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II

Indrek trat ein. Er wurde durch den Flur ins Vorzimmer gewiesen, das eine von der Decke niederhängende Lampe schwach erleuchtete. Von hier führten zwei Türen weiter. Hinter der einen hörte man lautes Sprechen und Gelächter, hinter der anderen, halb offenstehenden Tür erblickte man einen großen, mit schwarzem Wachstuch bezogenen Tisch, auf welchem eine Lampe mit weißer Kuppel brannte. Größere und kleinere Knaben drängten sich um den Tisch. Jemand sperrte die Tür völlig auf und betrachtete Indrek, dessen Aufmerksamkeit indessen völlig von einem Schwan in Anspruch genommen wurde, der mit ausgestrecktem Halse und ausgebreiteten Flügeln unter der Decke hing, als schwebe er im Fluge dahin. »Wie ein Friedensengel«, dachte Indrek. Aber er hatte nicht die Möglichkeit, sich in diesen Gedanken zu vertiefen, denn derselbe Knabe, der ihm die Türe geöffnet hatte, hatte sich vor ihm aufgepflanzt und sagte nun in entschuldigendem, beinahe schuldbewußtem Tone:

»Ich bitte um Ihren Namen.«

Nachdem Indrek seinen Namen genannt hatte, bat der Knabe ihn Platz zu nehmen und eilte durch den Flur eine unsichtbare Treppe empor, wie sich aus dem Klang seiner Schritte schließen ließ. Indrek versuchte vergeblich, seine Gedanken zu sammeln. Gar zu bald war der Knabe wieder da und sagte:

»Herr Maurus bittet Sie nach oben«, worauf er hinzufügte: »die Treppe nach oben, die Tür links.«

Die Mütze in der Hand, in seinem langen, grauen, von der Mutter gewebten Tuchmantel, dessen Schöße die Füße beim Steigen behinderten, klomm Indrek die schmale Holztreppe empor. Es war alles so ganz anders, als er es sich, draußen vor dem Hause stehend, ausgemalt. Gar zu gewöhnlich, zu alltäglich! Nur eins erregte sein Interesse, und das in so hohem Grade, daß er mitten auf der Treppe haltmachte. Und er hätte wohl noch lange hier gestanden, wenn er nicht von oben das Öffnen einer Tür und das Schlurfen von Hausschuhen gehört hätte. Ja, sonst hätte er hier noch lange stehen und schnüffeln können – so süß duftete es hier im Treppenraum. Nur einmal im Leben hatte Indrek etwas Ähnliches gespürt, einen kurzen Augenblick nur. Damals hatte er in der Kirche gestanden, am Ende der Bank; drei Frauen waren an ihm vorübergegangen, ganz in Schwarz, verschleiert, eine von ihnen offensichtlich alt, die beiden anderen jung, denn sie führten die eine. Sie gingen zum Altar und knieten dort angesichts der ganzen Gemeinde auf den großen Kalksteinquadern nieder. »Die Pastorin trauert um ihren einzigen Sohn«, hörte Indrek neben sich flüstern. Noch heute kann er sich gut entsinnen, wie eigenartig diese Worte ihn damals berührten. Hat denn die Trauer der Pastorin solch einen Duft? hatte er vor sich hin phantasiert. Wieviel Trauer und Tränen hatte er in seinem Leben schon gesehen, aber solch einen Duft hatte er noch nie gespürt, niemals noch. So duften nur die Tränen der Pastorin, wenn sie unter den Augen der ganzen Gemeinde um ihren einzigen Sohn trauert; die Tränen der Pastorin und die Holztreppe der Lehranstalt erster Kategorie des Herrn Maurus – nur diese beiden Dinge auf der ganzen Welt.

Oben an der Treppe erwartete Indrek ein alter Herr in Pantoffeln, mit grauem Bart und buschigen Augenbrauen, der einen Schlafrock von unbestimmter Farbe mit der Linken über dem Bauch zusammenhielt, während er die Rechte Indrek entgegenstreckte.

»Guten Tag, guten Tag«, sagte er mit schmelzender Stimme, während er den Jungen mit mattem Händedruck über die Schwelle in ein kleines Zimmer zog. Als der Alte mit der Linken die Tür schließen wollte, während seine Rechte noch immer Indreks Hand umschlossen hielt, glitten die übereinandergeschlagenen Schöße seines Schlafrocks auseinander, so daß unter ihnen die Unterwäsche zum Vorschein kam.

