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16.

Der Frühregen breitete sich aus, es wurde ein Regentag. Grau ringsum und naßkalt. Moses blieb an der Haustür der Villa betroffen stehen, als ihm die Regenschauer ins Gesicht flogen, und sein erster Gedanke war: Der arme Ruben! bei solchem Wetter läuft er außen umher – da erschien Marcia neben ihm und spannte einen großen Regenschirm auf. Sie ging in die Stadt zu ihrem Beichtvater, denn sie war fromm; da sie aber doch hören wollte, wie sich der schöne Herr Ruben nach dem gestrigen Spektakel befände, so lud sie Moses spöttisch ein, neben ihr herzugehen, und vom überragenden Schirmdache ein wenig zu profitieren. »Warum ist er so vornehm in seiner Liebhaberei, der Herr Ruben!« sagte sie wie vor sich hin.

Wie wäre so nahes Geleit dem verliebten Moses sonst willkommen gewesen! Jetzt achtet er nicht darauf, er sann nur auf Rat und Hilfe für Ruben und ging schweigend mehr neben dem Regenschirm als neben dem Mädchen einher, unbekümmert darum, daß er naß wurde. Sie schwatzte lachend über die große Entdeckung von gestern abend, daß der schöne Signor Samuele nun doch ein Jude wäre, und wie sich Signorina Kamilla jetzt schämte, ihn angenommen zu haben als Liebhaber. Die Vornehmen wären so heikel. Wenn man ausschaute wie Herr Ruben, da sei's doch einerlei.

Es wurde Moses zu arg, und er trat in eine Wasserpfütze, daß sie über und über bespritzt wurde. Sie schrie und schimpfte, und er bog ab in eine Nebengasse.

Was sollte er tun? Die Nebengasse führte nicht ins Freie dem Meere zu, so daß er Ruben suchen konnte, wie er einen Augenblick gewollt. Er kehrte also um, sah die Marcia noch, folgte ihr nach, und bemerkte endlich, obwohl er ganz andere Gedanken hatte, daß sie beim Veitl eintrat. »Schlange!« sagte er sich, »jetzt erzählt sie dem alten Neidhammel unter Gelächter unsere Schmach, und der Skandal kommt unter die Leute, kommt auch zum alten Abraham. – Der Ruben hat Unglück.«

Das war nicht zu ändern, und ihm blieb nichts übrig, als in Rubens Wohnung zu gehen und zu fragen und abzuwarten.

Richtig, wie er gefürchtet. Ruben war nicht zurückgekehrt, und Manasse kam ihm entgegen mit der Frage: »Wo ist Ruben?« Er mußte erzählen; Manasse schrie auf – da kam der Telegraphenbote und brachte Telegramme, eins für Ruben, zwei für Farmer, die er hinauftrug. Manasse riß das für Ruben auf. Es war eine Warnung in betreff eines Geldpostens, welcher unsicher geworden sei, und als er noch betroffen vor sich hinstarrte, hörte er Farmers heftige Stimme, welche eben seiner Dame zurief, sie solle ihn ungeschoren lassen. Sofort polterte Farmer die Treppe herunter, seine geöffneten Depeschen in der Hand haltend. »Ruben?« – »Nicht zu Hause.« – »Er soll mich erwarten, wenn er kommt.« – Er selbst aber eilte hinaus.

»Ein Unglück kommt nie allein«, flüsterte Moses. Ein Unglück nahte: es waren üble Börsennotizen eingetroffen.

Es verging eine Stunde peinlichen Wartens für Manasse und Moses; es ereignete sich nichts. Farmer kam nicht zurück, Ruben kam nicht heim. Umsonst lief Moses bald in diese, bald in jene Straße, um den heimkehrenden Ruben zu entdecken, und soeben war er wieder trostlos ins Kontor zu Manasse gekommen, da trat Vater Abraham ein. Der alte Mann war sichtlich aufgeregt, schwieg aber eine Weile und sagte endlich: »Manasse, wo ist Ruben?«

»Wir erwarten ihn, Vater.«

»Vor der Synagoge hat der Veitl neben mir gesagt, der schöne Ruben hat eine Liebschaft angezettelt mit einer Christin, indem er sich für einen Christen ausgegeben. Gestern abend ist es aber an den Tag gekommen, daß er ein Hebräer ist, und man hat ihn schimpflich aus dem Hause gejagt. Ist das wahr, Manasse?«

Ehe Manasse antworten konnte, trat Farmer ein. Er hatte die Frage gehört und sagte harten Tones zu Abraham: »Alter Herr, jedes Ding hat seine Zeit. Sie sind ein Geschäftsmann oder waren doch einer, sie müssen wissen, was Geschäft heißt. Es handelt sich augenblicklich nicht um Liebschaften. Verworrene Nachrichten sind eingetroffen in unserem Geschäfte, lassen Sie also alle Nebensachen Rubens ruhen, wir haben zu rechnen. Dort kommt er übrigens, der Ruben. Überlassen Sie ihn mir jetzt, wir haben dringend zu tun.«

Wirklich trat Ruben unter einem Freudenschrei des Moses ins Zimmer, naß von oben bis unten, bleich und verstört.

