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IV

Der Bücherskandal machte Indrek unter seinen Kameraden bekannt. Man wurde auf ihn aufmerksam und begann mit ihm zu plaudern, ihn aufzusuchen und heranzuziehen, und so lebte er sich denn in der neuen Umgebung allgemach ein.

Unter den anderen näherte sich ihm auch Tigapuu, eines jener Zwitterwesen, die hier weder richtige Schüler noch auch Erzieher waren, vielmehr beides zusammen. Vormittags nahmen diese Leute meistens mit den anderen am Unterricht teil, nachmittags aber gingen sie mit den kleineren Knaben spazieren oder beaufsichtigten sie bei den Schularbeiten.

Tigapuu mochte etwa ebenso alt sein wie Indrek, aber die Schule besuchte er schon seit Jahren. Gegenwärtig saß er in der fünften, eine Klasse höher als Indrek. Er war von mittlerem, stämmigem Wuchs, und es hieß, er fürchte nichts und niemand, nicht einmal den Alten, und bei Prügeleien käme keiner gegen ihn auf. Die Bekanntschaft mit solch einem Manne erschien Indrek natürlich ehrenvoll.

»Mit solch einem Grünschnabel gehen Sie Geschäfte machen, da müssen Sie ja hereinfallen«, sagte er Indrek in bezug auf Lible. »Wären Sie lieber zu mir gekommen, ich hätte Ihnen die Bücher halb so billig besorgt, und für die andere Hälfte des Geldes hätten wir uns einen guten Tag gemacht. Nahezu umsonst hätten wir die Bücher haben können, wenn es ein anständiges Frühstück gegeben hätte.«

Und als Indrek vom Direktor mit seinen Büchern nach unten kam, fragte Tigapuu:

»Hat der Alte nachgeforscht, wieviel Geld Sie noch haben?«

»Nein«, versetzte Indrek.

»Du flunkerst«, lachte Tigapuu überlegen, als wolle er sagen: wen willst du hier zum besten haben. »Hat er nicht mit eigener Hand deine Barschaft überzählt? Du brauchst mir nichts zu verheimlichen, mich hast du in keiner Weise zu fürchten, manchen anderen vielleicht, aber mich nicht. Wenn du willst, können wir am Nachmittag zu Nömman & Petersen gehen, da findest du ganze Stöße alter Bücher, kannst dir auswählen, was dir gefällt, und alles halb umsonst. Du kannst da auch Bücher verkaufen, wenn du willst. Solche Bücher, wie das von Lible, die werden da freilich nicht gekauft. Nur bessere, viel bessere. Ich werde dir später zeigen, wie sie sein müssen, wenn man sie Nömmann & Petersen verkaufen will. Also am Nachmittag gehen wir dann ein wenig aus, sehen uns die Stadt etwas an, das wird dir zustatten kommen. Also, abgemacht! Hand darauf!«

»Wenn du meinst«, sagte Indrek zögernd.

»Nicht so«, sagte Tigapuu belehrend, »so sagt man hier bei uns nicht, unter Männern, unter Kameraden. Man muß klar sagen: Nein oder ja.«

»Also dann meinetwegen ja«, erklärte Indrek sich einverstanden.

»Ein Mann, ein Wort«, bestätigte Tigapuu, als handle es sich um eine weiß Gott wie wichtige Angelegenheit. »Also wenn die anderen spazierengehen, schlüpfen wir ins Städtchen. Diese gemeinsamen Spaziergänge sind ja namenlos öde und widerlich. Mit all diesen Hosentrompetern mitzutraben, zum Gespött der ganzen Stadt. Das ist so ein Kniff des Alten: immer herdenweise, immer in Massen, damit es auffällt, damit alles stehenbleibt und sagt: Sieh mal, da gehen die Maurusschen. Aber alle lachen nur. Doch wir beide gehen allein. Mit den anderen haben wir nichts zu schaffen.«

»Gut«, erklärte sich Indrek nochmals einverstanden.