»Wie war doch gleich Ihr Name?« fragte der alte Herr und fügte hinzu: »Ich hörte ihn wohl, aber solch ein alter Kopf kann ja nichts mehr behalten.« Und als Indrek seinen Namen genannt hatte, sagte er: »Ein schöner Name, ein sehr schöner Name. Aber ins Buch schreiben wir Heinrich, das ist noch schöner. Setzen Sie sich«, sagte er dann und schlug ein dickes Buch auf. Sich selbst niedersetzend, vergaß er seine Schlafrockschöße völlig, so daß diese offen sehen ließen, was unter ihnen zu sehen war. Sogar das Hemd stand offen und enthüllte die haarige Brust.

»Welche Schule haben Sie besucht?« fragte der Alte, und als Indrek seinen Bildungsgang dargelegt hatte, fragte er weiter: »Deutsch sprechen Sie?« worauf Indrek mit »nein« antworten wollte, was aber wie »neun« herauskam. Das genügte augenscheinlich. Indrek erwartete, daß der alte Herr auch seine russischen Kenntnisse prüfen würde, aber vergeblich. So hielt er es denn für angebracht, von sich aus zu bemerken:

»Russisch verstehe ich mehr, das habe ich länger gelernt.«

Aber das schien den alten Herrn nicht im geringsten zu interessieren. Er fragte vielmehr:

»Ihr Vater hat einen Hof?«

»Ja«, versetzte Indrek.

»Einen großen Hof?«

»Groß schon, aber schlecht, er bringt nichts ein«, erklärte Indrek, dem die Worte des Droschkenkutschers einfielen: »Geben Sie acht auf Ihren Beutel«, und erst jetzt wurde er sich richtig dessen bewußt, daß es ja Herr Maurus sei, der ihm da gegenübersaß.

»Wieviel Geld hat Ihr Vater Ihnen mitgegeben?« fragte dieser.

»Zwanzig Rubel, mehr konnte er nicht geben.«

»Das ist wenig genug, denn Sie sind doch schon beinahe erwachsen.«

»Mein Taufvater hat mir auch etwas gegeben, und selbst habe ich auch ein bißchen«, erklärte Indrek.

»Wieviel?«

»Fünfzig.«

»Also selbst haben Sie fünfzig, vom Vater zwanzig, und wieviel vom Taufvater?«

»Nein, alles zusammen fünfzig«, berichtigte Indrek.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, streckte der Direktor die Hand aus, und Indrek blieb nichts anders übrig, als den Beutel zu ziehen und das Geld zusammenzusuchen.

Der Direktor überzählte die Summe. Dann sagte er:

»Richtig, fünfzig. Mehr haben Sie also nicht. Mehr hat der Vater Ihnen nicht gegeben?«

»Nein, mehr habe ich nicht.«

»Gar nichts mehr?«

»Nein, gar nichts«, beteuerte Indrek, obgleich das gelogen war, denn ein paar Rubel hatte er beiseitegelegt, um selbst nicht ganz ohne Geld zu bleiben.

»Ich frage das in Ihrem eigenen Interesse, denn es ist nicht gut, wenn ein junger Mensch in der Stadt über Geld verfügt. Sind Sie früher schon mal in der Stadt gewesen? Nein? Dann danken Sie Gott, denn dann wissen Sie nicht, was man in der Stadt mit Geld alles anfangen kann. Die Versuchung bleibt Ihnen erspart. Das ist die Hauptsache. Aber im übrigen ... Ja! ... Kommen Sie nun her« – er zog Indrek mit der Linken zu sich heran – »und sehen Sie mit eigenen Augen, was ich hier hinschreibe. Sehen Sie: Für Wohnung und Kost einschließlich Schulgeld fünfzig Rubel eingezahlt.«

Der Direktor ließ nicht nach, bevor Indrek diese Worte aus dem Buche mit lauter Stimme vorgelesen hatte. Dann kritzelte er etwas in deutscher Sprache hinzu, zu dessen Verständnis Indreks deutsche Kenntnisse nicht ausreichten. Schließlich setzte er noch das Datum darunter. Dann nahm er das Geld vom Tisch, um es in eine Schublade zu tun. Aber dann blieb er plötzlich in Gedanken stehen, nahm schließlich einen Rubelschein und schob ihn Indrek in die Hand.

