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Die Frage war: soll nicht Bellosi sofort hinausgehn in die Villa und das große Ereignis verkünden, so daß die Tante früher unterrichtet wird als das große Publikum, welches erst am nächsten Morgen durch die Zeitung benachrichtigt wird?
Nein, rief man, das hieße den Eindruck zersplittern. Wenn morgen vormittags ganz Triest in Bewegung gerät, wenn alle Welt davon spricht und zahlreiche Stimmen rufen: »O wie unrecht hat man dem armen Ruben getan!« dann bildet sich von selbst ein Sturm um Frau Molitore. Sie wird dann nicht nur gedrängt, sie wird gehoben, und im Schwunge ruft sie: »Ja doch, ja doch, es sei! reicht euch die Hände!«
Ganz mit Recht war Ruben nicht dieser Meinung. Aber er glaubte, die Anschauung der treuen Freunde achten und sich derselben fügen zu müssen. Er blieb daheim und machte sich ein Fest daraus, Moses die Kaufsumme einzuhändigen für Veitls Laden.
Das war wirklich ein Fest: Moses hatte sein Ideal erreicht. Er sprang in die Höhe vor Vergnügen, und bat Manasse gleich mitzugehn, damit die Übergabe des Ladens vor einem Zeugen geschehe. Das Wechselgeschäft Samuele war bereits so erweitert, daß einige Kommis eingestellt waren, und Manasse ohne Schwierigkeit abkommen konnte zur Begleitung. Unterwegs schickte er einen Jungen zu seiner Mutter: sie möchte sofort zu Ruben eilen.
Sie fanden Veitl in heftigem Zank begriffen; man sah nicht gleich, mit wem. Im hintersten Winkel kauerte eine weibliche Gestalt. Sie war in ein Tuch eingehüllt und schwieg. Es war Marcia, und aus Veitls Scheltreden ergab sich, daß sie sich geweigert hatte, in seiner Gesellschaft die Stadt zu verlassen.
Manasse, welcher sie ja immer mit verliebten Augen angesehen, trat zu ihr, während Moses die Kaufsumme an Veitl einhändigte, und den Kaufschein in Empfang nahm.
Manasse fragte sie mitleidig, ob er etwas für sie tun könnte?
»Ja«, sprach sie mit schwacher Stimme.
»Was denn?«
»Führen Sie mich zu Ihrem Bruder, dem Herrn Ruben.«
Veitl hörte das, und wollte sich widersetzen, wurde aber von Manasse und Moses beseitigt. Moses bemerkte trocken, daß Herr von Veitl in diesem Laden nichts mehr zu sagen, sondern daß er den Laden zu räumen habe. So wurde er denn buchstäblich hinausgeschoben.
»Du gehst mit!« rief er von der Straße herein.
»Ich gehe nicht mit« – erwiderte Marcia.
Er zuckte verächtlich die Achseln, und ging endlich von dannen.
»Was willst du denn von meinem Bruder?« fragte Manasse.
»Ich will ihn um Verzeihung bitten; mein Beichtvater hat mir's anbefohlen.«
»Weshalb? Was hast du ihm denn getan?«
»Gelogen hab' ich zu seinem Schaden, wie's der Veitl gewollt hat, bis mir Angst geworden ist, als ich erfahren habe, in welches Unglück Herrn Ruben unsere Lüge gestürzt. Das hat mir keine Ruhe mehr gelassen, und ich hab' es beichten müssen. Mein Herr Beichtvater ist darüber außer sich geraten, und hat es eine schwere Sünde genannt, welche nicht vergeben werden könnte. Ich müßte hingehn und eingestehn, daß der Veitl die Lüge ausgebracht. Auf einmal aber ist's heute herausgekommen ohne uns, und jetzt muß ich elend sterben, wenn mir Herr Ruben nicht seine Verzeihung schenkt. Mein Beichtvater spricht mich sonst nicht frei, und ich komme in die Hölle! Glauben Sie mir's und führen Sie mich zu Ihrem Bruder!«
Manasse sah fragend auf Moses. Jeder von ihnen war bisher verliebt gewesen in diese schöne Marcia, welche jetzt verstört und reizlos in ihrer Einhüllung zwischen ihnen stand – und keiner von beiden dachte noch an Verliebtheit. Der strenge Beichtvater und das schreiende Gewissen des Mädchens bewegten sie ganz und gar.