Farmer hielt ihm ein Telegramm vor die Augen. Ruben las und nickte mit dem Kopfe.

»Ich will dich doch sprechen, Ruben«, sagte der alte Abraham.

»Nach erledigter Arbeit, Vater. Vielleicht komme ich abends. Überlassen Sie uns jetzt unserer Aufgabe.«

Abraham wendete sich zum Fortgehen; nahe der Tür begegnete ihm der eintretende Bellosi.

»Ach, der unnütze Kram noch!« rief Farmer, und setzte mit erzwungenem Lachen hinzu: »Aber das kommt gelegen und paßt zur Stimmung.«

Bellosi zuckte leicht die Achseln und sagte: »Mir ist's recht, wenn Sie nichts wissen wollen.«

»Na, was also?«

»Der Einfachheit wegen hab ich's aufschreiben lassen. Hier ist es.« – Und damit überreichte er ein beschriebenes Blatt.

Farmer las es und lachte wieder. Dann reichte er es Ruben. Dieser las es ebenfalls und nickte wiederum mit dem Kopfe. Vater Abraham ging von dannen.

Auf dem Blatte stand: »Um zwei Uhr fünfzig Minuten trifft der Zug in Udine ein. Vom Bahnhofe dort steh' ich zu Diensten. Nota.«

Farmer rief nach dem ersten Stocke hinauf den Namen seines Dieners, und sagte dann: »Unter vierundzwanzig Stunden können die Nachrichten von Wien und Frankfurt nicht da sein, und während dieser vierundzwanzig Stunden, die Spannung wegzutäuschen, können wir diese Pastete beseitigen. Rasch, Johann! Ist die Ladung bei den Pistolen im Kasten?«

»Zu Befehl, gnädiger Herr.«

»So bringe den Kasten herunter, und gib ihn unserem tapfern Moses.«

»Ich?«

»Ja. Nur Manasse muß hier bleiben wegen des Kontors. Kleiden Sie sich um, Ruben. Wir frühstücken noch Bellosis wegen, Bellosi leistet uns Zeugenschaft.«

»Bei dem Wetter?!«

»Sie müssen. Dafür vorher das Frühstück. Nota wird bei seinen Landsleuten in Udine seine Zeugen finden, sonst hätte er gar nicht angenommen. Abgemacht?«

»In einer Bahnhofsrestauration soll gefrühstückt werden?« fragte geringschätzigen Tones Bellosi.

»Mein Johann nimmt frische Austern mit und spanischen Wein gegen feuchte Luft. Abgemacht?«

Es wurde nicht widersprochen, und nach einer Viertelstunde fuhr man in zwei Wagen nach dem Bahnhofe, Moses mit dem Pistolenkasten auf den Knien. Er hielt ihn krampfhaft fest, damit nicht etwa von der Erschütterung da drin was losgehen könnte. Sein Gemüt war in vollständiger Unordnung, nur der Anblick des gleichmäßig ruhigen Rubens hielt ihn aufrecht.

Unter strömendem Regen fuhr Farmer, Ruben, Bellosi mit dem Anhängsel Moses nach dem Bahnhofe.

Eine unheimliche Gesellschaft. Farmer spielte ein falsches Spiel gegen sich selbst, er wollte sich übertäuben. Die Börsennachrichten waren sehr übel und erfüllten ihn mit Grimm. Sie betrafen die Spekulation, zu welcher er Ruben aufgefordert, und für welche Ruben seine Teilnahme abgelehnt hatte, und betrafen das Fiasko der Eisenbahngründung. Da drohte nicht nur Geldverlust im Großen, sondern auch eine Niederlage seines Börsenverstandes neben dem bescheidenen Ruben – oh, oh, polterte es in ihm, welch ein albernes Treiben in dieser Welt! Schießen wir einander tot, um uns die Grillen zu vertreiben! Ob dies nun mit einem Cavaliere Nota zusammenhing, oder mit sonstwem, war ihm absolut gleichgültig. Das Frühstück war rasch abgemacht.