»Stecken Sie das in die Tasche, etwas Geld muß solch ein langer Bursche wie Sie immerhin haben. Wie alt sind Sie? Achtzehn? Ein schönes Alter, ein schönes Alter, das bringt Glück. Ich bin schon über sechzig.«

Indrek zögerte, das Geld in die Tasche zu schieben, denn nun begann ihm das Gewissen zu schlagen, daß er vorhin gelogen hatte.

»Für meinen eigenen Bedarf habe ich ein wenig«, sagte er.

»Was?!« rief der Direktor. »Sie haben noch Geld? Wieviel? Wo?«

»In meiner Kiste«, versetzte Indrek.

»In der Kiste? Und die Kiste? Im Hotel? Sie sind wohl nicht bei Troste! Geld im Hotel in der Kiste! Ist das noch Ihr Geld? Nein, das ist nicht mehr Ihr Geld, das gehört dem, der als erster an die Kiste kommt.«

»Es sind ja nur wenige Rubel«, sagte Indrek beruhigend.

»Und wenn es auch nur wenige Kopeken wären!« rief der Direktor. »Schreiben Sie sich hinter die Ohren, was Herr Maurus sagt, und der weiß, was er sagt, denn seine Haare sind schon wegen Geld grau geworden, wegen Geld und anderer Sachen. Und er sagt Ihnen: Halten Sie nie Geld in der Kiste, weder hier noch im Hotel, sondern bringen Sie es Herrn Maurus zur Aufbewahrung, meinetwegen mitten in der Nacht, denn Herr Maurus schläft nie, wenn man ihm Geld bringt. Geld muß im Buch verzeichnet werden, erst dann ist es sicher. Der Mensch stirbt, das Buch nicht. Der Mensch aufersteht wohl am Jüngsten Tage, aber was tut er dann noch mit Geld. Dann gibt es andere Dinge zu tun. Glauben Sie an den Jüngsten Tag? Schon gut, schon gut, das nur so nebenbei. Vor dem Jüngsten Tage ist das nicht von Bedeutung. Aber Geld, das ist von Bedeutung, von großer Bedeutung. Wieviel haben Sie in der Kiste? Zwei Rubel oder etwas mehr? Vielleicht gar drei oder vier? Sie werden doch nicht so hirnverbrannt gewesen sein, fünf oder gar zehn Rubel in der Kiste zu lassen? Sprechen Sie die Wahrheit! Denn in Herrn Maurus Hause müssen alle die Wahrheit sprechen, solch ein Haus ist das. Der Vater hat Ihnen natürlich mehr gegeben als zwanzig, weit mehr, wenn er einen großen Hof hat. Nicht wahr?«

»Nein, Herr Direktor, mein Vater hat mir nur zwanzig gegeben, mehr konnte er dieses Mal nicht geben. Vielleicht daß es später möglich sein wird.«

»Später natürlich, bei diesen fünfzig kann es doch natürlich nicht bleiben. Aber Sie hatten vielleicht selbst noch mehr Geld? Wieviel hatten Sie selbst eigentlich? Dessen können Sie sich nicht entsinnen? Schön. Aber wie konnten Sie das Geld nur in der Kiste lassen? Vielleicht haben Sie auch im Beutel noch etwas für sich selbst? Haben Sie noch was im Beutel oder nicht? Eine Kleinigkeit vielleicht?«

Er streckte die Hand aus, als heische er den Beutel, den Indrek denn auch hervorzog, um vor den Augen des Direktors seine sämtlichen Abteilungen zu öffnen, zum Beweise, daß sie leer seien.

»Schon gut, schon gut«, sagte der Direktor, den leeren Beutel betrachtend, »Sie haben ja solch ein ehrliches Gesicht. Auf dem Lande, ja, da gibt es noch Ehrlichkeit, die Zukunft unseres Volkes liegt auf dem Lande. Wenn man alle Menschen aufs Land schicken könnte, dann ...«

Er ließ ungesagt, was dann sein würde. Anstatt dessen zog er den Papierrubel aus Indreks Fingern, faltete ihn zusammen und schob ihn in den leeren Beutel, den der Junge immer noch in der Hand hielt.

