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Kapitän Horton. – Traurige Neuigkeiten aus der Heimat. – Ich stürze halb über Kopf ins Feuer und finde nachher, daß ich aus meinen Kleidern herausgewachsen bin. – Obgleich weder so reich wie ein Jude noch so groß wie ein Kameel, komme ich doch durch's Examen, was allen Prüfungskandidaten seltsam genug vorkommen wird.
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Den Tag nach Kapitän Kearney's Tod traf sein Nachfolger an Bord ein. Der Charakter des Kapitäns Horton (so hieß derselbe) war uns genau bekannt, aus den Klagen, welche die Offiziere seines Schiffes über seine Unthätigkeit und Trägheit führten, und in der That hatte er auch den Spottnamen »das Faultier« bekommen. Es war doch gewiß höchst ärgerlich für seine Offiziere, mit ansehen zu müssen, wie ihnen so manche Gelegenheit, Beutegelder zu machen und sich auszuzeichnen, durch die Trägheit seiner Denk- und Handlungsweise entzogen wurde. Kapitän Horton war ein junger Mann von vornehmer Familie, der durch Gönner, sowie infolge gelegentlicher Auszeichnung außerordentlich schnell diese Beförderung erlangt hatte. Mehrmals hatte er bei Unternehmungen zum Herausholen feindlicher Schiffe – an denen er nicht freiwillig teilnahm, sondern wozu er beordert wurde – einen ausgezeichneten Grad von Kaltblütigkeit in Gefahren und schwierigen Lagen bewiesen, wodurch er sich natürlich viel Beifall erwarb, es wurde jedoch gesagt, diese Kaltblütigkeit rühre von seinem größten Fehler her – von seiner unverantwortlichen Trägheit. Wo andere davoneilten, um sich dem Feuer des Feindes zu entziehen, pflegte er ganz langsam fortzugehen, aber gerade nur aus dem einzigen Grunde, weil seine Gleichgültigkeit und Trägheit so groß war, daß er sich nicht damit anstrengen mochte, fortzuspringen. Man erzählte von ihm, er habe einmal bei dem Wegführen eines Schiffes, wobei er sich auszeichnete, an Bord eines sehr hohen Fahrzeuges zu steigen gehabt, und zwar unter einem Hagel von Kartätschen und Musketenfeuer, und da sei er, während sein Boot an der Seite hinfuhr und seine Leute schon hinaufsprangen, dagestanden und habe an den hohen Seitenwänden des Fahrzeuges emporgeschaut und mit der Miene der Verzweiflung ausgerufen: »Mein Gott! müssen wir denn wirklich auf diese Verdecke hinaufklettern?« Als er aber oben war und durch das Gefecht mitgenommen und aufgeregt wurde, zeigte er, wie wenig die Furcht an der vorigen Bemerkung Anteil hatte; denn der Kapitän des Schiffes fiel von seiner Hand, und er kämpfte an der Spitze seiner Mannschaft. Aber diese Eigentümlichkeit, die bei einem jüngeren Offizier weniger zu sagen hatte und mehr einen Gegenstand des Scherzes abgab, war an einem Kapitän höchst bedenklich.
Der Admiral wußte wohl, wie oft er schon die Gelegenheit, dem Feinde zu schaden oder Schiffe zu nehmen, vernachlässigt hatte, wo er es doch hätte thun können; durch solche Vernachlässigung hatte Kapitän Horton sich gegen einen Artikel der Kriegsgesetze vergangen, und die für ein solches Vergehen vorgesehene Strafe ist die Todesstrafe. Demgemäß war seine Ernennung auf den Sanglier uns ebenso unangenehm, als seine Entfernung von dem bisherigen Schiffe den an Bord desselben befindlichen erwünscht war.
Zufälligerweise hatte diese Ernennung keine bedeutenden Folgen. Dem Admiral waren zwar Instruktionen aus England zugekommen, den Kapitän Horton auf die erste erledigte Stelle zu befördern, und diese mußte er befolgen; aber da er nicht wünschte, einen Offizier auf der Station zu behalten, der sich nicht anstrengen mochte, so beschloß er, ihn mit Depeschen nach Haus zu schicken, und die andere Fregatte, deren Heimfahrt schon angeordnet war und zu deren Ersatz man uns hatte kommen lassen, zurückzubehalten. Deshalb wurde die Nachricht, daß wir unverzüglich nach England segeln sollten, mit dem gemischten Gefühle der Freude und des Bedauerns vernommen. Ich meines teils war froh darüber. Ich hatte nun nur noch fünf Monate als Seekadett zu dienen, und glaubte in England bessere Aussichten zur Beförderung zu haben als auswärts. Auch war es mir, wie ich schon auseinandergesetzt, aus Familiengründen sehr darum zu thun, nach Hause zu kommen.