Nach langem Schweigen sagte Moses: »Tun Sie ihr den Willen. Ich muß hier bleiben, denn der Laden braucht seinen Herrn.«
»So kommen Sie!« sprach Manasse, und ging mit ihr zu Ruben.
Bei diesem war Mutter Ruth eingetroffen und hatte die beglückende Nachricht mit dem Ausrufe begrüßt: »Hinaus, Ruben, hinaus! Keine Minute zögern und Kamilla warten lassen!«
»Nein, nein!« hatten Farmer und Bellosi wiederholt, und es war dann Schritt für Schritt festgestellt worden, wie am nächsten Vormittage vorgegangen werden sollte. Farmer übernahm es, fünf Personen hinauszusenden, welche sämtlich Frau Molitore bestimmen sollten, sofort ihre Zustimmung zu geben, und Bellosi ebenso. Er legte besonderes Vertrauen auf den Hausarzt der Molitore, der sein Freund, und von größtem Einflusse auf Frau Molitore wäre. Ihre hysterische Kränklichkeit mache sie ganz abhängig vom Doktor Splenoli, und dieser – da wurde er unterbrochen. Zu allgemeinem Erstaunen trat Marcia ein mit Manasse, und Manasse berichtete, was die Anwesenheit Marcias zu bedeuten hätte. Sie wäre geständig, das falsche Gerücht gegen Ruben mit Veitl ausgebracht zu haben, und sie komme, die Verzeihung Rubens erbitten, denn sie könne nicht weiter leben, wenn ihr diese Verzeihung nicht gewährt würde.
Bei diesen Worten fiel Marcia vor Ruben auf die Knie, schluchzte laut und küßte ihm die Hände.
»Nun spielen schon die Dienstmädchen Komödie!« sagte Farmer, indem er mit Bellosi zur Seite trat.
»Irrtum, Irrtum!« – sagte halblaut Bellosi – »hier ist Leidenschaft vorhanden. Das Mädchen liebt den Ruben heftig, Neid und Eifersucht hat sie zur Feindschaft geführt. Schauen Sie nur näher hin! Das Mädchen hat Rasse, mehr als Ihre verflossene Carmen.«
Ruben wollte sie in die Höhe heben, aber sie widerstrebte, und ihr Weinen wurde immer heftiger.
»Schlimmes Mädchen« – rief Frau Ruth – »was hat dir denn mein Sohn getan, daß du ihn öffentlich verleumdet hast?«
»Getan?« – und dabei erhob Marcia das Haupt und blickte mit durchdringendem Ausdrucke auf Ruben.
Dieser Blick schien Ruth aufzuklären. Sie hob das Mädchen mit beiden Händen in die Höhe und sagte: »Was nun? Wer kann dich in Dienst nehmen?«
»Ich« – sprach Farmer, trat vor und setzte hinzu: »Geh hinauf, Marcia, in den ersten Stock, und warte auf mich. Ich werde dir mein Hauswesen anvertrauen unter der Bedingung, daß du jede Woche zur Beichte gehst.«
»Das nenn' ich Courage!« rief Bellosi.
»Ohne Courage kein Leben!« lachte Farmer.
»Komm, mein Kind« – sprach Frau Ruth – »ich werde dich begleiten, und du wirst mir geloben, ein braves Mädchen werden zu wollen. Steigen wir hinauf.«
Sie führte Marcia aus dem Zimmer, und Manasse folgte. Er fand es immerhin angenehm, daß dies schöne Mädchen im Hause verbliebe.
Zu alledem verhielt sich Ruben schweigsam. Ihm mißfiel die ganze Verzögerung. Er wünschte allein zu sein, und allenfalls mit der Mutter noch an diesem Abende etwas zu unternehmen, was Kamilla in Kenntnis setzen könnte. Er hörte also kaum zu, wie Farmer und Bellosi Bestimmungen trafen, welche Personen am nächsten Morgen hinausgeschickt werden sollten, und winkte der zurückkehrenden Mutter, sie möge ihn befreien.
Sie verstand ihn und sagte: »Das Mädchen will nicht bleiben.«
»Oh«, rief Farmer, und ging hinauf mit Bellosi.
