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Dieses Begegnen Notas hatte Ruben abgehalten, nach Ancona hineinzugehen, die Wohnung des Obersten Teodori zu erfragen und wenigstens von außen umzuschauen, wo seine Kamilla weilte. Er war mit dem nächsten Zuge nach Triest zurückgekehrt.
Er war ruhig und heiter. Sein Liebesglück schien ihm gewonnen, und er harrte auf ein Telegramm Kamillas. Deshalb war sein erster Gang aufs Telegraphen- und Postamt, um seine Adresse abzugeben für Telegramme und Briefe.
Den folgenden Tag erst ging er zu den Eltern hinunter. Sie blickten fragend auf ihn, der Vater mit strenger Miene, aber ohne ein Wort der Frage, die Mutter innig. Er antwortete der Mutter heimlich, sie möge getrost sein, er sei glücklich, die Zukunft sei Gottes. Da stieß ihn Manasse an und sprach leise: »Der Vater? Was sagst du dem Vater? Du bist gestern nach deiner Rückkunft doch abends nicht zum Talmudlesen gekommen, und er will auch wissen, was denn das für ein Geschäft sei, welches dich zum Reisen nötigte.«
Ruben zögerte mit der Antwort; feierlich, langsam sprechend, sagte er: »Du hast recht; ich muß wegen der Zukunft den Streit aufnehmen, ich muß über den Talmud mit dem Vater sprechen.«
So kam er denn am Abende zur Talmudstunde ins Wohnzimmer. Vater Abraham und Manasse saßen schon vor ihren Büchern, und Ruben trat zum Tische. Er setzte sich nicht, und als der Vater auf ihn blickte, sprach er mit milder Stimme: »Lieber Vater, ich habe dir anzuzeigen, daß ich zunächst nicht mehr teilnehmen werde an unseren Talmudstunden.«
Vater Abraham richtete sich kerzengerade auf und fragte: »Warum nicht?«
»Die heutige Bildung«, antwortete Ruben, »hat mich in Zweifel gestürzt, ob diese dialektische Form eines Religionsbuches, welches doch kein eigentliches Religionsbuch ist, meinen Geist nicht verwirrt und irreführt. Lass' mir Zeit, diesen Zweifel durch stilles Nachdenken zu beseitigen.«
»Reformjude!?« ächzte Vater Abraham.
»Nein. Oder richtiger: ich weiß noch keine Bezeichnung. Sobald ich im klaren bin, werd' ich zu dir treten und dir mein Herz ausschütten.«
Nach diesen Worten verließ er langsamen Schrittes das Zimmer. Vater Abraham sank aus seinen Sessel zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Die Mutter, hinten im Zimmer, war aufgestanden und blickte kummervoll dem Sohne nach. Manasse stand aufrecht da und sah traurig und fragend auf den Vater. Dieser nahm endlich die Hände vom Gesichte, winkte Manasse, fortzugehen und schaute nach der Zimmerdecke, mit den Lippen ein unverständlich Gebet murmelnd.
Ruben war langsamen Ganges bis an die Tür gekommen. Da blieb er stehen, sah zurück und schien unschlüssig zu werden. Die Mutter aber machte eine kaum bemerkbare Bewegung mit der Hand, er möchte gehen. – Er ging.
Sah die Mutter voraus, was kommen mußte und wollte sie die Einleitung fördern? War sie keine gewissenhafte Jüdin? – Jedenfalls war sie eine liebende Mutter, welche ihren Ruben glücklich sehen wollte.
Vor dem Hause blieb Ruben betroffen stehen. Betroffen über das, was er getan. Den Vater so hart berührt zu haben, tat ihm bitterlich leid. Aber kann ich anders – sagte er leise vor sich hin – kann ich denn anders? Es geht um meine Wahrheit, es geht um mein ganzes Leben.
Wankend schritt er von dannen, dem Hafen zu. Er suchte wohl die freie Luft des Meeres.
Es war ein milder Abend, der Mond stieg eben am westlichen Himmel aus dem Meere empor und brachte einen kräftigen Lufthauch mit sich. Zahlreiche Menschen wandelten am Kai umher. Sie erschienen Ruben in dem bleichen Lichte wie Geister. Er blickte niemandem ins Angesicht, er blickte nur in sein Inneres und war erschrocken, als ein Mann dicht vor ihm stehen blieb und ihn am Weitergehen verhinderte.
»Sie sehen und hören ja nicht, junger Freund? Wo haben Sie denn Augen und Ohren?« sagte der Mann.
Ruben antwortete nicht, aber er streckte dem Manne seine Hand entgegen, wie einem Menschen, welchen man gern hat.