Nach vierzehn Tagen segelten wir mit mehreren Fahrzeugen und mit der Weisung ab, ein großes Konvoy zu geleiten, das aus Quebek kommen und an der St. Johns-Insel zu uns stoßen sollte. In einigen Tagen trafen wir dasselbe und steuerten mit günstigem Winde England zu. Doch bald trat ganz ungünstiges Wetter ein und wir lichteten unter nackten Topen vor einer schweren Kühlte.
Unser Kapitän verließ selten die Kajütte, sondern legte sich der Länge nach ausgestreckt auf sein Sofa hin, um einen Roman zu lesen oder ein Schläfchen zu machen, wie's ihm gerade am besten behagte.
Ich erinnere mich eines Umstandes, der die Trägheit seiner ganzen Denk- und Handlungsweise und das Maß seiner Unfähigkeit, eine so schöne Fregatte zu befehligen, darthun wird. Wir waren schon drei Tage von dem Winde herumgetrieben, als das Wetter noch viel schlechter wurde. O'Brien, der die Mittelwache hatte, ging in die Kajütte, um zu melden, daß »es sehr heftig stürme.«
»Ganz gut«, sagte der Kapitän, »lassen Sie mich 's wissen, wenn es heftiger stürmt.«
In einer Stunde etwa war der Wind noch stärker geworden, und O'Brien ging wieder hinab.
»Es stürmt viel heftiger, Kapitän Horton.«
»Ganz gut«, antwortete dieser, sich in seiner Hängematte umdrehend; »Sie können mir wieder Meldung machen, wenn es heftiger stürmt.«
Um Glock' sechs war der Sturm auf seinem Höhenpunkt und der Wind brüllte fürchterlich. O'Brien ging wieder hinab.
»Es stürmt nun fürchterlich stark, Kapitän Horton.«
»Gut, gut, wenn das Wetter schlechter wird –«
»Es kann nicht schlechter werden«, unterbrach ihn O'Brien, »es ist unmöglich, daß der Wind heftiger stürme.«
»Wirklich! nun ja«, entgegnete der Kapitän, »so lassen Sie mich 's wissen, wenn er sich legt.«
In der Morgenwache ereignete sich ein ähnlicher Vorfall. Herr Phillott ging hinab und meldete, daß einige von den Schiffen des Konvoy zurückgeblieben und aus dem Gesicht verloren seien. »Sollen wir beilegen, Kapitän Horton?«
»Nicht doch«, erwiderte dieser, »das wäre gar zu unbehaglich, lassen Sie mich 's wissen, wenn Sie noch mehr aus dem Gesicht verlieren.«
Nach einer Stunde meldete der Leutnant, »daß nur noch wenige zu sehen seien.«
»Ganz gut, Herr Phillott«, erwiderte der Kapitän, sich zum Einschlafen umdrehend, »lassen Sie mich 's wissen, wenn Sie noch mehr verlieren.«
Nach einiger Zeit machte der erste Leutnant die Meldung, daß nun alle aus dem Gesichte seien.
»Ganz schön«, antwortete der Kapitän, »so melden Sie mir, wenn Sie solche wieder sehen.«
Dies war nun nicht wohl wahrscheinlich, da wir zwölf Knoten in der Stunde zurücklegten, und so schnell wir nur konnten, von ihnen wegfuhren; der Kapitän blieb dennoch ungestört, bis es ihm beliebte, zum Frühstück aufzustehen. Auch sahen wir in der That keines unserer Fahrzeuge wieder, sondern ankerten, da wir mit dem Winde segelten, nach fünf Tagen schon in Plymouth. Es liefen Befehle ein, die Fregatte abzulöhnen, alles stehen zu lassen und später neue Bestallungen vorzunehmen.