»Das ist dafür, daß Sie ehrlich sind, ehrlicher Eltern Kind. Herr Maurus liebt ehrliche Menschen, die die Wahrheit sprechen und nicht lügen. Warten Sie, warten Sie!« sagte er dann gedankenvoll. Und als hätte er Indrek vergessen, schlug er seine Schlafrockschöße zusammen und eilte aus der Tür. Auf der Schwelle wandte er sich um und forderte Indrek auf mitzukommen. Aber als dieser sich vom Stuhle erheben wollte, hieß ihn der Direktor durch eine Bewegung der Rechten wieder niedersitzen. »Bleiben Sie nur sitzen! Einen Augenblick!« sagte er. Und als Indrek immer noch unschlüssig dastand, rief er ungeduldig: »Aber so setzen Sie sich doch!« und fügte, hinter der Tür verschwindend, eilig hinzu: »Einen Augenblick.« Aber kaum hatte Indrek, allein geblieben, seine Augen ein wenig im Zimmer herumwandern lassen, wobei er hinter einem einfachen Vorhang ein aufgedecktes Bett entdeckte, das den Eindruck machte, als habe es erst eben jemand verlassen, als sich die Tür auch schon wieder unhörbar öffnete und der Direktor den Kopf ins Zimmer steckte.

»Kommen Sie doch besser mit«, sagte er zu Indrek.

So stiegen sie denn beide die schmale Holztreppe hinab, der Direktor in seinen Pantoffeln leise voran, vom Schlafrock bauschig umflattert, Indrek mit seinen harten Stiefeln laut polternd hinterdrein. Im Vorzimmer pochte der Direktor an die Türe, hinter welcher vorhin Sprechen und Gelächter zu hören gewesen war, und rief: »Herr Koovi!« Als er keine Antwort erhielt, versuchte er die Tür zu öffnen, doch erwies sich diese als verschlossen. Dann eilte er durch das große Zimmer, unter dem schwebenden Schwan hindurch, Indrek hinter sich herziehend, nach der gegenüberliegenden Tür, die indessen ebenfalls verschlossen war. Gegenwärtig war es überall leer und still. Nur die Lampe brannte nach wie vor auf dem Tisch im großen Zimmer, und der weiße Schwan breitete unter der Decke seine Schwingen als verstaubter Friedensengel aus. Eine Ecke des Zimmers war durch einen Vorhang aus geblümtem, dunkelrotem Kretonne abgeteilt, und als der Direktor, offensichtlich unschlüssig, erregt im Zimmer auf und nieder rannte, versetzten die flatternden Schöße seines Schlafrocks auch den geblümten Kretonne in Schwingungen, hinter dem eine Doppelreihe aufeinandergesetzter Betten sichtbar wurde. Auf dem großen Schrank, an dem das andere Ende des den Vorhang tragenden Drahts befestigt war, standen nebeneinander zwei Gipsbüsten.

Die Erregung des Direktors schien ständig zu wachsen. »Kopfschneider, Kopfschneider!« rief er mehrfach in immer heftigerem Tone. Als keine Antwort erfolgte und der Gerufene auch nicht erschien, zog der Direktor Indrek wiederum nach sich und öffnete die dritte Tür des Zimmers, die in einen kleinen, dunklen Raum führte. Im Scheine der durch die geöffnete Tür in diesen Raum fallenden Beleuchtung erblickte Indrek auch hier eine Reihe aufeinandergesetzter Betten.

»Mir auf dem Fuße folgen!« befahl der Direktor Indrek, der ein wenig zurückgeblieben war. »Sonst schlagen Sie sich im Dunklen noch ein Auge aus dem Kopf, und Herr Maurus muß zahlen. Darum immer auf dem Fuße folgen, immer auf dem Fuße, wenn Herr Maurus vorangeht!«

Der Direktor öffnete eine weitere Tür. Auch hinter dieser gähnte Dunkelheit, Wärme und Dunkelheit. Aber von irgendwoher schien in diesen Raum doch ein wenig Licht zu fallen. Wie sich alsbald herausstellte, drang dieses Licht durch die trübe Glasscheibe einer Tür, die der Direktor nun öffnete.

