast schluchzend: »Geduld, Kind, Geduld! Warten, Warten!«

»Diese Weisheit hab' ich heute schon Kamillen gepredigt, aber sie ist recht dürr.«

»Jedenfalls bringst du mir deine Kamilla hier herauf in dein altes Zimmer. Hieher kommt der Vater nie. Ich schmachte ja danach, deine Liebste zu sehen.«

Herabgestimmt kam Ruben in seine Wohnung, wo ihn Moses schon erwartete. Er hatte richtig den Rabbi gesprochen und rief ihm entgegen: »Geht gleich zu ihm! Er sitzt im Gärtchen und erwartet Sie!«

»Wie hat er's aufgenommen? Wie hat er mich aufgenommen? Darin steckt's.«

»Vorwürfe hat er mir gemacht, daß ich nicht in die Synagoge käme. Kleine Leute wie ich dürften nicht ihren Glauben hinschleppen lassen wie einen Lappen. Sie hätten nicht das Zeug dazu, sich zu überheben. Ein Trödler wie ich wäre kein Staatsmann und dürfte nicht seinen Glauben vertrödeln wie ein paar alte Westen. So? hab' ich gesagt, warum denn so? Warum macht ein weiser Rabbi wie Ihr einen solchen Unterschied zwischen kleinen Leuten und großen Leuten? Davon steht nichts in unserm Glauben, nichts. Mein Kopf kann so hell sein wie der eines Staatsmannes. Das hab' ich gesagt, und das war ihm doch zu arg. Er gab mir einen Backenstreich mit seiner schwachen Hand und jagte mich fort. Da sagte ich noch geschwind: ›Er darf also kommen, der Ruben?‹ – ›Er soll kommen!‹ sprach er und nickte mit dem kahlen Kopfe.«

»Wieviel weiß er?«

»Er weiß alles; der Racker Veitl ist bei ihm gewesen. Den mag er aber nicht, das hab' ich schon gemerkt. Gehn Sie zu ihm! Er tut einem immer wohl, auch wenn er einen ohrfeigt.«

So ging denn Ruben und fand den alten Rabbi in seinem Gärtchen. Er saß da unter dem Feigenbaume, wie ein Patriarch aus der Bibel, auf seinem Strohsessel mit Armlehnen. Ein kleiner Strohsessel ohne Lehnen stand neben ihm.

Er trug einen bis an die Knöchel reichenden dunklen Überrock, welcher an die Tracht polnischer Juden erinnerte, aber von grobem Tuche war und eine lange hagere Gestalt einhüllte. Auf dem völlig haarlosen Kopfe, dessen Haut glänzte, trug er ein schwarzes Seidenkäppchen, welches nur den Scheitel bedeckte. Das Gesicht war rosenrot, wie das eines jungen Mädchens, beherrscht von einer Adlernase, belebt von großen dunklen Augen unter buschigen schneeweißen Augenbrauen. Hinter den eingefallenen Lippen zeigten sich große Zähne von so matter Farbe, daß man sofort erkannte, sie seien künstlich eingesetzt. Vielleicht ein Zeichen, daß der hohe Achtziger ein praktisch moderner Mann geblieben. Dazu ein langer, bis unter die Brust reichender, ebenfalls schneeweißer Bart, welcher wohlgepflegt war.

Er winkte mit magerer, fein gegliederter Hand Ruben zu und forderte ihn auf, sich auf dem kleinen Strohsessel niederzulassen. Die Stimme war schwach, aber angenehm.