Ich erhielt Briefe von meinem Vater, worin er mir zur Aufführung meines Namens in den Depeschen des Kapitäns Kearney Glück wünschte, und mich einlud, so schnell als möglich nach Hause zu kommen. Der Admiral gestattete, daß mein Name in die Bücher des Wachschiffes eingetragen werde, damit ich nicht von meiner Zeit einbüßen sollte, und gab mir dann auf zwei Monate Urlaub. Ich sagte meinen Kameraden Lebewohl, drückte O'Brien, der vorher nach Irland gehen wollte, ehe er um seine Anstellung auf einem anderen Schiffe nachsuchte, die Hand, setzte mich mit meinem Sold in der Tasche in den Postwagen, und nach drei Tagen lag ich in den Armen meiner liebevollen Mutter; auch wurde ich von meinem Vater und den übrigen Mitgliedern meiner Familie herzlich begrüßt.
Da ich jetzt einmal wieder im Kreise der Meinigen bin, so muß ich auch den Leser mit dem, was seit meiner Abreise vorgefallen war, bekannt machen. Meine älteste Schwester, Lucie, hatte einen Offizier in der Landarmee, einen gewissen Kapitän Fielding, geheiratet, und ihren Gemahl, da dessen Regiment nach Indien beordert worden, dorthin begleitet; auch waren gerade vor meiner Rückkehr Briefe eingelaufen, die ihre glückliche Ankunft auf Ceylon meldeten. Meine zweite Schwester, Mary, die von ihrer Kindheit an eine äußerst zarte Konstitution besaß, war auch Braut geworden; sie war sehr schön und hatte viele Bewunderer. Ihr Bräutigam war ein Baronet aus guter Familie, aber unglücklicherweise erkältete sie sich auf einem Balle und bekam die Auszehrung. Sie starb zwei Monate vor meiner Ankunft, und ich traf also meine Familie in tiefer Trauer. Meine dritte Schwester, Ellen, war noch unverheiratet; auch sie war ein sehr schönes Mädchen und jetzt siebzehn Jahre alt. Den Gesundheitszustand meiner Mutter hatte der Tod meiner Schwester Mary und die Trennung von ihrem ältesten Kinde sehr erschüttert. Was meinen Vater anbelangt, so schien er sogar den Verlust seiner Tochter gänzlich vergessen zu haben über der unerfreulichen Nachricht, daß die Frau meines Oheims einen Sohn geboren habe, wodurch ihm die Titel und Besitzungen meines Großvaters, die er schon zu besitzen glaubte, entzogen wurden. In der That, es war ein Trauerhaus. Ich ehrte den Kummer meiner Mutter und suchte sie auf alle mögliche Weise zu trösten; der meines Vaters hingegen war augenscheinlich sogar weltlich und stand so sehr im Widerspruche mit seinem geistlichen Berufe, daß ich sagen muß, ich fühlte darüber mehr Ärger als Bedauern. Er war ganz grämlich und mürrisch, gegen seine Umgebung barsch, und nicht so freundlich gegen meine Mutter, als es ihm ihr Gemüts- und Gesundheitszustand zur Pflicht hätte machen sollen, selbst wenn er keine Neigung für sie besaß. Er brachte selten einen Teil des Tages bei ihr zu, und abends ging sie sehr früh zu Bett, so daß sie also wenig mit einander verkehrten. Meine Schwester war ihr ein großer Trost, und auch ich, wie ich hoffen darf; sie sagte dies oft, wenn sie mich umarmte, wobei die Thränen an ihren Wangen herabrollten, und ich konnte nicht umhin, zu glauben, daß diese Thränen durch die Kälte und Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Unfreundlichkeit, mit der sie mein Vater behandelte, verdoppelt wurden. Meine Schwester anlangend, so war sie ein Engel, und wenn ich ihre sorgfältige Aufmerksamkeit gegen meine Mutter und die gänzliche Selbstverleugnung, die sie an den Tag legte (so ganz anders als mein Vater, der so selbstsüchtig war!), mit ansah, so dachte ich oft, welch ein Kleinod sie sein würde für den Mann, der glücklich genug wäre, ihre Liebe zu gewinnen. In diesem Zustande traf ich meine Familie bei meiner Rückkehr an.
Ich war ungefähr eine Woche zu Hause, als ich eines Abends nach dem Essen meinem Vater vorstellte, daß es zweckmäßig sein dürfte, Schritte zu thun, um meine Beförderung zu erlangen.
»Ich kann nichts für Dich thun, Peter; ich habe durchaus keine Gönner«, gab er mir mißgestimmt zur Antwort.