Jeder der vier setzte sich in eine Ecke des Waggons, und nur Moses kam nicht zur Ruhe; er wollte den Pistolenkasten neben sich stellen, da rutschte er aber, wie Moses meinte, gefährlich, und unten auf dem Fußboden wurde er doch bedenklich erschüttert. Daneben mußte er für Ruben sorgen, der sein Fenster nicht in die Höhe zog und vom einströmenden Regen betroffen wurde. Nur Bellosi war ganz unbefangen, er naschte aus einer Tüte Bonbons und lächelte fast. Es wurde ganz still in dem Coupé, und niemand verlangte etwas zu sehen von der schwarz verhangenen Gegend draußen, auch nichts vom malerischen Miramar, an welchem man vorüberrasselte.

Ruben schaute ohne Blick in die Dunkelheit hinaus; man konnte zweifeln, ob er noch lebte.

Er lebte, aber wie ein Mensch, welcher weiter lebt, weil er immer noch vorhanden ist, nachdem ihm der Wert des Lebens in Verzweiflung gesunken.

Von Hause fort am frühen Morgen war er umhergeirrt, eigentlich ohne zu denken. Umsonst! Umsonst! lautete das Wort, welches ihn beherrschte. Das Geschöpf, Mensch geheißen, nein, das Geschöpf, Ruben geheißen, hat gar keinen Anspruch zu machen, es wird bewegt, es wird geschleudert, wie es die Winde bewegen und schleudern wollen. Ob es liebt, ob es haßt, das ist so gleichgültig.

Vom Regenwasser überströmt hatte er sich eine Zeitlang unter einen überhängenden Felsen gesetzt am Meere, und starr den heranschlagenden Wellen zugesehen, um sich zu sammeln. Umsonst! Es blieb dabei, daß es in ihm sprach: Weil du als Jude geboren, gehörst du ins Wilde hinaus; du gehörst nicht in die Welt da drin in der Stadt! Gib dich auf, du hast nichts zu fordern, du hast nur zu dulden.

Auch der Zorn war aus ihm verschwunden. Machtlos, machtlos hatte er sich endlich mechanisch erhoben und war in seine Wohnung zurückgekehrt. So saß er jetzt noch da ohne Absicht, ohne Zweck.

Als der Zug in Udine still hielt und die stumme Gesellschaft ausstieg, fragte Farmer den Bellosi: »Wie heißt der Gasthof, in welchem wir uns treffen sollen?«

»Wenn ich mich recht erinnere so –«

»Wenn Sie sich recht erinnern, Herr?«

»Ja, mein Wertester, ich schlug den vor, dessen gute Küche ich kenne, der Cavaliere wollte aber einen andern.«

»So bleiben Sie also zurück, und sprechen Sie hier im Bahnhofe mit dem Cavaliere. Wir gehen in den ersten Gasthof, der am Wege liegt.«

»Oh!«

»Und Sie bringen uns dorthin Bescheid, ob er seinen Zeugen gefunden, und wo die Affäre ausgetragen werden kann.«

Bellosi blieb zurück, und die übrigen nahmen einen Wagen bis zum nächsten Gasthofe; es regnete ununterbrochen.

»Das Wetter!« stöhnte Farmer. »Zu einem Pistolenduell muß man ja doch ins Freie hinaus, und dabei noch naß werden.«

Ärgerlich bestellte er, als man beim Gasthofe ankam, zwei Zimmer und ein Mittagessen. Im ersten Zimmer mußte Moses zurückbleiben, er ging mit Ruben ins zweite, um mit diesem die Reihenfolge beim Duell festzustellen.

»Lassen wir es also dabei, Freund,« sagte er, »daß ich mich zuerst mit ihm schieße, damit ihm jeder Einwand gegen Ihr Judentum benommen wird. Sie sind einverstanden?«

Nach kurzer Pause – er sammelte seine Gedanken für die Gegenwart – antwortete Ruben langsam sprechend: »Nein, ich bin nicht damit einverstanden, daß Sie einer Gefahr ausgesetzt werden um meinetwillen. Ich bin ja die Ursache. In meiner Lage ist nichts mehr zu ändern, es ist Nebensache, daß ich mein Glück verloren. Es handelt sich nur darum, daß ich als Jude das Recht des Zweikampfes haben soll, weil ich beleidigt worden bin. Nun denn, bin ich noch bekümmert um dieses Recht? Nein. Mein Zorn gegen diesen Nota ist untergegangen in der größeren Not, welche über mich hereingebrochen ist. Er oder ein anderer, das ist ja einerlei, sie denken ja alle so, und verwerfen mich als Juden.