»Ich habe Marcia in unser Haus geschickt« – sagte sie nun zu Ruben – »Manasse führt sie fort. Ich will sie behalten und nicht dem Herrn Farmer und dessen Courage überlassen. Und jetzt –«
»Jawohl, Mutter, und jetzt anders vorgehn. Es ist falsch, dies erkünstelte Abwarten; es widerstrebt mir. Ich möchte hinaus.«
Frau Ruth war nicht dagegen. Sie hatte noch dazu soeben aus Äußerungen der Marcia die Überzeugung gewonnen, daß Frau Molitore ihrem Ruben persönlich sehr gewogen wäre, daß also Ruben die sicherste Aussicht des Gelingens hätte, wenn er sich unmittelbar an Frau Molitore wendete. Als gute Mutter hielt sie ja auch ihren Sohn für unwiderstehlich, und ihre Beratung schloß damit, daß sich Ruben um Farmer und Bellosi nicht kümmern, sondern stracks hinauslaufen sollte in die Villa.
Der Abend war hereingebrochen, und es war ganz finster geworden im Zimmer, als Ruben aufsprang, und sich zum Fortgehn rüstete. Lärmendes Geräusch an den Fenstern hielt ihn auf. Es war ein Gußregen, der an die Scheiben schlug. Unter Donnerschlägen zitterte das Haus, ein schweres Gewitter wütete über Triest; es war nicht möglich, aus dem Hause zu gehen.
Die abergläubige Mutter unterließ nicht zu sagen: es soll nicht sein! und da das wilde Wetter lange dauerte, so verstrich auch die Zeit, welche einen plötzlichen Besuch Rubens allenfalls noch gestattet hätte.
Die Stunde rennt auch durch den bängsten Tag. Auch für Ruben verging die Nacht, nachdem er spät die Mutter heimgeführt und bis gegen Morgen vergeblich den Schlaf gesucht hatte. Hoffnungen, Pläne, Besorgnisse hielten den Geist fortwährend wach. Erst als der Tag schon graute, schlief er vor Erschöpfung ein, und schlief nun so fest, daß er geweckt werden mußte.
Dies tat Moses, nachdem er lange gewartet hatte. Er gönnte Ruben die Ruhe, aber er war neuer Ladenbesitzer, und er mußte dem ersten Tage entgegen seinen Laden rechtzeitig öffnen. Dafür kam Anstoß, ein Brief an Ruben wurde abgegeben, und Moses erkannte die Schrift der Adresse. Es war die Schrift Kamillens, und nun weckte er stürmisch den Langschläfer, eilte aber selbst unter Entschuldigung zur Eröffnung seines Ladens.
Der Brief aber lautete: »Eile herbei, lieber Ruben, eile ohne Verzug herbei, denn nur Du kannst die Tante gewinnen. Frühzeitig – es ist schon eine Stunde her – kam Johann mit der Zeitung und zeigte auf eine groß gedruckte Stelle. Die Tante las und schrie auf; ich las, und jubelte. Nein! rief sie, juble nicht, es kann nicht sein, ich kann den Juden nicht annehmen, und Rubens Vater würde sich auch im Grabe umkehren, wenn sich sein Sohn taufen ließe. – Ach – erwiderte ich – er braucht sich ja nicht taufen zu lassen. Herr Bellosi hat mir gesagt, es gibt jetzt Heiraten ohne Priester. Der Bürgermeister schließt die Ehe, und sie ist ganz gültig.
›Konfessionslos?‹ schrie die Tante! Ja, sagte ich, so heißt es, glaub ich. – Nimmermehr! – Kurz, die Tante ist so schlimm, daß ich nun auch schlimm werde und meine: wir sollen uns nicht länger unterdrücken lassen.
Nachschrift. Ich mache das Kuvert wieder auf, weil Bellosi gekommen ist, und mir auseinandergesetzt hat, was diesen Vormittag unternommen werden soll. Dadurch würde die Tante, wie er sich ausdrückt, mürbe gemacht werden, und du würdest, erst gegen Mittag kommend, sie leichter zur Einwilligung bewegen. Letzteres hoffe ich zwar auch, denn dich liebt sie. Aber warum so spät kommen?«
Während Ruben dies las, begann Bellosi draußen in der Villa schon die Belagerung. Er bat um ein leichtes Frühstück im Salon, wo er sich wie erschöpft niederließ. –
»Warum erschöpft?« fragte verdrießlich Frau Molitore.