Dieser Mann, mittelgroß und von kräftiger Gestalt, mochte kaum vierzig Jahre alt sein und hieß Farmer. Sein Gesicht hatte etwas Verwischtes mit feiner Nase, appetitlichem Munde und kleinen, scharfblickenden Augen. Etwas Verwischtes vielleicht darum, weil er glatt rasiert war. Die Stimme klang angenehm.
Ruben kannte ihn seit einem Jahre und hatte immer seinen Umgang gesucht. Er hielt ihn für den gescheitesten Mann in Triest, wo er einmal plötzlich aufgetreten war. Man wußte nicht, woher er kam, woher er stammte. Er war an der Börse erschienen und hatte ein niedrig stehendes Papier gekauft. Dieses Papier war in den nächsten Tagen gestiegen und gestiegen, der Fremde hatte einen großen Gewinn damit gemacht. Dann war er verschwunden; der eine sagte, er sei nach Wien, der andere sagte, er sei nach Paris gereist. Aber er war wiedergekommen und hatte wieder in unerwarteter Weise gekauft und wiederum zu großem Gewinne. So war er bald ein reicher Mann und eine höchlich respektierte Person an der Börse geworden. Daneben meinte man ihn zu erkennen in auffallenden Zeitungsartikeln, welche Handels- und Geldinteressen in ungewöhnlicher Weise besprachen. Mehrere Male, wenn kritische Fragen an der Börse herrschten, waren auch Broschüren erschienen, welche die kritischen Fragen in überraschender Richtung behandelten und welche man ebenfalls diesem Herrn Farmer zuschrieb. Jedermann hatte seine Bekanntschaft gesucht, er war aber fast überall aalglatt ausgewichen; nur mit jungen Leuten sprach er mitunter eingehend, und unter diesen jungen Leuten hatte er stets Rüben ausgezeichnet, welcher ihm besonders zu gefallen schien.
Ruben war immer nur an die Börse gekommen, um die Kurse zu notieren für des Vaters Geschäft und hatte nie gekauft oder verkauft. Farmer hatte ihn lachend gefragt, warum er das nicht täte, und Ruben hatte geantwortet, daß er das nicht genügend verstände. »Wollen Sie's lernen?« hatte Farmer gesagt. »O ja!« hatte Ruben erwidert, und dann war Farmer auf eine Auseinandersetzung eingegangen, welche hohe Politik und ganz gewöhnliche Kaufmannsfragen fast humoristisch vermischte. Ruben hatte gelacht, und das Gespräch war auf andere Dinge übergegangen, meist auf Fragen moderner Bildung, sehr anregend für Ruben. So hatte sich zwischen ihnen ein intimer Verkehr entwickelt.
»Ganz ernstlich« – sagte jetzt Farmer, indem er Ruben unter den Arm nahm und weiter mit ihm schritt – »ganz ernstlich: es muß etwas Besonderes mit Ihnen vorgehen. Sie haben ein neues Gesicht und sind in den letzten Tagen ein paarmal an mir vorübergegangen, ohne mich zu sehen. Sie schauten ersichtlich nur in Ihr Inneres. Sind Sie etwa verliebt?«
»Ich glaube nicht, daß man es so nennen kann.«
»Aha! Das sogenannte Höhere! Glückliche Jugend, welche sich die gemeinsten Dinge verklärt. Ich könnte Sie beneiden. Und Erwiderung finden Sie naturgemäß. Sie sind ein schöner Kerl und haben ein liebenswürdiges Wesen. Es ist also im guten Gange? Wie?«
»Gestatten Sie mir statt der Antwort eine Frage: Halten Sie es für möglich, daß ich mich mit einem kleinen Kapitale selbständig etablieren und eine selbständige Existenz finden kann?«
»Aha! Das Nest soll vorbereitet werden. O ja. Aber, Freund Ruben, das duftet nach Heirat und Hausstand. Sind Sie des Teufels, in so jungen Jahren? Auch wenn die Braut und Frau steinreich wäre. Sich ins Gefängnis setzen fürs ganze Leben! Das taugt nichts. Wenn man heiraten zu müssen glaubt, dann wenigstens nicht eher, als bis man in die vierziger Jahre geraten ist. Dann paßt zur Not ein junges Mädchen. Sie verblüht erst, wenn man selbst zu Ende geht mit Liebeswünschen. Abschütteln diese Gedanken, Freund Ruben, abschütteln!«
»Der Gedanke hätte ohnedies einen langen Weg vor sich: ich bin ein Jude.«