»Und vergiß nicht«, fuhr Tigapuu fort, »hat man mal sein Wort gegeben, dann muß man es halten, komme, was da wolle, – so handelt ein Kamerad. Aufs Geratewohl lohnt es sich nicht etwas zu unternehmen. Was hätte es zum Beispiel für einen Sinn, wenn ich uns vom Alten die Erlaubnis besorge und du plötzlich erklärst ›Nein, heute kann ich nicht‹. Was fange ich dann mit der Erlaubnis des Alten an? Oder glaubst du etwa, daß es angenehm ist, mit dem Alten zu tun zu haben? Du sahst ja, was das für ein Trödel war mit den Büchern. Und was war denn schließlich dabei? Einer hatte den anderen übers Ohr gehauen. Weiter nichts. Aber beim Alten ist gleich der Teufel los. Versuch mal, von ihm die Erlaubnis zu kriegen auszugehen. Dann heißt es gleich: Wohin? Auf wie lange? Wozu? Allein? Wer noch? und weiter: Hast du Geld? Wieviel? Von wo hast du das Geld? Wer hat es dir gegeben? Warum? Wann? Zu welchem Zweck? usw. usw., bis du mürbe bist. Darum ist es am schlausten, überhaupt nicht zu piepen, sondern durch die Hintertür zu verschwinden. Und wenn die Hofpforte verschlossen ist, dann von Jürka den Schlüssel nehmen oder über den Zaun. Aber bei dir kann man an so was ja natürlich noch gar nicht denken; daher besorge ich uns schon lieber vom Alten die Erlaubnis. Aber wenn du durchaus willst, dann kannst du ja auch selbst um Erlaubnis fragen, dagegen habe ich nichts einzuwenden, es wäre vielleicht sogar besser.«

»Nein, nein, fragen Sie schon lieber«, sagte Indrek.

»Ist auch vernünftiger«, meinte Tigapuu. »Aber laß doch dieses siezen, denn was für ein Sie bin ich dir noch, wenn ich dir vom Alten die Erlaubnis herausschnorren muß, in die Stadt zu gehen. Das tut nur ein Kamerad. Nicht einmal ein Freund, sondern eben nur ein Kamerad, mit dem du ein Bierchen trinkst oder sonst einen guten Tropfen. Etwas anderes ist es natürlich mit irgendeinem Gelbschnabel aus der ersten oder zweiten Klasse, für den bin ich natürlich Sie. Sie und Herr Tigapuu! Herr Klassenvorsteher! Aber zwischen uns ist ja nur eine Klasse Unterschied. Nur das Lateinische, sieh, wie du damit fertig wirst; darüber ist schon mancher gestolpert.«

Nach dem Mittag besorgte Tigapuu sich einen Stellvertreter für die Aufsicht und sagte ihm:

»Wir müssen mit Paas in die Stadt, der Alte hat befohlen.« Und sie zogen sich ihre Mäntel an und verschwanden, aber durch die Hofpforte, denn Tigapuu meinte, das sei einfacher, errege kein Aufsehen und Neid bei den anderen.

»Vor allem wollen wir hierhin gehen«, sagte Tigapuu, indem er Indrek auf einer an die Peripherie der Stadt führenden Straße mit sich zog.

»Aber hier sind wir doch gestern schon gewesen«, meinte Indrek, der nicht begreifen konnte, warum Tigapuu diesen Weg wählte.

»Was redest du nur von gestern«, sagte Tigapuu, »gestern gingen wir mit den anderen, heute sind wir zu zweien. Heute haben wir Zeit uns umzusehen und alles zu überlegen. Wie breit zum Beispiel dieser Fluß ist. Und wenn du wüßtest, wieviel Menschen hier im Sommer ersaufen! Wie die Fliegen! Einfach schrecklich! Jeden Tag werden welche herausgezogen. Die Leute versuchen, quer über den Fluß zu schwimmen, aber dabei sinken sie unbedingt unter, denn hier kann kein Mensch hinüberschwimmen. Bist du halb hinüber, bist du schon ermattet, bist du drei Viertel der Entfernung geschwommen, hast du sicher einen Krampf, bist du schon ganz nahe am anderen Ufer, trifft dich der Schlag. Ich habe mal selbst solch einen vom Schlag Gerührten aus dem Wasser gezogen, erst dann ging ich zur Polizei. Und wer nicht einem Krampf oder Schlagfluß zum Opfer fällt, der bekommt eins mit einem Ruder auf den Kopf, oder bleibt unter einem Dampfboot. Denn das kann ich dir sagen, Ruderboote finden sich hier in der schönen Jahreszeit wie Sand am Meer. Ja, wenn es noch Sommer wäre, dann würdest du erst sehen, der ganze Fluß voller Ruderboote, und in den Ruderbooten Studenten, massenhaft Studenten, Russen, Deutsche, Polen ... alle in Hemdsärmeln, Bierkörbe neben sich ... zechen und singen. Aber jetzt ist hier nichts los, darum wollen wir lieber hier nach rechts biegen.«