»Vorsicht!« befahl er. »Sonst fallen Sie! Die Schwelle und dann eine Steindiele. Ein junger Mensch muß immer Vorsicht üben! Immer hübsch vorsichtig! sagt Herr Maurus. Er selbst ist wohl schon alt, aber vorsichtig ist auch er. Auch Alte müssen vorsichtig sein. Alte und Junge!«

Plötzlich machte er halt.

»Mein Pantoffel! Ich habe meinen Pantoffel verloren!« jammerte er.

Beide beugten sich nieder, um den verlorenen Pantoffel zu suchen, aber er wollte sich nicht finden lassen.

»Heben Sie Ihre Füße auf, vielleicht sind Sie auf den Pantoffel getreten«, sagte der Direktor.

Indrek gehorchte, und siehe da, unter seinem rechten Fuß kam tatsächlich der weiche Hausschuh des Direktors zum Vorschein.

»Sehen Sie nun, wie vorsichtig man sein muß«, sagte der Direktor. »Selbst wenn Sie vorsichtig sind, treten Sie auf Herrn Maurus' Pantoffel, was würde erst sein, wenn Sie nicht vorsichtig wären. Was würde dann von meinen alten Füßen übrigbleiben.«

So belehrte Herr Maurus väterlich seinen neuen Zögling, während er aus dem düsteren Korridor in ein helleres, hohes Zimmer trat, das eher einem Schauer oder einer Scheune glich als einem Wohnzimmer. Von hier führten Türen nach rechts, nach links und auch geradeaus. Aber Herr Maurus benutzte keine dieser Türen, eilte vielmehr auf eine Holztreppe zu, die in den zweiten Stock führte. Oben am Treppenabsatz fanden sich wieder drei Türen, die nach rechts, nach links und geradeaus führten. Diese zahllosen Türen verwirrten Indrek vollständig. Weder im alten noch im neuen Gemeindehause hatten sich so viele Türen befunden. Auf den ersten Blick wollte eine solche Menge von Türen völlig sinnlos erscheinen. Der Direktor stieß die rechts befindliche Türe auf, die kreischte und ächzte wie die Holzachsen eines ungeschmierten Wagens. Erst später kam Indrek hinter das Geheimnis dieses Mißtones: die Tür wurde automatisch durch einen an einer Schnur befestigten Stein geschlossen; war das Rädchen, über welches die Schnur lief, ungeschmiert, so erhob sich eben jenes jammervolle Kreischen.

Im Raum, den sie nun betraten, standen zwei lange Tische, an welchen eine Anzahl kleiner Jungen, aber auch erwachsener Männer ihr Abendbrot verzehrten.

»Guten Abend!« sagte der Direktor auf russisch und fügte in deutscher Sprache hinzu: »Mahlzeit!« Er drückte das Kinn auf die Brust und ließ seine Augen über die Brille hinweg im Zimmer herumgehen. Plötzlich stürmte er an das untere Ende des ersten Tisches und schrie in gebrochenem Russisch (was sogar Indrek bemerkte):

»Köpfschneider! Sie Schinder! Warum ist niemand unten? Warum sitzen Sie hier? Herr Maurus hat doch tausendmal gesagt: unten muß immer jemand sein. Jemand kommt, will Herrn Maurus Geld bringen, weil er anfangen will zu lernen, in die Universität will, um zu studieren, – und Sie sind nicht unten! Niemand ist unten. Das Zimmer unten ist leer. War das Zimmer unten leer?« wandte der Direktor sich plötzlich an Indrek.

»Jawohl«, erwiderte Indrek, während aller Augen sich auf ihn richteten und die Münder sich zu einem Lachen verzogen, dessen Ursache Indrek nicht recht erfassen konnte.

»Aber ich war doch unten, als der kam«, sagte ein Junge, auf Indrek deutend, zum Direktor.

»Sie waren da, aber eben sind Sie nicht mehr da. Was dann, wenn nun gerade eben jemand kommt und schellt? Hören Sie das bis hierher? Kommt und schellt – einmal, zweimal, dreimal, zehnmal. Nun, sagen Sie doch selbst, wie lange soll ein Mensch schellen, wenn er Herrn Maurus Geld bringen will und niemand ihm öffnet? Er wird schellen und immer wieder schellen und schließlich fortgehen, und Herr Maurus ist um sein Geld gebracht. Denn wer Geld bringen will, der bringt es nie zum zweiten Male. Sie da«, rief der Direktor Indrek an, »kommen Sie mal näher, kommen Sie her!«

Das war einer der peinlichsten Momente in Indreks Leben, als er mit seinen harten, schweren Stiefeln – ihm schienen sie entsetzlich hart und schwer – klomps, klomps über das Zimmer schritt, von den spöttischen Blicken der Anwesenden begleitet.