»Ich glaube nicht, daß viel dazu erforderlich ist«, entgegnete ich ihm; »bis zum zwanzigsten des nächsten Monats werde ich meine Zeit ausgedient haben. Wenn ich in der Prüfung bestehe, was ich wohl glauben darf, so wird es, da mein Name schon in den öffentlichen Depeschen genannt wurde, nicht schwer halten, auf die Bitte meines Großvaters hin meine Ernennung zu erhalten.«
»Ja, Dein Großvater möchte das wohl erlangen, ich zweifle nicht daran; aber ich glaube, Du darfst Dir in dieser Richtung wenig Hoffnung machen; mein Bruder hat einen Sohn und wir sind ausgestoßen. Du weißt gar nicht, Peter, wie selbstsüchtig die Leute sind, und wie wenig sie sich für ihre Verwandten Mühe geben mögen. Dein Großvater hat mich seit der Nachricht von dem Familienzuwachse meines Bruders nicht wieder eingeladen. In der That habe ich mich ihm auch nicht einmal genähert, denn ich weiß wohl, daß es zwecklos ist.«
»Ich muß von Lord Privilege anders denken, mein lieber Vater, bis sein eigenes Benehmen Ihre Meinung bestätigt. Ich gebe zu, daß ich für ihn nicht mehr der Gegenstand so großer Teilnahme bin; aber er war immer freundlich gegen mich und schien sogar besonders für mich eingenommen zu sein.«
»Nun ja, so versuche, was Du kannst; aber Du wirst bald sehen, aus welchem Stoffe diese Welt gemacht ist. Ich wünsche natürlich, daß Deine Hoffnungen in Erfüllung gehen; denn ich weiß nicht, was aus Euch Kindern werden soll, wenn ich sterbe – ich habe wenig oder gar nichts erspart. Und jetzt sind alle meine Aussichten zerstört durch dieses –« dabei schlug mein Vater in einer durchaus nicht priesterlichen Weise und mit einem Blicke, der eines Apostels unwürdig war, mit der Faust auf den Tisch.
Es thut mir leid, daß ich so von meinem Vater sprechen muß, aber ich darf die Wahrheit nicht verhehlen. Indeß muß ich doch auch sagen, daß viel zu seiner Entschuldigung angeführt werden konnte. Er hatte von jeher eine Abneigung gegen den geistlichen Stand: als junger Mann ging sein Ehrgeiz dahin, in die Armee zu treten, und für diesen Dienst hätte er sich auch viel besser geeignet; aber da es seit Jahrhunderten eingeführt ist, das ganze Vermögen der Aristokratie auf den ältesten Sohn zu übertragen und die übrigen Brüder der Versorgung des Staates oder vielmehr des Volkes, welches zur Erschwingung der Besoldungen mit Taxen belegt wird, zu überlassen, so war es auch meinem Vater nicht gestattet, seiner eigenen Neigung zu folgen. Ein älterer Bruder hatte bereits das Heer zu seinem künftigen Stande gewählt, und deshalb war es auch entschieden, daß sich mein Vater dem Dienste der Kirche widmen sollte; so kommt es, daß wir in diesem Stande so manche Männer gehabt haben und noch fortwährend haben, die nicht nur für denselben ganz unfähig sind, sondern sogar in der That dessen Ansehen herabsetzen. Das Gesetz der Erstgeburt ist voll von Übeln und Ungerechtigkeiten; übrigens müßte ohne dieses die Aristokratie eines solchen Landes bis zur Unbedeutendheit heransinken. Mir däucht, es sei, so lange das Volk in einem Staate damit zufrieden ist, die jüngeren Söhne des Adels zu ernähren, zweckmäßig, die Aristokratie als einen dritten Stand und als ein Verbindungsglied zwischen dem Fürsten und dem Volk aufrecht zu erhalten – daß aber dieses Volk, wenn es zu arm oder nicht mehr geneigt ist, sich besteuern zu lassen, ein Recht habe, die Besteuerung für solche Zwecke zu verweigern, und die Aufhebung des Gesetzes der Erstgeburt zu verlangen.
Ich blieb bis zum völligen Ablauf meiner Dienstzeit zu Hause, und begab mich dann nach Plymouth, um mein Examen zu bestehen. Da ich schon am Dienstag eintraf und der Admiral die Prüfung erst auf den Freitag festgesetzt hatte, so vertrieb ich mir den Tag über die Zeit damit, daß ich im Seemagazin herumlief und mir, so viel mir möglich war, weitere Kenntnisse in meinem Fache zu erwerben suchte. Am Donnerstag wurde eine Abteilung Soldaten aus dem Depot an dem Landungsplatz auf Booten zu Kriegsfahrzeugen eingeschifft, um, wie ich hörte, nach Indien abzugehen. Ich wohnte der Einschiffung bei und wartete, bis die Boote abstießen; dann ging ich nach der Ankerwerft, um mir gewisse Kenntnisse über das Gewicht der verschiedenen Anker für die respektiven Klassen von Fahrzeugen in des Königs Dienst zu verschaffen.