»Ich kenne Sie recht gut, lieber Ruben« – sprach er – »ich habe Sie aufwachsen sehen, bin Ihnen nach Graz gefolgt und habe mir schon damals gedacht: die Wissenschaft wird diesem hoffnungsvollen jungen Manne viel zu schaffen geben neben einem Vater von strenger Orthodoxie. Die Orthodoxie sieht sich stets gefährdet von neuer Wissenschaft. Ich selbst habe das erfahren und mühselig durchgemacht. Ich war in der Jugend auch ein Eiferer, und bin langsam zur Einsicht gekommen, daß Sanftmut von großem Werte ist im Glauben. Man muß viele Stimmen hören, um sanftmütig zu werden. Die Allgemeine Zeitung von Augsburg hat mir diese vielen Stimmen gebracht. Ich lese sie täglich seit sechzig Jahren. Sie läßt jedermann sprechen, und durch Zufall oder durch höhere Fügung ist sie uns immer zugegangen, obwohl sie eigentlich zum alten Österreich gar nicht paßte. Endlich war dreißig Jahre lang ein unvergeßliches weibliches Wesen neben mir, mein Weib, die hatte ein Herz voll Liebe – wie Ihre Kamilla auch wohl haben wird.«

»Ja, Rabbi.«

»Die muß man hören, die Frauen muß man hören. Sie beschwichtigen den Streit, welcher die Welt zerfleischen möchte. Der Streit ist nötig zur Scheidung der Dinge, aber er muß ausgeglichen werden, und das tun die Frauen. Die meinige tat's redlich, die Ihrige wird's auch tun.«

»Wenn sie nur die meinige wird!«

»Das ist sie schon. Die äußeren Formen sind Nebensache.«

»Für uns leider nicht.«

»Doch, Freund Ruben, doch. Was die Liebe in Ihrem Herzen aufgebaut hat, das kann Ihnen kein Rabbi und kein Statthalter mehr nehmen. Sprechen wir also von Ihrer besonderen Lage, welche mir der leichtfertige Moses geschildert hat. Sie wollen eine Christin und zwar eine Katholikin heiraten, sind aber ein Jude. Sind Sie das noch?«

»Ich glaube nein.«

»So, so. Sie glauben nicht an unsere Grundlehren?«

»O ja. Aber nicht an alle Folgerungen, welche die Verbannung und Zerstreuung seit fast zweitausend Jahren mit sich gebracht.«

»Ja, ja, das hat sie. Und Sie wären geneigt, aus dem Judentume auszutreten?«

»Geneigt? Vielleicht nicht. Aber genötigt.«

»Um eine Christin heiraten zu können?«

»Nicht bloß deshalb. Ich gehöre nicht mehr in den Gedankenkreis gläubiger Juden.«

»Und was hindert Sie, zum Christentume überzutreten?«

»Mein Vater.«

»Das ist ein guter Grund. Da werd' ich Ihnen schwerlich nützen können, denn Ihr Vater hört nicht auf mich. Es ist doch auch sehr befremdlich, daß ein alter Rabbi einem jungen Juden behilflich sein solle, das Judentum zu verlassen.«

»Ja, der alte Rabbi jedoch hat Nathan den Weisen gelesen.«

»Das hat er –«

»Und verschließt sich nicht der Ansicht, daß Heuchelei in Glaubenssachen verderblich, Aufrichtigkeit aber einem ehrlichen Menschen geboten ist.«

»Sehr wahr. Aber jeder gute Mensch soll sich hüten, schweres Ärgernis zu verursachen. Besonders wenn dies Ärgernis seine Eltern trifft; denn diese stehen ihm am nächsten, und ihnen ist er alles schuldig. Könnte nicht vielleicht das Mädchen zu Ihnen übertreten?«

»Das hieße doch nur das Ärgernis auf die andere Seite schieben.«

»Sie hat, wie ich höre, gar keine Verwandten. Sie aber haben einen Vater, der über Ihren Glaubenswechsel zugrunde gehen könnte.«

»Ihm also soll ich mein Leben opfern?«

»Er hat es Ihnen gegeben. Es ist auch zuviel gesagt, daß Sie hiebei ihm das Ihrige opfern sollen. Das Leben besteht nicht nur in den Wünschen der leidenschaftlichen Neigung. Auch wechselt das Leben fortwährend. Lassen Sie ihm Zeit. Er kann die Klippen beseitigen, es kann Ihre Gefühle abschwächen. Ich werde Ihren Vater zu mir bitten lassen, ich kann ihm jedoch nicht raten, gleichgültig zu sein gegen seinen Glauben, und es ist, wie gesagt, vorauszusehen, daß er auf seinem Widerstande beharrt.«