»Es wird Ihnen bald ebenso ergehn. Ich bin erschöpft, weil mich ganz Triest angefaßt hat für Ruben Samuele. Jeder edle Mensch müsse für ihn wirken; der Himmel selbst habe ja gesprochen durch den Mund des sterbenden Priesters.«
»Ein Jude für einen Juden!«
»Verhärten Sie sich nicht, würdige Freundin! Sie sind ersichtlich zu was Großem berufen, zum Auslöschen brennender Vorurteile, zur Anerkennung der vortrefflichen Zivilehe. Nicht wahr, Signor Abbate?«
Er war wirklich so dreist, den bestürzten Abbate so zu fragen, und als dieser in der Geschwindigkeit »Ja, ja!« gesagt, setzte er hinzu: »die Konfessionslosigkeit ist wirklich für diesen bürgerlichen Zweck ein genialer Ausweg, und da helfen Sie gewiß mit, nicht wahr, Herr Abbate?«
Der Abbate war in all diesen Dingen so unschuldig, unwissend und konfus, daß er fragte, »ob man seine Empfehlung nach Rom wünschte, der heilige Vater werde gewiß –«
»Lassen Sie sich doch nicht zum Besten halten« – rief Frau Molitore – »von diesem Spötter Bellosi. Er unterschätzt unsern Verstand.«
In der Tat hatte sich Bellosi übernommen, und die Angelegenheit nicht gefördert, sondern verschlimmert. Die Dreistigkeit seiner Laune war schuld; er sah dies ein, und wurde nun ganz ernsthaft, als nach und nach die Besuche ankamen, welche er veranlaßt hatte.
So zahlreiche Besuche an einem Vormittage konnten Frau Molitore nicht im Zweifel lassen, daß eine Demonstration beabsichtigt wäre, und ein älterer Herr von sehr würdigem Aussehn sprach dies offen aus bei seinem Eintritt. Herr Wettermann wurde er genannt. Er war ein reicher Kaufherr und sagte: »Hören Sie auf uns, Frau Molitore! Jedermann kennt die poetische Liebe der jungen Katholikin Kamilla und des ausgezeichneten Juden Ruben, und jedermann hat heute morgen mit Genugtuung erfahren, daß ein schweres Hindernis beseitigt und es in die Hand der Hausfrau dieser Villa gegeben ist, eine große Versöhnung garstiger Vorurteile ins Werk zu setzen. Alle Augen sind auf das schöne junge Paar gerichtet, und ein so hervorragendes Beispiel versöhnten Glaubensbekenntnisses ist unschätzbar. Es erweckt die Nacheiferung, und gerade Frau Molitore ist ja besonders zu dieser Tat berufen.«
»Wie so denn?« fragte sie ärgerlich.
»Ihr verstorbener Gatte ist ja gleichzeitig mit mir in Triest eingewandert aus Deutschland. Wir waren beide evangelischen Glaubens und als solche in Anerkennung der Bibel den Juden näher als die Katholiken. Wenn Freund Müller später den Papst gebraucht hat, so ehrt doch gewiß die Witwe sein Andenken dadurch, daß sie liebevoll evangelischen Sinn bekundet in Glaubenssachen.«
Eine unangenehmere Erinnerung konnte der Frau Müller-Molitore kaum vorgehalten werden, und wenn jene frühere Zeit näher in Rede kam, so häuften sich die Unannehmlichkeiten. Sie meinte also rasch ein anderes Thema herbeischaffen zu müssen, und zwang sich zu der heiteren Äußerung: »So unerwartet zahlreicher Morgenbesuch kann wohl eine leibliche Erquickung fordern, wenigstens eine Tasse Tee. Kamilla, besorge uns das.«
Aber es rettete sie das nicht, denn just trat Farmer ein mit seinem Elan von vornehmen Kaufherrn, und seiner freimütigen Art gemäß, stellte er sich kurzweg als Bittsteller vor für die Vereinigung von Kamilla und Ruben.
Die ganze Besuchsgesellschaft applaudierte, und Frau Molitore hatte alle Geistesgegenwart nötig, um sich der Antwort zu entziehn.
Farmer ließ dies nicht zu, sondern bat – sehr respektvoll wie er sagte – um einige Gründe, wie auch nur um einen Grund der Weigerung von Seite einer so aufgeklärten Dame, wie Frau Molitore.
»Mein Gott« – rief Frau Molitore – »ich halte mich gar nicht verbunden, solch ein öffentliches Examen zu bestehen. Ein Grund aber ist ja doch offenbar: Uns Frauen gilt das Glaubensbekenntnis mehr als den Männern.«
»Auch Fräulein Kamillen?«
»Ja – Kamilla reiche dem Herrn Farmer eine Tasse Tee, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.«
»Mit allem Respekt, meine Gnädigste, wiederhole ich doch die Frage« – sprach Farmer – »ob Fräulein Kamilla ihr Glaubensbekenntnis so hoch hält, daß sie sich nicht für konfessionslos erklären möchte zum Behufe ihrer Vermählung.«
Kamilla hielt inne in der Teebereitung, blickte im Kreise umher und war sichtlich im Zweifel, ob sie nicht sprechen sollte.