Ich befand mich noch nicht lange da, als meine Aufmerksamkeit durch das Geschrei und Gezänke eines Soldaten erregt wurde, der, wie es schien, Reih und Glied verlassen hatte und in die Kneipe im Seemagazin gegangen war, um Schnaps zu sich zu nehmen. Er war ganz betrunken. Eine junge Frau mit einem Kinde auf dem Arm folgte ihm und suchte ihn zu beschwichtigen.
»Sei nur ruhig, Patrick, mein Schatz«, sagte sie, indem sie sich an seinen Arm hing, »das ist gewiß, daß Du Reih und Glied verlassen hast, und deshalb Unannehmlichkeiten kriegen wirst, wenn Du an Bord kommst. Aber sei ruhig, Patrick, und laß uns ein Boot nehmen; dann glaubt vielleicht der Offizier, es sei alles nur ein Irrtum gewesen, und läßt Dich durchschlüpfen. Jedenfalls will ich mit Herrn O'Rourke sprechen: der ist ja ein freundlicher Mann.«
»Pfui über Dich! elende Kreatur, mit Herrn O'Rourke willst Du sprechen, und der soll Dir dann unter das Kinn greifen? Pfui über Dich, Mary, und laß mich meinen Weg an Bord allein finden. Brauch' ich denn ein Boot, da ich schwimmen könnte wie Sankt Patrick, mit meinem Kopf unter dem Arm, wenn er nicht auf den Schultern säße? Jedenfalls aber kann ich mit Tornister und Muskete schwimmen.«
Die junge Frau schrie auf und suchte ihn zurück zu halten; aber er machte sich los von ihr, raunte die Werft hinab und stürzte sich in das Wasser. Nun sprang auch die junge Frau an den Rand der Werft vor, und als sie sah, daß er untersank, stieß sie einen jammervollen Schrei aus und streckte in der Verzweiflung die Arme hinaus. Da entfiel ihr das Kind, rollte bis zum Rande des Pfahlwerkes, überschlug sich und stürzte, noch ehe ich es auffangen konnte, in die See. »Das Kind, das Kind!« rief sie fortwährend in wildem Angstgeschrei, und bald lag das arme Geschöpf in heftigen Zuckungen zu meinen Füßen. Ich sah nun hinaus auf die See: das Kind war verschwunden, aber der Soldat hielt sich immer noch unter großer Anstrengung mit dem Kopf über dem Wasser. Er sank unter und erhob sich noch einmal – ein Boot ruderte zu ihm hin, aber er war schon ganz erschöpft. Da zog er wie in der gräßlichsten Verzweiflung die Arme zurück und war eben daran, unter den Wellen zu verschwinden, als ich mich nicht länger halten konnte, von der höchsten Stelle der Werft hinab sprang und hinschwamm, um ihm zu helfen, gerade noch zeitig genug, um ihn zu halten, als er zum letzten Male sinken wollte. Ich war noch keine Viertelsminute im Wasser, als ein Boot zu uns herbeikam und uns an Bord nahm. Der Soldat war im höchsten Grade erschöpft und sprachlos, ich hingegen nur ganz durchnäßt. Auf mein Verlangen ruderte das Boot dem Landungsplatze zu und wir wurden beide ans Ufer gesetzt. Der Tornister, der auf des Soldaten Rücken angeschnallt war, sowie seine Uniform zeigten an, daß er zu dem soeben eingeschifften Regimente gehörte, und ich sprach die Meinung aus, es werde das Beste sein, ihn, sobald er etwas zu sich gekommen sei, an Bord zu bringen. Da das Boot, das uns aufgegriffen hatte, zu dem Kriegsschiffe gehörte und der in demselben befindliche Offizier, der die Einschiffung der Truppen besorgt hatte, noch einmal ans Land geschickt worden war, um nachzusehen, ob nicht jemand zurückgelassen