»Sagen Sie diesem Letten hier – denn das ist ein Lette –, sagen Sie ihm, ob Sie zu Herrn Maurus zurückgekommen wären, ihm Geld bringen, wenn Sie nicht hereingekommen wären. Sagen Sie es ihm auf russisch, denn der Arme versteht kein Estnisch. Zwei Jahre ist er schon hier, aber er versteht es noch immer nicht. Sagen Sie ihm, wären Sie wiedergekommen oder nicht?«

»Wahrscheinlich wohl«, sagte Indrek.

»Wie?« rief der Direktor heftig, während das Schmunzeln auf den Gesichtern der Anwesenden sich immer weiter ausbreitete, was den Direktor zur Bemerkung in deutscher Sprache veranlaßte: »Solch eine Unschuld vom Lande!«, worauf er sich aufs neue im Estnischen Indrek zuwandte: »Sie sagen, Sie wären gekommen, wenn Sie einmal geschellt hätten – es wird nicht geöffnet, das zweitemal geschellt – es wird nicht geöffnet, das drittemal geschellt – es wird nicht geöffnet, das zehntemal geschellt – es wird nicht geöffnet. Wie wären Sie denn gekommen, wenn nicht geöffnet wird? Nun sagen Sie mir doch, wären Sie gekommen, wenn nicht geöffnet worden wäre?«

»Dann wohl nicht«, lautete nun Indreks Antwort.

»Nun, dann sagen Sie das diesem Letten auf russisch: Nein, ich wäre kein zweitesmal gekommen, Geld bringen«, verlangte der Direktor. Und als Indrek das getan hatte, sagte Herr Maurus zu Kopfschneider: »Verstehen Sie, Herr Maurus hat immer recht, und darum darf das Zimmer unten nie leer sein. Während die anderen essen, haben Sie unten zu sein; kommt jemand anderes herunter, gehen Sie essen.«

Aber als Kopfschneider seine Mahlzeit unterbrechen und nach unten gehen wollte, drückte der Direktor ihn auf seinen Platz zurück und sagte:

»Bleiben Sie nur sitzen! Nicht gegen Herrn Maurus' Befehle handeln. Hat Herr Maurus etwa gesagt: Stehen Sie auf und gehen Sie hinunter? Nein, das hat Herr Maurus nicht gesagt. Also, weiter essen und nicht aufstehen! Nicht die Ordnung verletzen! Denn in Herrn Maurus' Hause muß Ordnung herrschen, heilige Ordnung. Immer unten sein, wenn jemand schellt, immer die Tür öffnen, wenn jemand kommt, Geld bringen, Herrn Maurus Geld bringen.«

Plötzlich unterbrach der Direktor seine Belehrung und stürmte mit dem Rufe: »Herr Koovi, Herr Koovi, hören Sie!« an Indrek vorbei zur Tür. Aber Herr Koovi hatte sich vom Tische erhoben und war hinter der Tür verschwunden, wohin Herr Maurus ihm nacheilte, so daß Indrek ratlos allein zurückblieb, ohne zu wissen, was tun. Endlich faßte er sich ein Herz und ging dem Direktor den Weg, den sie beide gekommen, nach, bis er wieder unten im großen Zimmer angekommen war.

»Wo sind Ihre Sachen?« fragte der Direktor, als er ihn erblickte. Kaum hatte er diese Frage beantworten können, als der Direktor auch schon aufs neue nach dem Speisezimmer stürmte, aus der Tür zurückrufend: »Einen Augenblick!« Tatsächlich erschien er auch im nächsten Augenblick zusammen mit Kopfschneider, der nun seine Mahlzeit doch noch hatte unterbrechen müssen.