Ruben stand auf und blieb eine Weile schweigend stehen. Dann sagte er: »Erlassen Sie sich eine Unterredung mit meinem Vater. Sie kann nach den Äußerungen, welche Sie mir geschenkt, zu keinem günstigen Ziele führen. Übrigens danke ich Ihnen, Rabbi, für die gewährte Audienz. Auch Sie können mir, wie sich's zeigt, nicht helfen. Leider! Jeder Mensch kann wohl nur sich selber helfen, wenn es um sein Inneres geht, um seinen Glauben, wie's die Priester nennen. Leben Sie wohl!«

»Wohl leben? Ich habe nicht mehr lange zu leben, und es würde mich freuen, Sie wiederzusehen als einen gefaßten, beruhigten Mann, lassen Sie mich sagen: als einen frommen Mann.«

»Das heißt als einen frommen Juden.«

»Fromm kann man sein ohne Rücksicht auf das Glaubensbekenntnis.«

Ruben ging. Er war sehr niedergeschlagen. Jetzt erst stand es klar vor ihm, daß es sich um Tod und Leben seines Vaters handelte. Solange das Liebesverhältnis noch nicht vollständig entschieden war, da waren alle Hindernisse im dunklen Hintergrunde verblieben, jetzt trat das schwerste Hindernis, sein Vater, grell vor seine Augen und beängstigte ihn aufs Äußerste.

Er ging an diesem und dem folgenden Tage jedermann aus dem Wege, auf die Berge hinauf lief er, um seinen Gedanken zu entfliehen. Und doch wollte er sie sammeln. Was er früher für unmöglich gehalten, jetzt trat es ein: es war ihm unerwünscht, mit Kamilla zusammenzutreffen, wie bestimmt worden war.

Traurig ging er hinauf zur Bank unter der Platane und erschrak fast, als er sah, daß Kamilla ihn schon erwartete.

Sie war heiter, fast ausgelassen und erzählte sogleich, daß mit der unbequemen Marcia eine Veränderung vorgegangen sein mußte, denn sie wäre sehr zutunlich geworden und hätte heute gar keine Miene gemacht, ihr nachzuschauen. »Aber was ist dir, Ruben? Du siehst betrübt aus!«

»Ich bin es auch, liebe Kamilla.«

»Warum? Dein Vater?«

»Ja, Kamilla, mein Vater ist die Ursache. Ich weiß jetzt bestimmt, daß wir nicht Mann und Frau werden können, solange er lebt.«

»Oh!«

»Und daß ihm sorgfältig verschwiegen bleiben muß, ich verkehrte mit dir und dächte an eine eheliche Verbindung mit dir.«

»Nun, so seien wir fein vorsichtig und recht verschwiegen. Aber hieher wirst du doch kommen, und in der Villa wirst du dich doch einstellen, heute noch?«

»Wäre dies das Mittel, unsere Liebe zu verschweigen?«

»Ah! Du denkst doch nicht daran, daß wir uns nicht mehr sehen sollen?«

»Selten, unscheinbar.«

»Das ist aber wirklich traurig. Ich denke den ganzen Tag über nur an dich, ich spreche immerfort mit dir und nun –«

»Mein liebes Kind, du mußt mir doch helfen, einen Schleier über uns zu werfen.«

»Ich hab' dir ja eben gesagt, daß Marcia –«

»Gut, gut. Hier in der Einsamkeit werden wir uns noch zuweilen sehen können, ich werde auch meinen Besuch, meine förmliche Staatsvisite in der Villa abstatten, aber ich muß danach trachten, daß meinem Vater mit einigem Fuge gesagt werden kann: unser Liebesverhältnis habe nichts zu bedeuten und sei so gut wie abgebrochen.«