worden sei, so stimmte er mir natürlich bei. In ein paar Minuten hatte sich der Soldat wieder soweit erholt, daß er aufrecht sitzen und sprechen konnte, und ich blieb nur noch da, um mir Kenntnis von dem Zustande der armen jungen Frau, die ich auf der Werft zurückgelassen hatte, zu verschaffen. Nach wenigen Minuten wurde sie durch den Wärter zu uns geführt; die Scene der Wiedervereinigung mit ihrem Manne war höchst ergreifend. Nachdem sie sich ein wenig gesammelt hatte, drehte sie sich nach mir um. Ich stand, von Wasser triefend, da, und sie rief, vermischt mit Wehklagen um das Kind, ausdrucksvolle Segenswünsche auf mein Haupt herab. Dann fragte sie mich um meinen Namen. »Geben Sie ihn mir!« schrie sie, »geben Sie ihn mir auf ein Papier geschrieben, damit ich ihn an meinem Herzen tragen und ihn jeden Tag meines Lebens lesen und küssen kann – damit ich nimmer vergesse, für Sie zu beten und Sie zu segnen!«
»Ich will Ihnen denselben sagen. Mein Name –«
»Nein, schreiben Sie ihn für mich auf – schreiben Sie ihn auf. Das werden Sie mir doch sicherlich nicht abschlagen. Alle Heiligen mögen Sie segnen, lieber junger Mann, da Sie eine arme Frau von der Verzweiflung gerettet haben.«
Der Offizier, der das Boot befehligte, gab mir einen Bleistift und eine Karte, auf die ich meinen Namen schrieb, die ich dann der armen Frau überreichte. Sie drückte mir die Hand, küßte die Karte zu wiederholten Malen und steckte sie in ihren Busen. Der Offizier ward nun ungeduldig über diesen Verzug und hieß den Soldaten ins Boot hineingehen; sie folgte ihm und hängte sich, naß wie er war, an seinen Arm; dann stieß das Boot ab und ich eilte dem Gasthofe zu, um meine Kleider zu trocknen. Da drängte sich mir unwillkürlich die Bemerkung auf, wie die Furcht vor dem größern Übel jede Beachtung des kleinern aufhebt. Zufrieden, daß ihr Mann nicht umgekommen war, schien sie auf einmal kaum mehr daran zu denken, daß sie ihr Kind verloren hatte.
Ich hatte nur einen Anzug mitgebracht, der bei meiner Ankunft in ganz gutem Zustande war; aber Salzwasser nimmt die Uniformen verteufelt mit. Ich legte mich zu Bette, bis sie trocken war; aber wenn sie schon vorher nicht zu groß für mich war, da ich schnell wuchs, so war sie jetzt, als ich sie wieder anlegte, ganz eingegangen und zusammengeschrumpft, folglich mir viel zu klein. Meine Handgelenke ragten weit über die Ärmel des Rockes hervor – meine Hosen waren halb bis zum Knie eingeschrumpft – die Knöpfe alle angelaufen, und ich sah gewiß nicht aus wie ein anständiger und hübscher Seekadett. Ich würde mir einen andern Anzug bestellt haben, aber da die Prüfung schon am nächsten Morgen um zehn Uhr stattfinden sollte, so hatte ich keine Zeit mehr dazu. Ich war demgemäß genötigt, mich gerade so, wie ich ging und stand, auf dem Hinterdeck des Kriegs-Linienschiffes einzufinden, an dessen Bord das Examen vor sich ging. Viele andere junge Leute, welche sich derselben Prüfung unterziehen sollten, waren da, und alle befremdete meine Erscheinung sehr; denn wie ich aus ihren gegenseitigen Winken und Zeichen entnehmen konnte, hatten sie, die in so schönen Anzügen auf und ab spazierten, gar keine Lust, meine Bekanntschaft zu machen.