Und damit zog Tigapuu seinen Begleiter in eine kleine Quergasse, aus welcher sie alsbald auf eine längere Straße herauskamen, von welcher sie sich wieder nach rechts wandten, so daß sie sich nach Indreks Meinung nun gerade in derselben Richtung bewegten, aus welcher sie soeben erst gekommen waren. Nachdem sie noch ein paar kleine Haken geschlagen hatten, kamen sie wieder an den Fluß heraus, den hier eine Fähre überquerte.

»Hast du solch ein Ding früher schon gesehen?« fragte Tigapuu mit einem gewissen Stolz. »Das wollte ich dir doch zeigen, über Brücken bist du schon genug gegangen, probier es nun mal auch mit einer Fähre. Zu zahlen brauchst du nicht, das besorge ich schon. Ich habe dich hergebracht, ich bring dich auch hinüber. Sonst meinst du am Ende noch: wozu mußten wir die Fähre benutzen, ebensogut hätten wir doch auch über die Brücke gehen können, wo es nichts kostet. Daher zahl ich den ganzen Ramsch.« Als die Fähre sich schon in Bewegung gesetzt hatte, fragte Tigapuu in sachlichem Tone:

»Ach ja! Wieviel Geld hast du mit? Das muß man wissen. Sonst kann es passieren, daß man in die Handlung kommt, sich ein Buch auswählt und es dann plötzlich nicht reicht. Und das wäre doch sehr peinlich. Denn das mußt du wissen, in der Stadt ist es eine Schande, kein Geld zu haben. Darum, ob du welches hast oder nicht, tu nur immer so, als hättest du welches. Denn in der Stadt heißt es immer nur – zahlen. Bist du schon früher mal in der Stadt gewesen? Nur einmal in der Hauptstadt? Na, dann kennst du den ganzen Rummel schlecht. Denn da gibt es ja keine Studenten. Die gibt es sonst nirgends als nur hier bei uns. Die jagen längs der Ritterstraße auf und nieder, Bierkörbe im Zweispänner, saufen wie die Löcher. Eins sage ich – wenn ich mal Student werde, dann Achtung! Ich werde den Leuten zeigen, was ein richtiger Student ist. Eigentlich hätte ich schon Student sein können, wenn ich nur gewollt hätte, aber ich wollte eben nicht. Denn wenn man die Sache bei Licht betrachtet: was sind die Studenten besser als wir? Nichts besser. Bei uns unterrichten dieselben Professoren, nur andere Bücher haben wir. Was gefällt dir besser, Farbendeckel oder Uniform? Mir der Farbendeckel, Farbendeckel und Kaisermantel! Wenn du in so einem Mantel spazierst, füllst du die halbe Straße. Weißt du, solch ein langer, großer, breiter Mantel, der den Staub aufwirbelt wie ein Weiberrock. Wenn man in solch einem Mantel zum Beispiel hier zur Tür hereintreten wollte« – sie waren vor ein hohes Steinhaus gelangt, dessen Kellergeschoß eine Reihe kleiner Geschäfte beherbergte –, »so würdest du einfach nicht durchkommen, es sei denn, daß du den Mantel auf den Arm nimmst. Solch ein Ding ist so ein Kaisermantel. Hast du so einen gesehen?«

»Ich glaube nicht«, versetzte Indrek.

Sie standen nun vor einer kleinen Speisewirtschaft, deren Schild eine dampfende Suppenterrine, ein Stück Wurst, ein halber Schinken und Brotschnitten zierten. An einem sonderbaren, kaum sichtbaren Tisch saß ein bärtiger Mann und löffelte Suppe in seinen weit aufgesperrten Mund.

»Wollen wir hier doch einen Moment eintreten; ein Bekannter von mir, genau genommen ein guter Freund, pflegt hier häufig zu speisen, vielleicht treffen wir ihn an«, sagte Tigapuu.

Und ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er die enge Treppe ins Kellerlokal hinab, so daß Indrek ihm folgen mußte, ob er wollte oder nicht.

»Morgen, Frau Omama!«

»Nanu, Herr Tigapuu! Wo sind Sie denn so lange gewesen?« erwiderte die Alte.