»Ruben!«

»Närrchen, es handelt sich ja nur um den Schein.«

»Und ist auch deine Mutter gegen mich? Du hast mir ja gesagt, daß du noch eine Mutter hast.«

»Eine sehr liebe, gute Mutter.«

»Und doch ist auch sie meine Feindin?«

»Nein, nein! Sie ist dir sehr wohlgesinnt!«

»O, dann bring' mich zu ihr! Damit ich doch bei all der verlangten Entsagung einen Trost habe.«

»Einen Trost? Nun ja, das wird möglich zu machen sein.«

»Nein, nein, nicht bloß möglich, gewiß, gewiß! Und sogleich, heute noch, heute! Ruben, ich bitte dich, heute.«

»Ungestümes Kind, du ahnst nicht –«

»Ich ahne Glück und Freude, wenn ich deine Mutter küssen kann.«

»Nun denn, wenn du einmal des Abends ungefährdet von der Tante abkommen kannst –«

»Jeden Abend. Der Doktor hat ihr befohlen, immer vor Sonnenuntergang ins Bett zu gehen; da weiß sie gar nicht, ob ich zu Hause bin oder nicht.«

»Also in den nächsten Tagen.«

»Warum nicht heute? O, lieber Ruben, heute, heute!«

»Wohlan denn, heute. Ich werde dich sogleich bei meiner Mutter ankündigen und werde den Moses beauftragen.«

»Wer ist Moses?«

»Ein Botenläufer, welchen wir dazu brauchen. Er kennt eure Marcia und wird ihr neuerdings Geld geben, daß sie für unsern Dienst gewonnen werde. Um acht Uhr heute abends wird er vor eurer Villa auf euch warten, und sobald du mit der Marcia aus dem Hause trittst – denn du brauchst sie als weibliche Begleitung – wird er ohne zu fragen vor euch einhergehen bis zum Hause meiner Eltern. Dort wird er stehen bleiben, und ihr werdet eintreten, den alten Hausdiener nach meiner Mutter fragend. Er wird unterrichtet sein, und meine Mutter wird dich empfangen.«

»Prächtig! prächtig! Ein Abenteuer! Und wie freu' ich mich auf deine Mutter! Sie muß dir ähnlich sein.«

»Man sagt es. Mit ihr kannst du unbefangen und freimütig sprechen. Sie weiß alles von uns und sie beschützt uns.«

»Herrliche Frau! Sie wird auch deinen Vater umstimmen.«

»Das kann sie leider nicht.«

Was aber auch Ruben verneinen mochte, Kamilla war nicht aus ihrer fröhlichen Stimmung zu drängen. Sie war eben jung und meinte Zeit zu haben für die Heirat. Und sie entwickelte eine Frische des Wesens, welche Ruben nie an ihr bemerkt hatte. Wie reizend lachte sie über all die kleinen Wendungen des Verschweigens, welche sie sich erfand! Und wie einnehmend erschien ihr schönes Antlitz unter der lachenden Heiterkeit! So hatte er es ja nie gesehen.

Er war ein ernster Mann, er war jedoch immer empfänglich für humoristische Äußerungen, und diese Fröhlichkeit seines Mädchens wirkte so erfrischend auf ihn, daß seine trübe Gedankenwelt beinahe völlig zurückgedrängt wurde und er sich einem Geplauder hingab, welches unter Liebesleuten so anmutig ist, weil es in seinen heiteren Wendungen auch die zärtlichen Wendungen aufnimmt.

Als sie schieden, war eine ganz neue Welt für ihn aufgetaucht, und er sagte, nach der Stadt gehend: »Deine Kamilla ist ein unermeßlicher Schatz.«

Er ging also zu seiner Mutter. Diese war höchlichst erfreut über den angekündigten Besuch und sorgte sogleich nach Frauenart für alles scheinbar Nebensächliche. Das begleitende Mädchen, die Marcia, mußte untergebracht werden. Ruben sollte also dem Manasse auftragen, heute abends nach dem Talmudlesen auszugehen, denn sein Zimmer sei für den Aufenthalt des Mädchens bestimmt. Der Vater sei nicht zu fürchten, denn der bleibe abends unverrückt in seinem Zimmer, und den Andreas, den alten Hausdiener, werde sie schon unterrichten, daß er die Frauen die Stiege heraufführe. Sie selbst werde Kamilla in Rubens Zimmer nehmen, wo gar keine Störung zu befürchten sei.