Da nahm Herr Wettermann das Wort und sagte nachdenklich: »Fühlen Sie sich, liebes Fräulein, in Ihrem Gewissen verpflichtet, eine Trauung abzuweisen, welche von Ihnen fordert, daß Sie sich zu keiner Religionsgemeinschaft bekennen?«
Kamilla schwieg.
Herr Wettermann fuhr fort: »Beharren Sie streng auf Ihrem katholischen Bekenntnis?«
»Ich weiß nicht« – sagte sie langsam – »ob ich je zu einem Bekenntnis verpflichtet worden bin, ich weiß nur, daß man mich gelehrt hat, gottesfürchtig, fromm und gut zu sein. Das möchte ich bleiben; und wenn mich eine bloße bürgerliche Ehe daran nicht verhindert, so bin ich bereit, sie einzugehn.«
In die allgemeine zustimmende Bewegung rief nun aber Frau Molitore hinein: »Ich muß doch bitten, meinen Salon nicht in eine Gerichtsstube zu verwandeln, in welcher gegen mich Recht gesprochen werden soll. Kommen Sie mir zu Hilfe, lieber Doktor, und erklären Sie den Herrschaften, daß meine Gesundheit solchen Kraftproben eines Überfalls nicht gewachsen ist.«
Diese Worte galten dem eintretenden Doktor Splenoli, einem feingebildeten Manne mittleren Alters, von welchem Bellosi Farmer zuflüsterte: »Er stammt natürlich auch von Juden.« Bellosi nahm ihn übrigens sofort bei der Hand, und führte ihn zur Hausfrau. Dann aber, als er bis dicht zu ihr gekommen, ergriff er auch die Hand der Frau Molitore und leitete sie wie den folgenden Arzt in eine Fensterbrüstung, fein bemerkend: »Was der Arzt zu sagen hat, das braucht die Gesellschaft nicht zu hören.«
Glücklicherweise stand da ein Sessel, auf welchen Frau Molitore sinken konnte. Kaum verständlich flüsterte sie: »Retten Sie mich, Doktor, vor diesen zudringlichen Menschen, ich breche ohnmächtig zusammen.«
»Das wird kein Ende nehmen« – sagte der Doktor – »wo ich heute hingekommen bin, spricht man nur davon, daß Kamilla ja nicht Ihre Tochter wäre, und daß man sich des Mädchens annehmen sollte. Das ist wohl hier schon geschehen.«
»Ja, ja. Vertreiben Sie die Leute! Mein schwacher Körper braucht Ruhe.«
»Das würde nichts helfen, sie würden nicht gehen. Aber endigen muß es. Sie sterben bei Ihrer fortdauernden Weigerung.«
»Was sagen Sie?«
»Bleiben Sie sitzen, ruhen Sie aus, denn Sie haben nicht mehr viel zuzusetzen an Kräften. Die Zudringlichkeit dieser Menschen betreffend haben Sie ja ganz recht, aber im Beharren auf Ihrer Weigerung vernichten Sie sich selbst. Was erreichen Sie damit? Den Unfrieden im Hause, den Verlust des einzigen Geschöpfes, welches Ihnen nahe steht, des jungen Mädchens Kamilla. Sie erleben keine gedeihliche Stunde mehr, und so wird in jeder Stunde Ihre Krankheit steigen. Diese Krankheit ist hinzuhalten, lange hinzuhalten durch ruhige behagliche Stimmung.«
Frau Molitore ließ ihr Haupt auf die Brust sinken; sie schien sich zu ergeben.
Da trat Frau Ruth in den Salon, und der frivole Bellosi unterließ nicht, sie mit lauter Stimme anzumelden. »Frau Ruth Schmuel, die Mutter des Herrn Ruben Samuele.«
Das brachte die Frau Molitore zu völligem Rückfalle. »Nein, Doktor« – sagte sie – »die Judenfamilie in meinem Hause vertrag ich nicht.«
Sie erhob sich, und der Doktor mußte sie zurückhalten. Kamilla dagegen eilte freudig der Frau Ruth entgegen, und umarmte sie.