»Was für Sachen haben Sie?« fragte der Direktor Indrek. »Eine Kiste? Ist sie groß? Kann man sie zu zweien tragen? Ja? Sehr gut! Dann erspart man das Droschkengeld. Kopfschneider, setzen Sie Ihre Mütze auf und helfen Sie die Kiste herübertragen. Schnell! Herr Maurus hat keine Zeit, denn er ist alt. Alte haben nie Zeit, der Tod steht vor ihrer Tür. Darum schnell!«

Die letzten Worte rief er den Jungen nach. Aber kaum waren die auf der Straße wenige Schritte gegangen, als hinter ihnen die Türglocke schellte und des Direktors Stimme sich vernehmen ließ:

»Kopfschneider, Kopfschneider!« rief er.

Die Jungen kehrten um.

»Haben Sie Geld, um dort zu bezahlen?« fragte der Direktor. »Warum fragen Sie Herrn Maurus nicht nach Geld, wenn Sie ins Hotel gehen? Immer fragen, immer fragen. Hier ist ein Rubel. Mehr zahlen Sie nicht. Sagen Sie, Herr Maurus hat verboten, mehr zu zahlen. Das ist ohnehin zuviel. Den Rest bringen Sie mir zurück. Dingen Sie! Der Mensch muß immer dingen. Und nun schnell! Laufen Sie! Sie können doch laufen? Der Lette und der Este laufen um die Wette. Herr Koovi und Herr Timusk warten.«

Die Jungen setzten sich tatsächlich in Trab, und so hörten sie wohl kaum mehr die letzten Worte des Direktors, während sie durch den dunklen Herbstabend dahinstürmten, den die Straßenlaternen nur matt erhellten.

Als die Jungen mit der Kiste zurückgekehrt waren, schickte der Direktor Indrek in das Zimmer, aus welchem er bei seiner Ankunft Sprechen und Lachen gehört hatte. An der Tür rief er ihm etwas auf deutsch nach, ohne das Zimmer selbst zu betreten, als wäre ihm dies verboten.

Am Tisch dieses Zimmers saßen zwei Herren. Der eine mit kurz geschorenem Haar, glatt rasiertem, pockennarbigem Gesicht, von kräftigem Körperbau, mit scheuem Blick; der andere mit gelbem Schnurrbart, roten Lippen, sanften grauen Augen, über den Kopf glatt gestrichenen, ein wenig gelockten Haaren. Der erste in Grau, der andere in Schwarz. Jeder saß an einem Ende des Tisches, der um nichts besser war als der Tisch im Gemeindehause, an dem Indrek geschrieben hatte. Und die im Zimmer sich findenden Stühle waren sogar noch kläglicher als die Stühle im Gemeindehause. Ein an der Wand stehendes einfaches Holzbett war mit einer hausgewebten, wollenen, gestreiften Decke bedeckt. Das einzige Besondere in diesem Zimmer war ein bis an die Decke hinaufreichendes, mit Büchern vollgestopftes Regal, das nahezu eine ganze Wand einnahm. Auf dieses Regal richteten sich Indreks Blicke mit besonderem Interesse, doch hatte er nicht viel Zeit, sich in diesen Anblick zu vertiefen, denn das Examen nahm alsbald seinen Anfang. Nachdem er etwa eine halbe Stunde geprüft worden war, sagte der Herr in Grau auf estnisch:

»Im Russischen und Rechnen kommen Sie in die vierte, aber Geschichte und namentlich Latein werden Sie einiges nachholen müssen. Wenn Sie gehörig arbeiten, auch die Weihnachtsferien hindurch, werden Sie den anderen im nächsten Semester vielleicht nachkommen. Sie sind doch schon ein großer Mensch, nehmen Sie sich ordentlich zusammen! Stehen Sie des Morgens früher auf, des Abends wird man schlafen geschickt. Haben Sie Geld, um Stunden zu nehmen? Nein? Nun, dann versuchen Sie es auf eigene Faust, fragen Sie die anderen, auch mich gelegentlich. Aber nicht beständig, denn ich habe keine Zeit, sondern nur dann und wann.«

Nun erschienen Indrek die Augen auch dieses Herrn plötzlich ebenso sanft wie die des anderen, und mit einem gewissen Gefühl der Freudigkeit verließ er das Zimmer.