Dann ging Ruben in seine Wechselstube und unterrichtete Manasse und den eben heranschlendernden Moses.

Beide waren ganz verblüfft. Moses am meisten, und er fragte sofort: »In ein jüdisches Haus, Herr Ruben?«

»Ja, Moses.«

»Sie weiß also?«

»Nichts weiß sie.«

»Herr Ruben, das ist Courage. Der Rabbi hilft wohl, daß Sie so große Schritte machen? Hilft er?«

»Nein, Moses, er hilft nicht; wir müssen uns selber helfen. Fasse Mut, wie ich ihn heute gefaßt habe trotz schweren Kummers. Solch ein liebes Mädchen ist eine Zauberin, und du hast ganz recht, immer dein Liebesunglück zu beklagen. Aber seufze nicht so erbärmlich und bring' dies Geld – greif' zu! – weislich an bei der Marcia, welche du sogleich aufsuchen mußt. Das wird dich ja aufheitern!«

»Ach« – sagte er und blickte auf Manasse – »ich bleibe ja doch verzeichnet, ver...!«

Dennoch war ihm der Gang hinaus willkommen, der Gang zur slowenischen Venus, wie er sie nannte. »Wenn sie Gold kriegt,« sagte er, »da lacht sie immer und ist menschenfreundlich. So sind wir alle.«

Er nahm ein blitzrotes Tuch mit sich, welches er für ihre Schultern bestimmt hatte. »Das muß sie gleich probieren,« meinte er, »sonst kriegt sie's nicht, und dabei siehst du ihr derbes Fleisch« – sie war nämlich von kräftiger Gestalt und von strotzender Gesundheit.

Er bestellte alles genau und mit bestem Erfolge. Die Herrin lag oben krank, und die Dienstleute hatten unten Freiheit. Auch mit leidlichem Erfolge für sich selbst, denn Marcia hatte nur in geringem Maße abgewehrt, als er beim Wechsel des Tuches ihre Schulter gestreichelt.

Abends saß er schon um halb acht Uhr auf dem Stein und wartete, über die Glückseligkeit des Menschengeschlechtes philosophierend und dahin abschließend unter einem Seufzer: Genügsamkeit ist die Hauptsache.

Schlag acht Uhr trat Kamilla, tief verschleiert, mit Marcia aus dem Hause. Er erhob sich, pfiff halblaut eine lustige Melodie und ging voraus. Am Schmuelschen Hause zog er die Glocke und trat mit einer graziösen Reverenz zurück. Dabei sah ihn Kamilla erst näher und lachte. Andreas, der Hausdiener, öffnete. Kamilla trat über die Schwelle, die ihr nachfolgende Marcia gab ihm einen Nasenstüber. Er war glückselig über den Nasenstüber und über den so nahen Anblick des lachenden Antlitzes Kamillas, welches er trotz des Schleiers wunderschön fand. Ein ewig Verliebter sieht auch durch ein Brett. Glückselig ging er von dannen, um Manasse aufzusuchen, denn warten sollte er nicht; den Rückweg würde Marcia allein finden.

Kamilla blickte neugierig auf den Hausdiener, einen alten Burschen mit gekrümmtem Rücken, der auf die Treppe hinwies. Im Hause regte sich nichts. Der künstlerisch gearbeitete schwere Leuchter von Silber, mit welchem er vorleuchtete, fiel ihr auf. Sie wußte noch nicht, daß Juden kostbare Metallarbeiten suchen, vielleicht um wertvolles Eigentum zu haben, wenn die stets gefürchtete Verfolgung hereinbräche. Oben wurde eine Tür geöffnet, und eine ganz weißgekleidete Frau kam ihr entgegen. Es war Ruth. Sie hatte die Hausglocke gehört. Gestalt und Kopf wie Ruben, dachte sie, eilte hinauf und sank in die ausgebreiteten Arme Ruths.