»Und die Herzensdame ist keine Jüdin. Na, der Weg wäre nicht lang und nicht schwierig. Sie würde Jüdin oder Sie würden Christ. Meines Wissens sind Sie ja jetzt schon, was man konfessionslos nennt, das heißt: Ihr Sinn ist keinem konfessionellen Glauben zugetan. Nicht wahr?«
»Ja.«
»Also! Sie können demnach die Konfession annehmen, wie es paßt für die Herzallerliebste, denn darauf scheint es anzukommen.«
»Kennen Sie meinen Vater?«
»Den alten Abraham Schmuel? Freilich. Da liegt's wohl. Allerdings gilt er für einen orthodoxen Juden.«
»Das ist er auch, und zwar mit Leib und Seele.«
»Und Sie sind ein guter Sohn, der ihm nicht den Schmerz antun möchte?«
»Er könnte ihn ins Grab stürzen.«
»Und deshalb müssen Sie Jude bleiben, solange er lebt? Um so besser! Das schützt Sie vor dem dummen Streiche einer Heirat. Um so besser! Bleiben Sie Jude.«
»Und tragen Sie die Geringschätzung der Welt weiter und lassen sich von der Gesellschaft ausschließen, welcher Sie übrigens ganz angehören!«
»Man gewöhnt's, und man verliert nicht viel dabei.«
»Ich genieße mein Leben vollständig, obwohl man auch mir nachfragt, daß ich ein Jude sei. Man sagt es jedem nach, der Geschäfte macht.«
»Aber Sie sind kein Jude?«
»Wie Sie's nehmen wollen; getauft bin ich. Aber meine Mutter war eine Jüdin. Ich hab's erst erfahren, als sie gestorben war. In Schweden gibt's wenig Juden, und meine Mutter zog mich auf in Stockholm wie ein Judenkind. Ich war noch nicht zehn Jahre alt, da verlor ich sie, und mein Vater, ein tapferer Schiffskapitän, brachte mich nach Kopenhagen in die Schulen, welche dort gut sind. Als ich sechzehn Jahre alt war, holte er mich ab und brachte mich nach London in ein Bankierhaus, damit ich rechnen lernte, und als er Abschied von mir nahm, gab er mir einen Pack Papiere, die versiegelt waren. »Die öffnest du erst,« sagte er, »wenn du mich nach einem Jahre nicht wiedersiehst; ich gehe auf eine lange Fahrt.« Er kam nicht wieder, und in den Papieren fand ich unter anderm meinen Taufschein und ein kurzes Schreiben meiner Mutter, in welchem stand, daß sie eine Jüdin gewesen, und daß es ihr lieb wäre, wenn ich zum Glauben ihrer Väter überträte, zum Judentum.«
»Und Sie haben den Wunsch Ihrer Mutter erfüllt?«
»Daß ich ein Narr wäre! Ich bin ohne Sentimentalität, und das ist mir bisher gut bekommen. Es ist nachteilig, Jude zu sein, ich geb' es zu, weil die europäischen Leute ein Vorurteil haben gegen Juden. Schachergeist und Hochmut stecken auch wirklich tief in den Kindern Israels, und ich fürchte, eins davon, den Hochmut nämlich, hat auch mir meine Mutter vererbt. Daran kann ich wohl einmal zugrunde gehen. Na kurzum: Geld oder Geldeswert war nicht in den Papieren, ich mußte mir selber helfen. Das habe ich denn auch zustande gebracht, indem ich das Herz in Ruhe ließ und nur den Verstand in Bewegung setzte. Übrigens macht es mir manchmal Spaß, wenn mich in vertraulichen Augenblicken die Juden als ihren Glaubensgenossen begrüßen. Ich lächle klug und geheimnisvoll, und so sind sie im Geschäfte alle für mich eingenommen.«
»Das mag weltklug sein, lieber Herr Farmer, aber meinem Wesen entspricht es nicht, und für meinen Lebensgang hat es keine Bedeutung.«
»Doch, Freund. Es bedeutet: gleichgültige Dinge gleichgültig behandeln. Lassen wir die Frage fallen. Sie sind eben noch sentimental. Das wird sich mit der Zeit verlieren. Sprechen wir also von Ihrem Etablissement. Das wird nötig sein für Ihren Charakter, und es ist auch nicht schwer. Magere Einkünfte wird es freilich bringen, und es fragt sich deshalb gleich, oder vielmehr ich frage: Haben Sie Vertrauen zu meiner Kenntnis der Geschäfte?«
»Ein vollständiges.«
»Gut. Dann frage ich weiter: Wollen Sie unter meiner Führung Ihr Glück an der Börse versuchen, um schnell reich zu werden?«
»Auf der Stelle.«