»Arbeit, Arbeit, immer Arbeit. Sollte mein Freund Eller hier sein?«

»Welcher, der lange oder der kurze?«

»Eher wohl lang als kurz, aß immer Schweinefleisch mit Sauerkraut. Können Sie sich denn seiner nicht mehr entsinnen?«

»Gewiß, gewiß! Ich entsinne mich schon. Aber der hat sich lange nicht mehr blicken lassen.«

»Schade!« seufzte Tigapuu.

»Nun, aber was meinen der junge Herr selbst?« fragte die Alte. »Junges Ferkel, schön knusprig braun gebraten und Sauerkraut. Was? Oder vielleicht Kalb? Mit Vollmilch gesäugt, schmilzt einem direkt im Munde, ein Gelegenheitskauf ...«

»Nicht mein Geschmack«, versetzte Tigapuu.

»Also Ferkel? Zweimal?«

»Einmal wird genügen.«

Dann wandte sich Tigapuu Indrek zu und klagte: »Da hat man es nun, man kommt herein, um einen Freund zu suchen, und anstatt dessen muß man nun essen. Die Alte kann einem ja leid tun, eine Schar Kinder zu ernähren. Sitzt hier in diesem dumpfen Raum hinter ihrer Theke und lauert auf jemand, dem sie ihr Ferkel oder ihr Kalb anschmieren kann, denn sonst verdirbt ja alles. Aber Schweinebraten und Sauerkraut zuzubereiten, das versteht sie wirklich wie keine andere in der ganzen Stadt. Und dabei kostet die Geschichte so gut wie nichts. Namentlich ihren Bekannten. Für fünfzehn, zwanzig Kopeken kannst du dich bis oben vollschlagen. Das ist einfach geschenkt. Da ist es direkt peinlich abzulehnen. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als sich an den Tisch zu setzen und einzuhauen, namentlich wenn du weißt, daß die arme Alte es für ihre Kinder nur zu gut brauchen kann.«

In diesem Augenblick tauchte der Schweinebraten mit Kohl nebst Brot auf.

»Ich wußte nicht recht, ob ich für dich auch was bestellen könnte«, erklärte Tigapuu, während er ohne zu säumen begann, sich Braten und Kohl in den Mund zu schaufeln. »Vielleicht nimmst du auch was. Ein Glas Tee vielleicht. Buttersemmeln gibt es hier, glaube ich, nicht, sonst wäre das am besten. Wenn man drei solche Semmeln intus hat, dann weiß man, was man hat. So kommt man doch einmal zu einem menschenwürdigen Bissen, anstatt dieses elenden Fraßes bei uns, das einem die Gedärme singen macht, du wirst schon sehen. Manchmal des Nachts schreien sie direkt nach einer Buttersemmel oder nach Schweinefleisch mit Kraut. Und du kannst dich einrichten wie du willst, ganz nach Belieben: eine ganze Portion oder eine halbe, eine ganze zwanzig, eine halbe zwölf. Ich nehme immer eine ganze. Du versuch es zuerst mit einer halben. Nur zwölf, einschließlich Brot. Mir ist es peinlich, so allein zu essen, wenn ein anderer mit wäßrigem Munde zusieht.«

Indrek begann tatsächlich der Mund zu wässern, als er sah, mit welchem Appetit Tigapuu schmauste. Aber er erwiderte:

»Nein, ich möchte wohl nichts.«

»Aber ein Glas Tee doch wenigstens, es schickt sich doch nicht, so dazusitzen und nichts zu verzehren. Hast du dich mal gesetzt, mußt du auch was bestellen. Wenn du stehst, ist es etwas anderes. Hier ist es nicht so wie auf dem Lande, im Walde oder auf dem Rasen; hier muß man auch für das Sitzen zahlen, so ist es nun mal in der Stadt Sitte.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, rief Tigapuu, mit vollen Backen kauend, der Wirtin über die Schulter zu: »Einen Tee!«

Und als die Kellnerin den Tee auf den Tisch setzte, sagte er, so daß diese es hören konnte, zu Indrek:

»Ein netter Käfer, nicht? Auf dem Lande kannst du im ganzen Kirchspiel vergeblich nach so einer suchen. Hast du bemerkt, wie sie geht? Wie auf Federn. Die Beine wie gemeißelt. Das tut nichts, daß der Rock darüber ist, man muß verstehen, durch die Röcke zu sehen. Das muß man lernen.«

Und nachdem er sich eine neue Portion in den Mund geschoben hatte, fuhr er fort:

»Na ja, die Kleine ist ja ganz niedlich, aber da solltest du erst unsere Prinzessin sehen.«

»Wer ist denn das?« fragte Indrek.