Bald erschien auch der Direktor, und nachdem er für kurze Zeit im Zimmer der Examinatoren verschwunden war, kam er wieder zu Indrek heraus und sagte:

»Herr Timusk und Herr Koovi haben Sie in die vierte Klasse gesetzt, aber eigentlich gehören Sie in die zweite oder dritte. Sie sind schon ein großer Mann, versuchen Sie den Kleinen nachzukommen. Sonst müssen Sie nach Weihnachten in die zweite. Da habe ich einen noch längeren als Sie. Sonst gehen Sie zurück. Bei Herrn Maurus gehen alle zurück, die nicht lernen oder hinter den anderen zurückbleiben. Wenn jemand zu Herrn Maurus kommt, dann soll er mit Begeisterung lernen, wie ein Verrückter. Denn wie wird auf dem Lande gearbeitet? Wie wird Heu gemäht? Wie wird Korn gedroschen? Daß der Schweiß in Strömen fließt! So muß man arbeiten, wenn man zu Herrn Maurus kommt und schon lang und groß ist. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, sagte Indrek seltsam belebt, denn ihn erfüllte aus irgendeinem Grunde ein übermenschliches Glücksgefühl.

»Ich verstehe, Herr Maurus, müssen Sie antworten«, belehrte ihn der Direktor. »Ein junger Mensch muß immer höflich sein, immer höflich. Darum immer – Herr Direktor, Herr Maurus, Herr Lehrer. Aber halt, halt! Wohin legen wir Sie schlafen? Wo finden wir Raum für Sie? Ja, höflich, immer höflich! Höflichkeit und Latein, die herrschen in Herrn Maurus' Hause. Latein! Die Römer liebten Raum, viel Raum. Herr Maurus lehrt wohl Latein, aber soviel Raum wie die Römer hat er nicht. Herr Ollino, Herr Ollino! Wo finden wir Raum für diesen Römer? Wo könnte er seine Kiste hinstellen?«

Auf die Rufe des Direktors öffnete sich die Tür des großen Zimmers, die vorhin verschlossen gewesen war, und es erschien ein mittelgroßer, stämmiger, hochblonder Mann mit rundem Kopf. Seine großen, ein wenig hervortretenden Augen waren nahezu weiß und hätten Indrek an die Augen gewisser Pferde erinnert, wenn ihr Ausdruck nicht geradezu erstaunlich gleichgültig, ja direkt starr, eisig gewesen wäre.

»Oben ist noch Raum«, sagte Herr Ollino, ohne daß sein Blick irgend etwas ausgedrückt hätte.

»Rufen Sie Jürka«, befahl der Direktor dem Letten.

Und als der Gerufene erschien, mußte er Indreks Kiste auf den Rücken nehmen, und dann ging es nach oben, an der Tür des Speisezimmers vorbei.

»Also nach Sibirien«, sagte Jürka, Indreks Kiste auf dem Buckel die Treppe emporklimmend, »denn die besseren Stellen sind schon alle besetzt. Die besseren Stellen sind für die, die besser zahlen. Im Winter können einem da die Zähne klappern«, ächzte Jürka, die letzte steile Treppe emporkletternd, während Indrek ihn von hinten ein wenig zu unterstützen bestrebt war. So kamen sie endlich durch eine Luke auf einen mit Brettern ausgeschlagenen Bodenraum hinaus, in dem Außentemperatur herrschte.

»Auf dem Lande haben Sie doch wohl auf dem Heuboden geschlafen?« fragte Herr Ollino, der auch nach Sibirien mitgekommen war. Und als Indrek diese Frage bejahte, sagte er in völlig gleichgültigem Tone: »Na, sehen Sie, dann kommen Sie ja gleichsam nach Hause. Frische Luft und Stille, kein Lärm oder Unruhe, denn passieren tut hier niemand: weiter nach oben geht es nicht mehr.«

»Der Schornsteinfeger klettert noch höher«, meinte Indrek.

»Der geht doch nicht auf den Schornstein schlafen«, versetzte Herr Ollino und fuhr dann fort: »Im Winter vielleicht ein wenig frisch, aber desto leichter steht es sich des Morgens auf, und man kommt mit klarem Kopf an die Arbeit. Ich habe meinerzeit auf dem Lande im Stroh einer Kartoffelfeime geschlafen, ohne daß es mir was geschadet hätte. Nur in der einen Hüfte sticht es zuweilen. Hier ist noch niemand erfroren.«


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