»Wohl gesprochen. Sehen Sie das artige Haus an da vor uns« – sie waren im Gespräche vom Hafen zurück in die Stadt gekommen. – »Daß wir gerade hieher gekommen sind, ist ein gutes Zeichen für unsere Zukunft nebeneinander. Ich bin nämlich abergläubisch. Ob zu meiner Unterhaltung oder weil man doch irgend was glauben will, ich weiß es nicht. Kurz, ich bin's, und gerade heute nachmittags habe ich mir dies Haus im Innern besehen, weil ein Zettel an der Tür klebt, der es zum Verkaufe ausbietet. Mein Verstand sagt: Farmer, du mußt irgendwo einen festen Besitz haben, ein immeuble heißt's bei den Franzosen, der dir bleibt, wenn die Börse eines Tages Dummheiten macht und du all dein Geld verlierst. Darum fiel mir heute ein, dies Haus zu kaufen. Jetzt stehen wir unvermutet bei hellem Mondscheine vor demselben, indem wir Zukunft eskomptieren, Sie und ich – da springt mein Aberglaube in die Höhe und ruft: Dies Haus und dieser schüchterne Jude Ruben Schmuel bringen dir Glück, kaufe das Haus, zieh' in den ersten Stock und errichte zu ebener Erde dem Ruben eine Wechselstube! Sie ist gut gelegen hier, nahe am Hafen mit dem Ausblicke auf Schiffe und Wasser, hier in diesem hübschen Hause werden wir nebeneinander gute Geschäfte machen. Ja?«
»Ja, wenn ich –«
»Keine Einwendung! Raffen Sie morgen alles zusammen, was Sie an baren Mitteln haben können für die Wechselstube und erwarten Sie mich morgen nachmittags um zwei Uhr hier an der Haustür. Ich komme und kaufe und wir richten uns ein. Jetzt gute Nacht; mich erwartet eine Schöne ohne Sentimentalität.«
Denselben Abend noch erzählte Ruben dies Gespräch seinem Bruder Manasse, der sehr erschüttert wurde von dieser Erzählung, es aber doch unternahm, am andern Morgen dem Vater die Hauptsache mitzuteilen, die Hauptsache nämlich: Ruben will ein eigenes Wechselgeschäft gründen unter der Firma Samuele und Kompanie, damit es sich unterscheide von der Firma Abraham Schmuel.
Er tat dies wirklich, als er um neun Uhr mit dem Vater ins Kontor ging.
Der Vater blieb schweigend stehen und sagte nach einer Pause: »Er schämt sich des Judennamens Schmuel, schämt sich seines Vaters.«
»Nein, Vater. Schmuel heißt italienisch Samuele. Schmuel ist eine Zusammenziehung des Namens Samuel.«
Schweigend ging Vater Abraham weiter, und erst als sie ins Kontor traten, winkte er Manassen, ihm in das kleine Zimmerchen zu folgen, welches neben der Wechselstube war. Dort setzte er sich nieder und holte tief Atem. »Manasse,« sagte er dann, »dein Bruder geht in die Irre, er kommt in die Wüste. Du sollst neben ihm bleiben, um ihn zu stützen. Ich bin müde, ich taug' nichts mehr. Gestern hab' ich mich verrechnet um drei Gulden fünfzig Kreuzer; es ist aus mit mir, ich schließe meine Stube.«
»Vater!«
»Ich schließe meine Stube. Geh' du zum Ruben und tritt zu ihm in euer neues Geschäft. Euer halbes Erbteil werd' ich euch auszahlen. Es kann sich sehen lassen und reicht zu für euren Anfang. Kauft und verkauft ehrlich, hütet euch aber vor der Börse. Die ist ein Walfisch, der selbst einen Propheten verschlingt. Ich kann nur noch beten und werd' nicht mehr lange leben. Der Gott meiner Väter gebe, daß ich nicht noch Schmach erlebe an meinem ältesten Sohne und daß ich nicht mit Schande in die Grube fahre.«
Als Manasse dem Vater noch den Börsenkurs ins Kontor gebracht, eilte er in großer Aufregung zu dem Hause am Hafen, wo ihn Ruben erwartete. Er fand ihn auch und teilte ihm mit, was der Vater beschlossen. Farmer kam dazu und rief: »Bravo!«
Das Haus wurde gekauft, die Wechselstube wurde eingerichtet, und die Firma R. Samuele und Komp. wurde angeschlagen. Kompanie bedeutete Manasses Teilnahme.
Schon am nächsten Vormittag brachte Manasse die stattliche Summe des halben Erbteils und setzte sich hinter das Zahlgitter.
Farmer ließ vom Tapezierer den ersten Stock höchst komfortabel einrichten, und Ruben bezog den links liegenden Teil des Erdgeschosses.