»Was? Du weißt noch nicht, wer unsere Prinzessin ist! Dann weißt du ja überhaupt noch nichts. Unsere Prinzessin ist die Tochter des Alten. Dieses Jahr zum ersten Male zu Hause. Sitzt hier und wartet auf einen Mann. Aber sie nimmt nur einen Arzt oder einen Advokaten, allenfalls einen Pastor. Mir tut die Arme eigentlich leid. Wenn man bedenkt, daß die Mutter schon starb, als sie noch ganz klein war. Und der Vater? Was ist der Alte für ein Vater? Nun, und da wurde sie schon als kleines Mädchen in eine deutsche Pension gegeben. Unseretwegen, wie das Karussell behauptet, denn in unserer Nähe könne kein anständiges Mädchen leben, meint sie; wir würden sie zugrunde richten, verderben. Weißt du, wer unser Karussell ist?« fragte er, indem er sich den letzten Bissen Fleisch in den Mund schob und Sauerkraut darauf schaufelte. »Die Tante der Prinzessin, die dem Alten den Haushalt führt, für unsern Fraß sorgt und die Prinzessin erzieht. Aber die ist ja nun gottlob erzogen. Spricht nur deutsch – französisch natürlich auch –, nur mit dem Karussell spricht sie bisweilen estnisch, denn ihre feinen Ohren können das Deutsch des Karussells nicht vertragen. Du kannst mit ihr russisch sprechen, wenn sich mal die Gelegenheit bieten sollte, und die wird sich zweifellos bieten, denn unsere Prinzessin liebt sehr zu schwatzen. Mit mir spricht sie immer deutsch, mußt du wissen, denn mich kennt sie und mein Deutsch auch ... So, und nun können wir gehen, trink deinen Tee aus, nur der Wirtin nichts schenken, zahlen muß man ohnehin. Alles zusammen fünfundzwanzig. Eine lächerliche Summe, wenn man es bedenkt. Für zwei Menschen fünfundzwanzig Kopeken, denn nun mußt du für mich zahlen; dem Fährenrussen, diesem Halsabschneider, habe ich für dich bezahlt. So daß wir dann also quitt wären. Außerdem solltest du ja eigentlich heute berappen, wie es sich für einen Neuling gebührt, obgleich Schweinefleisch mit Kraut ja wohl eigentlich nicht das Rechte sind, doch unter Freunden mag es hingehen. Aber wenn ich dir die zwanzig abgebe, dann mußt du natürlich einen richtigen Neulingsschmaus geben, und da wirst du nicht so billig abkommen wie dieses Mal, so daß es für dich eigentlich vorteilhafter wäre, wenn ich dir den Dreck schuldig bliebe. Nicht wahr?« Dann lüftete er seine Mütze und sagte, die Lippen vom fetten Schweinefleisch noch glänzend:

»Guten Tag, Mammi! Wenn der kommt, dann sagen Sie ihm, daß ich hier gewesen bin, ihn suchen.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er breitspurig die Stufen der engen Kellertreppe empor auf die Straße, wo der trübe Herbsttag schon in den Abend überzugehen begann. Aber schon nach wenigen Schritten machte er halt und sagte mit ernster, vertiefter Miene:

»Ich denke eben darüber nach, wohin nun. In die Stadt oder auf den Dom. Aber ich denke, doch lieber auf den Dom. Denn die Stadt wirst du ohnehin noch genug zu sehen kriegen. Aber der Dom, das ist eine andere Sache, da kommt man nicht immer hin ...«

Der Domberg und die Gärten an seinem Hange standen entlaubt da. Die gelben Blätter auf den Wegen raschelten unter den Schritten der beiden Jungen. In der Stadt sah man hier und da die Lichter aufblitzen.