Es standen viele vor mir auf der Liste, und unsere Herzen klopften jedesmal, wenn ein Name genannt wurde und der Gerufene in die Kajütte hinabging. Einige kehrten mit vergnügten Gesichtern zurück, und unsere Hoffnungen stiegen im Vorgefühl eines ähnlichen Glückes; andere kamen traurig und niedergeschlagen herauf, und dann teilte sich der Ausdruck der Gesichter den unsrigen mit; wir waren niedergedrückt vor Angst und Furcht. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß, wiewohl »bestehen« ein Zeugnis für die Fähigkeit sein mag, doch »Nichtbestehen« durchaus das Gegenteil nicht beweist. Ich habe manche der geschicktesten jungen Leute gekannt, welche zurückgewiesen wurden (während andere von geringeren Fähigkeiten gut bestanden), lediglich infolge der Bangigkeit, welche das Eigentümliche ihrer Lage hervorbrachte; und man darf sich auch nicht darüber wundern, wenn man in Erwägung zieht, daß die ganze Mühe und Anstrengung von sechs Jahren in diesem entscheidenden Augenblicke auf dem Spiele steht. Zuletzt wurde mein Name gerufen; fast atemlos vor Angst ging ich in die Kajütte hinab, wo ich mich drei Kapitänen gegenüber befand, welche entscheiden sollten, ob ich tüchtig sei, eine Anstellung in Seiner Majestät Dienst zu erhalten. Meine Logbücher und Zeugnisse wurden geprüft und gebilligt, meine Dienstzeit nachgerechnet und für recht befunden; der Fragen, die man mir über die mathematische Schifffahrtskunde vorlegte, waren es nur sehr wenige, und zwar aus den besten aller möglichen Gründe, weil nämlich die meisten Kapitäne in Seiner Majestät Dienst wenig oder gar nichts davon verstehen. Während ihrer Dienstzeit als Seekadetten lernen sie die Steuermannskunde nur durch mechanisches Nachahmen, ohne sich über die Grundsätze zu unterrichten, auf welche die angewandten Berechnungen sich stützen. Als Leutnants werden ihre Dienste in bezug auf die Schifffahrt selbst selten in Anspruch genommen, und sie vergessen alles dahin Einschlägige ungemein schnell. Bei den Kapitänen aber besteht der ganze Umfang ihrer mathematischen Kenntnisse darin, daß sie imstande sein müssen, die jeweilige Stellung des Schiffes auf der Karte zu verzeichnen. Für die eigentliche Führung und Richtung des Schiffes ist der Schiffsmeister verantwortlich, und da die Kapitäne keinerlei Verantwortung haben, so verlassen sie sich auch ganz auf des Schiffsmeisters Berechnung. Es giebt natürlich auch Ausnahmen, aber was ich sage, ist Wahrheit; und wenn heute die Admiralität einen Befehl erließe, daß alle Kapitäne wieder geprüft werden sollen, so würden, obgleich sie sich ganz vertraut mit allem, was den Flottendienst betrifft, zeigen möchten, doch neunzehn von zwanzig zurückgewiesen werden, wenn man sie über die Schiffahrtskunde befragte. Weil ich nun dieses Verhältnis kenne, so behaupte ich, daß der Dienst unter dem gegenwärtigen System leidet, und daß der Kapitän die volle Verantwortlichkeit für Führung seines Schiffes tragen sollte. Es ist längst bekannt, daß in jedem andern Seestaate die Offiziere wissenschaftlich gebildeter sind als die unsrigen, was sich leicht daraus erklärt, daß die Verantwortlichkeit nicht ganz auf unsern Kapitänen ruht. Der Ursprung der Schiffsmeister in unserem Dienste ist sonderbar. Als England anfing eine Seemacht zu werden, lieferten die Cinque Ports und andere Vereine Schiffe für den Dienst des Königs, und nur die zum Gefecht bestimmte Mannschaft bestand aus Soldaten, die an Bord geschickt wurden. Alle Schiffe hatten damals ein Matrosen-Volk mit einem Schiffsmeister, um die Fahrt des Schiffes zu leiten. Während unserer blutigen Seekriege mit den Holländern wurde dies System beibehalten. Ich glaube, es war der Graf von Sandwich, von dem man erzählt, er habe, als sein Schiff in einen sinkenden Zustand geraten sei, ein Boot genommen, um seine Flagge an Bord eines andern Fahrzeuges in der Flotte zu hissen; aber eine Kugel zerschmetterte das Boot, und der Graf, den das Gewicht seiner Rüstung hinuntersenkte, ertrank. Doch nun weiter in meiner Geschichte:
Nachdem ich einige Fragen zur Zufriedenheit beantwortet hatte, wurde ich wieder aufgerufen. Der Kapitän, der mich bisher über die Schiffahrtskunde befragte, war sehr strenge in seinem Benehmen gegen mich, aber gleichwohl durchaus nicht unhöflich. Während er mich prüfte, hatten sich die andern zwei, welchen nur das Examen im Flottendienste oblag, nicht eingemengt. Der Kapitän, der mich jetzt aufrief, sprach in einem sehr barschen Tone und erschreckte mich dadurch im höchsten Grade. Bleich und zitternd stand ich auf, denn mir ahnte nichts Gutes bei diesem Anfang. Verschiedene Fragen über den Flottendienst wurden an mich gerichtet, die ich ohne Zweifel sehr lahm beantwortete, denn ich kann mich selbst nicht mehr entsinnen, was ich sagte.