Natürlich wurde Freund Moses herzugerufen. Er sollte als Ausläufer eintreten ins neue Geschäft und sollte ein Kabinett beziehen hinter Rubens Wohnung. Des Anstandes halber jedoch sollte er seine fadenscheinige, schlotterige Kleidung ablegen und sie mit einer soliden bürgerlichen vertauschen.
Als er das hörte, kraute Moses wie gewöhnlich seinen grauen Kopf und schüttelte ihn. Sein hochgelegenes Stübchen mit dem Kanarienvogel könnte er nicht aufgeben, schon des Kanarienvogels wegen nicht, denn der brauchte die schöne Aussicht. Und die schlotterige Kleidung sei ihm Bedürfnis; er würde melancholisch, wenn ihm die Kleider fest am Leibe klebten. Herkommen werde er ja doch jeden Tag und Aufträge bestellen.
Farmer hatte wohl Anteil an dem Widerspruche; Moses scheute diesen Herrn von der Börse. So toll und immer glücklich spekulieren zu können, das beunruhigte, das war ihm unheimlich. Er sagte es ausdrücklich zu Ruben: »Mißtrauen Sie dem Herrn Farmer! Kaufen und verkaufen Sie nicht, wie er rät. Er muß einmal den Hals brechen, und dann brechen Sie den Ihrigen mit. Verstand ist das beste, was es gibt, aber unnatürlicher Verstand muß einen Fehler haben.«
Ruben hatte auch übrigens gar keinen Grund, hohen Mutes zu sein; es kam keine Zeile, kein Wort von Kamilla. Umsonst fragte er täglich nach im Telegraphen- und im Postamt, es war nie etwas angekommen.
Dennoch blieb er seiner Zuversicht getreu. Er sagte sich: »Die Krankheit des Vaters wird sie ganz in Anspruch nehmen« – und er wartete geduldig.
Einer Gattung von Instinkt war er gefolgt, als er begonnen hatte, sich eine bürgerliche Existenz zu gründen und Wohlhabenheit anzustreben, selbst unter großem Wagnis mit Farmer. Es sollte alles vorbereitet sein, Kamillen eine sichere Stätte zu bieten.
War er denn Kamillens so sicher? Es war ja doch kein Wort mit ihr gewechselt worden über solche Zukunft, ja kein Wort darüber, ob sie zu ihm gehören wollte!
Allerdings nicht. Aber das störte ihn nicht. Wir gehören zueinander – das war sein Gedanke. Nein, kein Gedanke: er dachte es nicht, es verstand sich ihm von selbst.
Und so ging er jeden Morgen nach seiner Rückkehr hinaus zur Bank unter der Platane, setzte sich dort nieder und schaute aufs Meer hinaus, einer Zukunft mit ihr gedenkend wie eines Himmelreiches. Dann erst ging er gleichsam nebensächlich an die Einrichtungen seines neuen bürgerlichen Lebens, seines Geschäftes.
Eines Morgens – er hatte sich verspätet – fand er die Bank unter der Platane besetzt. Er kannte den kleinen, feisten Mann mit schneeweißem Haar und kohlschwarzem Schnurrbart, er kannte ihn ohnehin, wie ihn ganz Triest kannte. Sein Spitzname lautete: »Der kleine Epikureer«. Übrigens hieß er Signor Bellosi, und er war ein wohlhabender alter Junggeselle, den jedermann liebte, wohl darum liebte, weil er jedermann zu lieben schien. Farmer sagte von ihm: Er hat nichts zu tun, als sich wohl zu befinden, er ist der glücklichste Fips. Sechzig Jahre ist er alt geworden in Freuden, und er wird hundert Jahre alt werden, denn er ärgert sich niemals und freut sich über alles. Er gehört zu den echten Italienern, welche von Horaz abstammen und keiner Sorge Raum geben.