Ohne ein Wort wurde sie in Rubens Zimmer geführt, während der Hausdiener Marcia in Manasses Zimmer brachte, wo auch ein silberner Leuchter angezündet stand. Der Diener deutete auf einen Sessel und auf eine kleine Mahlzeit, welche der Tisch darbot, ehe er sie allein ließ.

Unterdessen war der fortwandelnde Moses wie von einem Ruck getroffen stehen geblieben. Warum? Der Nasenstüber wirkte nachträglich. Moses wurde eifersüchtig, eifersüchtig auf Manasse. Ruben hatte zwar angeordnet, daß Manasse an diesem Abende sein Zimmer nicht betreten sollte, aber Moses dachte jetzt daran: Wie wenn der verliebte Manasse doch einmal seinem Bruder nicht gehorchte! Er weiß, daß die Marcia in seinem Zimmer steckt. Könnte er trotz des Verbotes nicht kommen, in sein Zimmer hinaufsteigen und dort die Marcia umarmen? Sie darf nicht fort, sie muß sich's gefallen lassen. Er könnte! Also hier bleiben und die Haustür bewachen.

Moses kannte alle verliebten Regungen, und er hatte recht: Manasse kam und war erst ärgerlich, dann zornig, als ihm Moses in den Weg trat.

»Was unterstehst du dich, Moses?«

»Ich unterstehe mich, die Anordnung des Herrn Ruben durchzusetzen.«

»Was tut's denn meinem Bruder, wenn ich in mein Zimmer geh'?«

»Es tut ihm Schaden. Seine Geliebte soll nicht wissen, daß sie sich in einem jüdischen Hause befindet; wenn Sie aber hinaufkommen, so wird das verraten.«

»Wieso denn?«

»Sie sehen ja geschworen aus wie ein Jude. Fragen Sie gelegentlich die Marcia, sie wird's Ihnen sagen. Nun kommen Sie da ohne Umstände in Ihr Zimmer und Marcia erfährt, daß Sie da zu Hause sind. Sie erfährt also, daß es ein jüdisches Haus ist. Das sagt sie der Kamilla, wenn sie mit ihr nach Hause geht, und so erfährt Kamilla, daß ihr Ruben ein Jude ist. Wollen Sie das Ihrem Bruder antun? Und was wird er dazu sagen?«

»Um was du dich alles kümmerst, weil du auch verliebt bist! Als ob's dir was nützen könnte bei der Marcia! Nichts wird dir's nützen!«

»Einerlei!«

»Und was soll die Marcia da oben allein so lange machen? Sie wird Dummheiten machen.«

»Essen und trinken wird sie und dann wird sie schlafen. Sie ist verschlafen.«

»Geh' zum Kuckuck!«

»Nein, nicht zum Kuckuck, ich bleibe hier. Sie könnten wiederkommen.«

Brummend ging Manasse von dannen. Moses aber setzte sich auf die Türschwelle, indem er sich sagte: »So siehst du beide noch einmal, wenn sie fortgehen.«

Es schlug neun Uhr. Da stand oben in Rubens Zimmer Kamilla auf, um heimzukehren. Sie war so vertraut geworden mit Ruth, daß sie ihr jetzt um den Hals fiel und sie herzlich küßte als ihre Mutter. Was war der Inhalt ihrer Unterhaltung gewesen? Nur Ruben und Kamilla. Ruth hatte alle Eigentümlichkeiten ihres Sohnes geschildert, natürlich besonders seine Vorzüge, und Kamilla hatte der Ruth die Geschichte ihres jungen Lebens erzählt, und darin war die Hauptsache gewesen, wie sie mit Ruben bekannt geworden, wie zu ihrer Überraschung eine Neigung entstanden, ein Gernhaben aufgewachsen, und wie der Schelm, der Ruben, ihr mit einem Male klargemacht habe, daß sie ihn liebe. »Ich selbst hätte es nicht entdeckt«, hatte sie geschlossen. »Ja« – hatte die glückliche Mutter hinzugesetzt – »er weiß alles, mein Ruben, und so hat er auch gewußt, daß er nie ein schöneres und liebenswürdigeres Mädchen in der Welt finden könnte, als seine Kamilla.«

