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Indrek wollten Madam Waarmanns Worte nicht aus dem Kopf, die sie in ihren Gesprächen immer aufs neue zu widerholen pflegte: »Hundert Rubel monatlich und mit der Mittagspause Feierabend.« Aber als er sich diese Worte immer wieder von allen Seiten überlegt hatte, kam er zu folgendem Schluß:
»Sollte ich mich nicht auf die Hosen setzen und anfangen zu büffeln, den ganzen Sommer über büffeln, nichts weiter tun als büffeln und, sagen wir im Herbst, mein Hauslehrerexamen machen! Könnte ich dann wohl hundert Rubel monatlich verdienen und mit der Mittagspause Feierabend machen? Würde das gehen? Und wenn ja, was werden dann Madam Waarmann und ihre runde Tochter Molli dazu sagen?«
In der Tat, das war das Richtige, das war eine großartige Idee, ein so vorzüglicher Gedanke, daß Indrek sich alsbald daran machte, verschiedene Examensprogramme durchzustudieren, um sich das für seine Zwecke passendste herauszusuchen. Und er wäre sicherlich zu einem Entschluß gelangt und hätte begonnen, diesen Entschluß energisch durchzuführen, wenn sich alsbald nicht neue Schwierigkeiten ergeben hätten. In erster Linie wäre hier eine Einladung zu Waarmanns zu nennen, zu irgendeinem Geburtstage oder sonstigem Gedenktage, das wußte Indrek nicht einmal genau.
Beiläufig bemerkt, hatte sich in der Lebensweise der Familie Waarmann eine Umwälzung begeben, die darauf schließen ließ, daß sich in ihren Verhältnissen eine gewisse Besserung anzubahnen begann. Sie hatten viel mehr Gäste als früher, und Madam Waarmann hatte diesen Gästen immer etwas vorzusetzen – eine Tasse Kaffee oder Tee, ein Stück Gebäck, Zuckerwerk oder gar Schokolade. Und wieviel Lust und Freude herrschte nun in diesen niedrigen, engen Räumen, denn die Gäste waren doch zum größten Teil jung und ausgelassen. Hier verkehrten Näherinnen und Verkäuferinnen, Handelslehrlinge und Handwerker, Bekannte des Sohnes, dann und wann auch ein kleiner Beamter oder Schüler. Ja, manchmal konnte man sich direkt verwundern, wieviel lachende Münder und blitzende Augen dieses düstere Kellergeschoß fassen konnte.
Als Indrek, der Einladung folgend, die Wohnung betrat, wurde in beiden Zimmern schon mit großem Schwung mächtig getanzt, so daß der kreischende Ton der zum Tanze aufspielenden Violine kaum zu hören war. Die warme Luft war dick zum Schneiden, und auch Indrek wurde es bald warm, denn Molli empfing ihn, als stünden ihre Angelegenheiten aufs beste, und sie hätten erst gestern oder vorgestern das letzte Stelldichein gehabt. Das versetzte Indrek in eine so gehobene Stimmung, daß er das dringende Bedürfnis verspürte, seine überströmende Freude mit jemandem zu teilen, denn es war nicht seine Art, die Freude ausschließlich für sich allein zu behalten, sie gewissermaßen für die Zukunft aufzuspeichern. Und so umfaßte er denn die arme, kleine Tiina, die zusammengesunken auf ihrem Bettchen saß und begann sich mit ihr im Tanze zu drehen, denn mit den gesunden Mädchen wollte er nicht tanzen, und Molli allein konnte er doch nicht gut immer wieder auffordern.
»Getanzt muß werden«, sagte er zu der Kleinen, die ihre mageren Ärmchen fest um seinen Hals geschlungen hatte, »anders geht es schon mal nicht. Das tut nichts, daß die Füße den Fußboden nicht richtig berühren. Halt dich nur ordentlich fest. Die Mücken berühren auch nicht mit ihren Füßen den Erdboden und tanzen doch im Sonnenschein, indem sie sich mit den Flügeln in der Luft festhalten. Guck nur nicht zu viel umher, sonst wirst du schwindlig. Auf die Füße kommt es nicht an, die werden niemals schwindlig.«
»Ich werde nie schwindlig«, sagte Tiina.