»Recht, recht!« rief er jetzt Ruben entgegen, »recht, daß Sie auch einmal hieherkommen in der guten Jahreszeit, ehe es zu heiß wird. Jede Woche einmal geh' ich jetzt hieher, um die Natur aus erster Hand zu genießen. Dieser Blick, dieser Duft und das gelinde Wehen des Seewindes! Nach einem guten Frühstück ist man hier an richtiger Stelle. Sie heißen jetzt« – und nun sprach er Italienisch, während er vorher mit Schwierigkeit Deutsch gesprochen hatte – »nicht wahr, Sie heißen jetzt Signore Samuele?«
»Ja, Signore.«
»Das klingt ja auch melodischer als Schmuel. Ich bin soeben nach Ihnen gefragt worden. Dort in der Villa der Signora Molitore.«
»Ah?!«
»Ja. Ich frühstücke immer bei ihr, wenn ich hier herauf gehe. Bin ein alter Freund des Hauses, des seligen Signor Müller, der zu leben verstand und einen wunderbaren Weinkeller hinterlassen hat. Die Signora setzt mir immer einen Marsala vor, wie er in ganz Triest nicht zu finden ist.«
»Und sie hat nach mir gefragt?« sagte Ruben unbedacht, statt das Thema fallen zu lassen. Unbedacht, denn sobald Bellosi dem Kamillageheimnis nahe kam, dann erfuhr es die ganze Stadt. Bellosi war die Geschwätzigkeit selbst. Er antwortete denn auch eifrig: »Ja, ja, sie hat nach Ihnen gefragt. Sie ist kränklich, kommt nicht aus ihrem Hause und erfährt nichts davon, was in Triest vorgeht. Da bin ich ihre Quelle für Stadtneuigkeiten, und so hat sie mich auch heute nach Ihnen gefragt. Ich wußte schon durch Farmer von Ihrem neuen Namen und konnte glatt und günstig aussagen über Sie. Dann hat sie mir von ihrer armen Nichte Kamilla gesprochen, die Plötzlich nach Ancona ans Krankenbett gesprengt worden ist.«
»Und hat sie gute Nachrichten von ihr?«
»Von ihr selbst gar keine. Aber vom Cavaliere di Nota hat sie welche. Er will die Kamilla heiraten, und wird sie auch wohl heiraten.«
»Was meldet er denn?«
»Er meldet, daß ihm der kranke Oberst Teodori sehr wohlwolle und daß der Oberst nach dem Wunsche der Schwägerin Molitore die Hochzeit veranstalten werde, sobald er vom Krankenlager ausstehen könne. Und die Ärzte erwarteten dies binnen vierzehn Tagen.«
»Sie liebt ihn aber nicht!« rief Ruben unvorsichtig.
»Ah, das wissen Signor? Ah, ah! Also darum in der Villa gewesen und musiziert haben! Mein Kompliment zu dem guten Geschmack! Ja, diese Kamilla ist das schönste Geschöpf, das ich seit Jahren gesehen habe, und ich verstehe mich darauf. Schönheit ist eine wunderbare Erquickung. Und bei jungen Mädchen ist sie so unbewußt, da wirkt sie zaubervoll. Das ist für mich ein Genuß, der über Essen und Trinken geht, obwohl ich schon in den Sechzigern bin. Glauben Sie doch ja nicht, daß man im Alter nichts mehr davon verspüre! Im Gegenteile. Je älter ich werde, desto mehr entzücken mich junge Mädchen, die unsere Liebeserklärungen nicht mehr ernsthaft nehmen. Sie sind doch sehr ernsthaft, aber man muß sich in acht nehmen, leidenschaftlich zu werden, denn wenn man durchfällt – und das ist gewöhnlich – dann würde man sich ärgern, und Ärger ist Gift. Aber ein junger Mann wie Sie darf nicht verzagen, auch nicht einer Kamilla gegenüber.«
»Aber wie kommen Sie zu solcher Voraussetzung bei mir! Ich bin ein einziges Mal in der Villa gewesen.«
»Tatata! Ich seh's Ihnen an der Nasenspitze an. Und Sie sonst so interessant blaß aussehender Mann, Sie sind über und über rot geworden, als ich von Ihrer Liebe zu Kamilla sprach. Widersprechen Sie nicht! Junge Liebe ist das Juwel der Schöpfung. Verzagen Sie nicht! Hoffen Sie darauf los. Hoffnung ist eine Himmelsgabe. Angekündigte Heirat ist ja noch keine Heirat, und was Sie betrifft, so hat mich die Signora Molitore gefragt, ob ich den Signor Samuele kenne. Ist also wohlgesinnt, und ich konnte günstig antworten, wie ich's liebe. Ich war, wie gesagt, durch Signor Farmer über Sie unterrichtet, ich speise mit diesem Wundermanne im ›Hotel de la ville‹, und gerade gestern hat er mir erzählt, daß er diesen hoffnungsvollen höchst begabten Jüngling namens Samuele als einen Bankier etabliert habe, und der sind Sie ja doch?«