Wenn zwei dieselbe Person lieben, so machen sie diese Person zu einer Gottheit und brauchen gar kein weiteres Thema zur Unterhaltung. Kamilla hatte denn auch nichts gefragt, und Ruth hatte auch nichts gesagt, was zu einer näheren Erklärung hätte führen können. Kamilla wußte, als sie Abschied nahm, nicht ein Wort mehr über Rubens häusliche und bürgerliche Verhältnisse, als sie vorher schon von Ruben selbst gewußt; sie hatte auch kein Bedürfnis gehabt, danach zu fragen.

Ruth zog den Klingelzug, und bald darauf öffnete der Hausdiener mit dem silbernen Leuchter die Tür. Vorher hatte er rasch die Tür gegenüber aufgemacht und hatte die wirklich schlafende Marcia geweckt. Jetzt stand sie, bereit zum Geleite, auf dem Vorsaale verschlafenen Aussehens. Moses hatte sie richtig beurteilt.

Auf der Treppe scherzte Kamilla über den alten Hausdiener, welcher, vorausgehend, immer wieder stehen blieb, um ein Kompliment zu machen, und rief der nachfolgenden Marcia zu, daran könnte sie sich ein Beispiel nehmen. Es nützt nichts, sagte sie zu Ruth in italienischer Sprache, sie hatte mit Ruth wie mit Ruben halb deutsch, halb italienisch gesprochen – es nützt nichts bei dieser Marcia, denn sie versteht kaum ein paar Worte deutsch und kaum ein Wort italienisch. Dabei lachte sie laut wie ein ausgelassenes Kind.

Dies Lachen hatte eine unerwartete Wirkung. Ein lautes Lachen war in Abrahams Hause seit langer Zeit unerhört; es brachte zuwege, daß der alte Herr seine Zimmertür öffnete, um zu sehen, was da vorginge, und daß er näher trat, als er seinen Andreas so feierlich vorleuchten und hinter ihm drei Frauen sah.

Ruth erschrak, sie faßte sich jedoch rasch, und als sie die letzten Stufen hinter sich hatte, sagte sie, zu Kamilla gewendet: »Mein Gatte.« Und dann sagte sie zu Abraham: »Signorina Teodori.«

Kamilla machte dem alten Herrn eine tiefe Verbeugung und zeigte ihm ein sehr freundliches Gesicht.

Vater Abraham sagte kein Wort, er hob nur seinen rechten Arm in die Höhe, und erst als hinter den beiden fremden Frauen die Haustür geschlossen war, faßte seine erhobene Hand den Arm Ruths und führte sie in sein Zimmer.

»Ruth« – sagte er da – »Ruth, auch du? Du bringst die Christin, die Schlange, welche uns im Innersten bedroht, in mein Haus? Du kuppelst das Unglück?! Eine Mutter lügt für ihr Kind.«

Sie sprach: »Kein Gedanke! Sie ist keine Schlange, sie ist das liebenswürdigste Geschöpf und nur freundschaftlich unserem Ruben zugetan, wie er ihr. Die Liebesgeschichte deines abscheulichen Veitl ist ja eine bloße Klatscherei. Die Signorina ist die Braut des Cavaliere di Nota, und sie hat mich gerade deshalb besucht, um dem Gerüchte zu widersprechen, welches auch zu ihr gedrungen ist, als ob ein näheres Verhältnis bestehe zwischen ihr und Ruben. Wir möchten das Gerücht unterdrücken helfen, denn es könnte ihren jähzornigen Bräutigam in Aufregung versetzen.«


 << zurück weiter >>