Frau Molitore zuckte darüber zusammen. »Nicht doch« – sagte der Doktor leise – »das ist ja eine wunderschöne Frau, von der besten Rasse. Sie kommt her zu Ihnen. Freundlich, edel, meine Freundin!«
Ruth trat hinzu, als wollte sie der Frau Molitore zu Füßen fallen. Diese Demütigung erregte aber einen allgemeinen Aufruhr, und Herr Wettermann rief mit starker Stimme: »Da wären wir denn so weit, daß wir Sklavendienst unter uns einführen!«
»O nein!« – sagte Frau Molitore, indem sie mit beiden Händen Frau Ruth in die Höhe hob, und als sie ihr nun nahe ins Antlitz blickte, rief sie aus: »Wunderbar! Ganz das Angesicht und der Ausdruck Rubens, welcher mich immer sympathisch –«
»Ruben!« rief Kamilla. Ruben war eingetreten. Alles wendete sich zu ihm, und Kamilla flog ihm entgegen. Er aber ging zur Frau Molitore, ergriff ihre beiden Hände, und sah ihr tief in die Augen. Dann küßte er ihr die Hände, und in die Augen der zitternden Frau traten Tränen. Alles war totenstill.
Endlich sprach Ruben: »Segnen Sie, gnädige Frau, meinen Bund mit Kamilla. Wir glauben, der Himmel selbst habe uns zusammengeführt. Hat er doch nun auch das Hindernis beseitigt, welches durch den falschen Bericht über den Tod meines Vaters entstanden war. Dies hat doch gewiß Ihr Herz gerührt, ein Herz, welches für Kamilla immer ein gütiges Mutterherz gewesen ist. Glauben Sie mir, glauben Sie uns: wir werden Ihnen liebende dankbare Kinder sein.«
Das Gesicht der bisher harten Frau schien verändert, schien erweicht zu sein, es flossen Tränen über ihre Wangen herab.
»Sie selbst liebt wirklich den Ruben!« flüsterte Bellosi dem Farmer zu, – und in der Tat, es ging Mächtiges vor in ihrem Innern, sie rang umsonst nach Worten. Es entstand eine lange Pause; man sah und hörte nur, daß sie mühsam atmete. Jedermann aber erwartete ein beglückendes Wort von ihr – da zerstörte der gedankenlose Abbate den Moment. Er hatte sein Violoncell ergriffen, und rief: »Da ist endlich Signor Samuele wieder, er wird uns mein Duo vortragen mit Signorina Kamilla, und die ganze Gesellschaft wird applaudieren.«
Wie wunderlich betroffen sagte niemand ein Wort, Kamilla aber reichte Ruben die Hand, und führte ihn zum Piano, neben welchem der Abbate schon saß, auf seinem Cello präludierend.
Sie sangen, und in den schönen Stimmen sang ihr ganzes Herz mit – es entstand eine tiefe Rührung. Noch im letzten Takte näherte sich ihnen langsam Frau Molitore. Alle machten Platz, und Herr Wettermann sagte leise zu der Vorübergehenden: »Unser edler Bürgermeister erwartet das Paar, um es ehelich zu verbinden.« Ruben und Kamilla gingen ihr entgegen, und ergriffen ihre Hände, welche sie ihnen entgegenstreckte. Sie aber sprach mit schwacher Stimme: »Ich hindere nicht mehr, möget ihr glücklich werden.«
Allgemeiner Jubel, allgemeine Umarmung folgte, und dabei sagte Bellosi mit gedämpfter Stimme zu Farmer: »Eine konfessionslose Ehe, und Gott sei Dank, wieder ein Jude weniger.«
»Was? Sie hassen doch die Juden?«
»Hassen?! Dies garstige Wort brauch ich nie. Aber es kann einem doch eine Menschengattung lieber sein als die andere.«
Er war also drei Wochen darauf ein fröhlicher Zeuge, als der Herr Bürgermeister das schöne konfessionslose Paar traute.
Frau Molitore war auch zugegen und fand, daß ihr Doktor Splenoli recht gehabt: sie atmete körperlich leicht und fühlte sich angetan zu einem noch recht langen Leben. Es war ihr ein Fest, in ihrer Villa dem jungen Paare ein reizendes Nest einzurichten, und sie wunderte sich nachträglich alle Tage darüber, daß sie so lange hätte verstockt sein können, Ruben, obwohl ursprünglich Jude, sei doch ein gar lieber Schatz.
Druck von Hesse & Becker in Leipzig.