»Ich dachte es mir so«, sagte der Kapitän; »ich habe das gleich aus Ihrer äußern Erscheinung geschlossen. Ein Offizier, der so nachlässig in seinem Anzuge ist, daß er nicht einmal ein anständiges Kleid anzieht, wenn er zu seiner Prüfung geht, zeigt in der Regel einen müßigen Burschen an und keinen Seemann. Man sollte glauben, Sie hätten Ihre ganze Zeit auf einem Kutter oder einer Zehnkanonen-Brigg gedient, anstatt auf schönen Fregatten. Kommen Sie, Sir! ich will Ihnen noch eine Möglichkeit geben.« Diese Worte des Kapitäns thaten mir so weh, daß ich meiner Gefühle mich nicht bemächtigen konnte; mit bebender Stimme entgegnen ich ihm: »ich hätte keine Zeit gehabt, eine neue Uniform zu bestellen« – und dann brach ich in Thränen aus.
»In der That, Burrows, Sie sind denn doch wohl etwas zu hart«, sagte der dritte Kapitän, »der junge Mensch ist ganz abgeängstigt, lassen Sie ihn niedersetzen und sich ein wenig sammeln. Setzen Sie sich, Herr Simpel, und wir wollen dann aufs neue beginnen.«
Ich setzte mich hin, suchte meinen Gram zu bemeistern und meine verstörten Sinne zu sammeln. Die Kapitäne gingen indessen die Logbücher durch, um sich die Zeit zu vertreiben; der eine jedoch las die Plymouth-Zeitung, die einige Minuten vorher an Bord gebracht und in die Kajütte geschickt worden war. »Heh, was ist das? Sehen Sie doch, Burrows – Keats – sehen Sie her«, und dabei deutete er auf einen Artikel der Zeitung. »Herr Simpel, darf ich fragen, waren Sie es, der den Soldaten rettete, welcher gestern von der Werft hinabsprang?«
»Ja, Sir«, antwortete ich, »und das ist auch der Grund, warum meine Uniform so schlecht aussieht; dabei habe ich sie verdorben, und es blieb mir keine Zeit, eine andere zu bestellen; doch wollte ich nicht gern sagen, auf welche Art ich sie beschädigt habe.« Nun bemerkte ich einen Wechsel in den Gesichtszügen aller drei Herren, und das gab mir Mut; auch war ich jetzt, nachdem ich meinen Gefühlen Luft gemacht hatte, durchaus nicht mehr gedrückt oder geängstigt.
»Kommen Sie, Herr Simpel, stehen Sie wieder auf«, sagte der Kapitän freundlich, »das heißt, wenn Sie sich gehörig gesammelt fühlen; wo nicht, so wollen wir noch ein wenig länger warten. Seien Sie nicht erschrocken; wir wünschen, daß Sie bestehen möchten.«
Ich fürchtete mich aber gar nicht mehr, stand sofort auf, und beantwortete jede Frage befriedigend. Als sie dies bemerkten, legten sie mir einige schwerere vor.
»Ganz gut, in der That, Herr Simpel; jetzt will ich Sie nur noch etwas fragen; es kommt selten im Dienst vor, und vielleicht sind Sie nicht imstande, es zu beantworten. Wissen Sie, wie ein Schiff geklubholt wird?«
»Ja, Sir«, antwortete ich, und da ich das Manöver zur Zeit, als ich unter dem armen Kapitän Savage diente, wie sich der Leser erinnern wird, angesehen hatte, setzte ich sofort auseinander, wie es geschehen müsse.
»Das ist hinreichend, Herr Simpel; ich will Ihnen nun keine weiteren Fragen mehr vorlegen. Ich glaubte anfangs, Sie seien ein nachlässiger Offizier und kein Seemann, aber ich finde jetzt, daß Sie ein guter Seemann und ein tüchtiger Offizier sind. Wünschen Sie ihn noch weiter zu befragen?« fuhr er, sich gegen die zwei andern Kapitäne wendend, fort.
Diese verneinten; mein Prüfungszeugnis wurde ausgefertigt und die Kapitäne erwiesen mir die Ehre, mit dem Wunsche baldiger Beförderung, mir die Hand zu geben. So endete diese für meine schwachen Nerven so schwere Prüfung; und als ich aus der Kajütte heraufkam, würde niemand, der mein freudestrahlendes Gesicht ansah, geglaubt haben, daß ich da unten in so großer Angst gewesen sei.