»Signor Farmer ist allerdings mein Gönner, aber das übrige –«
»Sehen Sie! Da konnte ich das Beste über Sie berichten bei der Molitore – à propos Molitore! Wissen Sie, daß der Name Molitore von mir herrührt?«
»Jawohl. Sie liebt die Vornehmigkeit. Das merken Sie sich! Der Name Müller erniedrigte sie, loswerden wollte sie ihn, und darüber fragte sie mich. Ich sagte: ›Nichts leichter als das! Schicken Sie eine runde Summe als Peterspfennig an den Papst nach Rom mit der ausdrücklichen Bitte um eine Zeile Empfangsbestätigung. In dieser Zeile möchten Sie Molitore genannt werden. Das ist geschehen: Der Abbate Salvo hat die Zeile gebracht, sie hängt in der Villa unter Glas und Rahmen, und so heißt sie seit der Zeit von Papstes Gnaden Signora Molitore. Ist das nicht hübsch? – Ach, dieser erfrischende Luftstrom. Den zu genießen muß man wandeln. Ich gehe also. Addio! Freue mich sehr Ihrer Bekanntschaft und hoffe, Sie beim Diner im ›Hotel de la ville‹ – gute Küche! – neben Freund Farmer wiederzusehen. Hoffe auch, Ihnen nützen zu können da unten. Addio!«
Und er ging, blieb aber noch einmal stehen und sprach mit heller Stimme: »Holla, holla! Sie sind Jude?«
»Ja«
»Das erschwert es sehr. Die Molitore haßt die Juden, und ohne die Molitore geht's nicht. Törichte Leute seid ihr, ihr Juden. Töricht, daß ihr so hartnäckig Juden bleiben wollt in christlichen Ländern. Man muß sich nicht absondern, das bringt immer Streit und Nachteil. Meine römischen Vorfahren waren auch Heiden und sind Christen geworden, um nicht abgesondert zu bleiben. Laßt Euch taufen! Was kostet denn das? Gar nichts. Und Ihr gewinnt Harmonie für Euer Leben. Harmonie ist ja die Hauptsache. Wenn Sie die Kamilla heiraten wollen –«
»Aber Signore!«
»Still! Dann müssen Sie sich taufen lassen. Wollen Sie? Ich besorg's, das macht mir Vergnügen. Wollen Sie?«
»Und die Harmonie in meiner Familie? Mein Vater ist orthodox.«
»Orthodox! Dies ist das schlimmste Wort; es trennt die Menschen. Ich geh' ihm stets aus dem Wege. Na, jedenfalls die besten Wünsche für Sie mit dem besten Addio.«
Nun ging er wirklich. Ruben blieb betroffen zurück. Sein Geheimnis war entweiht. Und wenn dieser redliche Mann der Frau Molitore vorzeitig sagte: Dieser Samuele ist ein Jude! – Oh!
Dazu die üble Nachricht von Nota, die Heirat! – Doch nein, das erschütterte ihn nicht. Er sagte sich mit Zuversicht: Kamilla tut's nicht, sie tut's gewiß nicht. Sie hat gesagt, daß ihr der Nota zuwider sei, und sie ist einfach wahrhaftig, sie wird auch einfach wahrhaftig handeln, sie tut's nicht.
Sich also tröstend, ging er in die Stadt zurück, ging wieder einmal aufs Postamt – o, da war er endlich angekommen, ein Brief aus Ancona, ein Brief von Kamilla. Er lautete: »Ich habe meinem Vater die Augen zugedrückt, er lebt nicht mehr. Ach, diese Traurigkeit! Indem ich ihn pflegen konnte Tag und Nacht, hoffte ich immer noch – und nun! Der gute, liebe Vater; er sieht mich nicht mehr, er hört mich nicht mehr, er spricht nicht mehr, ich steh' allein in der Welt. Nein – haben Sie gesagt. Ich glaube Ihnen, und ich denke an Sie wie an einen Stab, welcher mich stützen wird. Kamilla.«
Ruben flog ins Telegraphenamt und telegraphierte ihr: »Stab und Stütze, solange ein Odem in mir lebt. Weiteres brieflich.«
Und nun eilte er in sein Zimmer und schrieb: Kamilla möge ihm mitteilen, was für Entschlüsse in ihr auftauchten. Ob sie nicht eilen möchte, den Zudringlichkeiten Notas auszuweichen und sofort nach Triest zurückzukehren. Hier sei sie sicher vor ihm, da er als Irredentist hier nicht geduldet werde, und hier könnten sie zusammen beraten über die Zukunft. Täglich gehe er zu der Platane am Berge, und dort erwarte er sie.
Diesen Brief trug er selbst zur Post. Von da zurückkehrend, begegnete er Farmer, welcher nach der Börse ging.