»Jetzt ist hier nichts los«, erklärte Tigapuu, »aber wart nur bis zum Frühling, dann wirst du schon sehen. Blüten, Blüten, alles voller Blüten, und Nachtigallen! Viele Nachtigallen! Sonst erlaubt der Alte uns nie, nachts auszugehen, aber im Frühling sagt er: Geht und hört! Setzt euch auf eine Bank und hört zu, hört aufmerksam zu, und ihr werdet andere Menschen.«

Indrek versuchte sich vorzustellen, wie es hier im Frühling sein könnte, wenn alles blüht und die Nachtigallen schlagen, aber er konnte sich nicht denken, daß es hier sein könnte wie in Wargamäe, wenn der Birkhahn balzt, wenn in der Ferne ein Kranich schreit, wenn die Himmelsziege meckert und tausend andere Vögel und Tiere ihre Stimmen erschallen lassen in der Luft, im Wasser, auf der Erde. Dann kann es keine schönere Stelle auf der Welt geben als Wargamäe, wo die fernen Wälder am Horizont mit dem Blau des Himmels zusammenfließen.

Plötzlich entdeckte Indrek im Dunkeln zwischen den Bäumen etwas Düsteres, Riesengroßes, das ihn durch die entlaubten Bäume anzustarren schien, und er fragte Tigapuu:

»Aber das da, was ist denn das?«

»Ach das, das ist eine alte Kirche, ein Kloster. Nahe heranzugehen lohnt sich nicht, da kann einem noch was auf den Kopf fallen, das ist kein Spaß. Später wirst du schon sehen.«

Indrek wäre gerne stehengeblieben und hätte sich in den Anblick vertieft, denn dieses Düstere, Große schien im Dunkeln zu wachsen und immer düsterer zu werden, je länger man es betrachtete. Aber Tigapuu zog ihn mit sich fort.

Als sie wieder unten in der Stadt angelangt waren, sagte Tigapuu:

»Für die Buchhandlung ist es heute schon zu spät geworden, dahin gehen wir nächstens. Und genau genommen, hat es eigentlich gar keinen Sinn hinzugehen, wir sprechen besser mal bei einem meiner Freunde vor, Känd heißt er, vielleicht hat er noch die Bücher, die er verkaufen wollte. Bei ihm bekommen wir sie sicherlich viel billiger als in irgendeiner Handlung ... Sieh, dies hier ist das andere Ende der Ritterstraße, hier kehren die Studenten mit ihren Bierkörben um. Und nun wollen wir über die Holzbrücke gehen, damit du die auch zu sehen kriegst ...«

»Die habe ich schon gesehen«, sagte Indrek, dem schon der Kopf rauchte.

»Schadet nichts«, versetzte Tigapuu. »Sieh sie dir nochmals an, denn wie sagen doch die Römer: repetitio mater studiorum est. Aber Lateinisch verstehst du ja noch nicht. Aber behalt diese Worte, sie werden dir im Leben zustatten kommen. Und außerdem, wer weiß, wie lange diese Brücke überhaupt noch stehen wird. Vielleicht trägt der Eisgang sie schon im nächsten Frühling davon. Darum sieh sie dir jetzt für alle Fälle ordentlich an.«

Als sie die Brücke betraten, sagte Tigapuu plötzlich:

»übrigens, was ich sagen wollte. Unser Alter ist in letzter Zeit höllisch vergeßlich geworden. Bei alten Leuten kommt das ja oft vor. Was er nicht in sein Buch eingetragen hat, das hat er oft schon nach wenigen Stunden verschwitzt. Und da kann es uns leicht passieren, daß er uns heute überfällt, wenn wir nach Hause kommen, denn vorhin, als ich bei ihm war, hat er sich nichts notiert. Was wirst du ihm sagen, wenn es plötzlich heißt: Wo seid ihr gewesen? Wozu? Wie lange? Wer hat es euch erlaubt? Natürlich wirst du nicht wissen, was zu sagen. Aber hab' nur keine Angst. Tun kann er uns ja doch nichts. Schimpft nur und die Sache ist erledigt. Und die Hauptsache – verlaß dich ganz auf mich. Ich werde dich schon herausreiten. Wenn er fragt: Wo seid ihr gewesen? dann sag: Bücher kaufen. Und wenn er fragt: Wo sind die Bücher, dann antwort: Wir fanden nicht, was wir suchten; morgen sollten die Bücher da sein. – In welchem Geschäft? – Zwischen der Stein- und der Holzbrücke, des Namens kann ich mich nicht entsinnen, Tigapuu nannte ihn mir, aber ich habe ihn vergessen. Aber die Hauptsache bin natürlich immer ich, auf dich kommt es dabei nicht an. Ich und der Alte, wir kennen uns.«


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