Wenn ich auf ihn schieße und ihn treffe, so morde ich. Ich morde, denn ich sollte nicht ihn treffen, sondern alle Christen, die mich verachten. Kann ich das? Nein. Will ich das? Nein. Jedenfalls wäre es ein Frevel, Sie, Freund, dafür auszusetzen. Was bleibt übrig? Die Frage nach meiner Courage, das heißt, ob ich mich hinstellen will für die Kugel. Nun, diese Frage ist kindisch. Ich bin überspannt, ich bilde mir ein, es sei für mich nichts mehr zu hoffen, es sei also ein Abschied aus feindlicher Welt willkommen. Also –

Sie hören, wie verworren ich denke, folgere und schließe, Sie hören und sehen, daß ich nichts mehr tauge. Fragen Sie denn diesen Nota einfach und nachdrücklich, ob er sich mir gegenüber stellen und auf mich schießen will, ich stelle mich. Möge er gut treffen. Will er nicht, so lassen Sie ihn laufen, lassen Sie mich laufen. Die Einzelnen können nicht retten, wenn die ganze Gesellschaft ihr Verdikt gesprochen.«

»Sie sind demoralisiert.«

»Ja, bis zur Vernichtung. Ich bin ein Nichts, – was gibt's Schlimmeres?«

»Nun, ich bin anders. Auch mir geht's übel. Die Nachrichten des letzten Telegrammes sind gefährlicher, als es auf den ersten Blick scheint, mein ganzer Besitz ist bedroht. Das ergrimmt mich, und mir ist's erwünscht, in die Welt hinein zu schießen. Ich denke an meine jüdische Mutter, und es ist mir ein Vergnügen, diesen frechen Christen auf den Rücken zu werfen, eine Rache für die Judenschaft – da kommt Bellosi. Vorwärts, vorwärts, Bellosi! Wie steht's? Wo bleibt der Herr? Wir warten.«

Bellosi ließ sich nicht beeilen. Er hatte den Gastwirt an seiner Seite, und besprach das Essen, welches aufgetragen werden sollte. Leichthin antwortete er: »Sogleich Signore, sogleich.«

»Potztausend, Bellosi, wie lange soll's noch dauern?«

»Gar nicht lange, die Sache ist fertig. Ihrem Auftrage gemäß, hab' ich den Cavaliere di Nota angeredet, als der Zug hielt. Bezeichnenderweise blieb er im Waggon sitzen und streckte die Hand aus wie nach dem Himmel, welcher allerdings dunkel ist. Ich gab das zu, sagte aber doch: Die Herren sind da, sie warten. Darauf erwiderte er: ›Bei solchem abscheulichen Regenwetter geht ein gebildeter Mensch nicht ins Freie hinaus, um Pistolen abzuschießen.‹«

»Bellosi!«

»Darauf sage ich: ›Signore Cavaliere, und Ihre Zusage von heute morgens?‹ ›Oh,‹ antwortete er, ›die bleibt bestehen, nur Ort und Zeit sind zu wechseln. In Ancona, wenn's nicht mehr regnet, bin ich bereit von morgen an.‹ Ich protestierte, aber die Bahnglocke läutete, er lachte, und der Zug ging fort mit ihm.«

Allgemeine Stille folgte. Farmer hob den Arm, als wollte er Bellosi fassen, und dieser trat einen Schritt zur Seite, lächelnd trotz alledem. Da ließ Farmer den Arm wieder sinken, der Übergang der Gedanken in ihm vollzog sich blitzschnell, und er brach in ein Gelächter aus. Sich zu Ruben wendend, welcher ganz gleichgültig blieb, sagte er: »Wer hat uns so zu Narren gemacht? Dieser Bellosi, welcher sich vor dem Duell gefürchtet. Er hat das ganze Abenteuer eingefädelt. Gestehen Sie, Bellosi! sonst fordere ich Sie

»Ist das der Dank, daß ich all' meine Bequemlichkeit geopfert und in dem Wetter mit hieher gefahren bin? Was kümmert mich denn die ganze Wirtschaft? Der Cavaliere ist auf gute Manier ausgerissen, das kommt ja euch allen zugute. Basta. Der Gastwirt verspricht eine gute Mahlzeit. Stärken wir uns, auf daß wir heiter mit dem Abendzuge nach Triest heimkehren vom leer gebliebenen Schlachtfelde.«


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