»Holla!« rief dieser, »Ihr Antlitz strahlt ja, es ist gute Nachricht angekommen?«
»Ja, wenn auch zu hohem Preise.«
»Aber doch hoher Gewinn?«
»Hoher Gewinn.«
»Das soll gelten. Es lebe der Aberglaube! Ihr strahlendes Antlitz verspricht mir den Sieg bei einem großen Wagnis. Sie hoffen augenblicklich das Beste trotz großer Schwierigkeit?«
»Das Beste.«
» Vogue la galère! So geschehe es denn in Ihrer glücklichen Hand. Stimmen Sie zu, so gehen wir augenblicklich in die Schlacht.«
»Das heißt?«
Farmer setzte ihm nun auseinander, warum er im Begriffe stehe, für eine große Summe Papiere zu kaufen, denen er in nächster Zeit eine mächtige Steigerung zutraut. Nachrichten aus Paris und Wien berechtigen ihn zu dem Wagnis. Ein Wagnis bleibt es immerhin, aber Rubens glücklicher Tag ermutigte ihn zu einem Unternehmen von großem Umfange. »Ich kaufe so viel,« fuhr er fort, »daß ich ein Bettler werde, wenn es fehlschlägt, ein reicher Mann, wenn es gelingt. Wollen Sie Ihr ganzes jetziges Vermögen in die Schanze schlagen neben mir?«
»Um ein Bettler zu werden, wenn es mißlingt?«
»Oder ein wohlhabender Mann, wenn es gelingt.«
Ruben war bereits ein klarer Verstand in Börsenfragen und hatte im Hinblick auf Kamillen das dringende Bedürfnis, ein wohlhabender Mann zu werden. Er bat also Farmer, noch einen Augenblick stehen zu bleiben auf dem Wege zur Börse und ihm noch einmal in langsamer Rede das Für und Wider der Unternehmung auseinander zu setzen.
Dies tat Farmer, das Wider ebenso nachdrücklich hervorhebend wie das Für.
»Ich finde das Für überwiegend,« sagte Ruben, »kaufen wir!«
Und sie kauften.
Von der Börse kommend, sprachen sie kein Wort mehr darüber. Farmer war geübt in Wagnissen; er liebte sie als notwendige Reize seines Lebens; er blieb kalt dabei. – Ruben atmete, seit er Kamillen gefunden, lauter Glück, unwandelbares Glück, er zweifelte gar nicht am glücklichen Erfolge des Wagnisses und ging mit Farmer seelenruhig zum Speisen ins »Hotel de la ville«.
»Halt!« sprach Farmer, »die Vorspannpferde nicht vergessen!«
Und er trat ins Telegraphenamt, um Telegramme nach Wien und Paris aufzugeben, welche den großen Kauf des bewußten Papieres verkündeten, mit dem Bemerken: Farmer, der Triester Börsenkönig, sei der Käufer. »Das stachelt«, sagte er lachend und trat mit Ruben ins »Hotel de la ville«.
Hier fanden sie den Signor Bellosi einsam an einem runden Tische. Zum Vollgenusse des Mahles zog er es immer vor, ganz allein zu speisen, falls sich nicht eine anmutige Gesellschaft darbot. Farmer und Ruben schienen ihm zuzusagen, und er lud sie ein, an seinem Tische den Speisen und Weinen die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
»Eine Neuigkeit, Signor Samuele!« rief er, »eine Neuigkeit für Sie! Signora Molitore hat mir soeben ein Billett gesendet. Darin steht, daß sie ein Telegramm vom Cavaliere di Nota aus Ancona erhalten, welches ihr den Tod des Obersten Teodori meldet. Sie bittet auch, beim Statthaltereirate – ohne Namen, meine Herren, Diskretion! – welcher mir befreundet ist, abzuhorchen, ob die politische Strömung noch immer scharf fließe, oder ob Nota jetzt es wieder wagen dürfe, nach Triest zu kommen. Heut' abend seh' ich den Rat, morgen vormittags will ich der Signora Bescheid bringen. Soll ich Sie mitnehmen, Signor Samuele, um Sie dort einzuführen?«
»Ah! Dort also wohnt sein Glück?« rief Farmer.
Da kam's zutage, was Ruben von Bellosi gefürchtet: sein Geheimnis wurde aufgedeckt.
Nun, dachte er, es ist ja doch ein notwendiger Weg zu deinem Ziele – und er nahm es dankbar an, von Bellosi vorgestellt zu werden.
»Kann man den Engel sehen, dann möchte ich auch mitgehen«, sagte Farmer.
»Der Engel ist noch nicht da,« erwiderte Bellosi; »aber er wird wohl bald kommen. Übrigens wird sich Signora Molitore freuen, den berühmten Börsenkönig Farmer kennen zu lernen. Sie hat mich neulich gefragt, ob ich nicht den kleinen Börsenschächer, den Abbate Salvo, mit Ihnen bekannt machen könnte, damit er des Verkehrs ledig würde mit einem kleinen Juden.«
»Nein, nein, wenn der Engel nicht da ist – die italienisierte Frau Müller interessiert mich nicht.«
»Aber sie ist hochwichtig für unsern jungen Freund hier, für Signor Samuele.«
»Richtig. Also nehmen Sie mich mit.«