»Nicht?« fragte Indrek, indem er sich mit dem Kinde mehrfach schnell herumdrehte. »Und nun?«
»Nun doch ein wenig«, versetzte Tiina, »aber es ist wunderschön. Noch ein wenig!«
In diesem Augenblick ließen sich aus dem Vorderzimmer Lärm und erregte Stimmen hören, von denen eine seltsam bekannt anmutete. Indrek eilte mit den übrigen in den Vorraum, wo er mit Herrn Maurus zusammenprallte, der barhaupt dastand, in Schlafrock und Pantoffeln, zwei Mädchen bei den Händen haltend, zwei der Festgäste, die heftig schluchzten. Hinter ihm guckten Tigapuu, Wainukägu und Wutt hervor.
»Da habe ich sie«, rief Herr Maurus triumphierend, »habe ich sie doch glücklich erwischt! Das sind sie, gerade diese!«
Aber im selben Augenblick entdeckte er Indrek unter den Festgästen, ließ die Mädchen fahren und stürmte auf ihn zu.
»Sie Schinder!« schrie er. »Was machen Sie hier? Was ist das für ein Haus? Was ist das für ein Mädchen? Lassen Sie sie los! Lassen Sie sie sofort los!«
Indrek setzte das Kind auf einen Stuhl nieder.
»Wer bist du?« fragte Herr Maurus.
»Ich bin Tiina«, antwortete das Kind.
»Ein höfliches Kind steht auf, wenn es mit einem alten Menschen redet«, belehrte Herr Maurus die Kleine. »Siehst du, ich habe doch einen grauen Bart, graue Haare. Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen.«
»Herr Maurus«, wollte Indrek sich einmischen.
»Nicht stören, wenn Herr Maurus redet«, donnerte der Direktor, um sich dann aufs neue dem Kinde zuzuwenden: »Warum stehst du nicht vor meinem grauen Barte auf?«
Aber nun mischte sich Madam Waarmann ins Gespräch, indem sie sagte:
»Herr Maurus, meine Tochter ist gelähmt.«
»Wer sind Sie? Woher kennen Sie mich?« fragte der Direktor.
»Ach, Herr Maurus, Sie kennen doch alle«, sagte Madam Waarmann so zart und einschmeichelnd, wie sie nur vermochte.
»Natürlich«, versetzte der Direktor, »mich und meinen grauen Bart. Aber was für eine Wirtschaft halten Sie hier? Was für Leute sind das?«
»Herr Maurus!« rief Madam Waarmann gekränkt, »ich halte hier keinerlei Wirtschaft, und dieses sind meine Gäste und durchweg anständige Leute. Und ich bitte Sie, Herr Maurus, meine Gäste nicht zu belästigen, bitte sehr!«
»Sie verderben hier junge Leute«, rief Herr Maurus nun. »Schicken die Mädchen am Abend im Dunkeln an Herrn Maurus' Tür klingeln. Und wissen Sie, was mit meinen Jungen vorgeht, wenn junge Mädchen bei mir klingeln? Ich alter Mann muß am Abend im Dunkeln auf der Straße jungen Mädchen nachjagen, denn das kann ich doch nicht meinen Jungen zumuten. Und in welchem Aufzuge muß ich das machen? Sehen Sie bitte her!«
Herr Maurus schlug die Schöße seines Schlafrocks auseinander, unter denen seine Leibwäsche zum Vorschein kam, und zwar in einem Zustande, der weit mehr sehen ließ, als es sich für Madam Waarmanns Gäste schickte.
»Sehen Sie mal, in diesem Aufzuge muß ich Ihren jungen Mädchen im Dunkeln auf der Straße nachsetzen, denn sie verderben mir meine Jungen mit ihrem Klingeln. Meine Jungen sind anständige, ehrliche Burschen, aber wenn junge Mädchen in einem fort bei ihnen klingeln, was hilft da alle Ehrlichkeit und Anständigkeit! Und darum frage ich: Was ist das für ein Haus hier, und was für ein Frauenzimmer sind Sie, daß Ihre Mädchen an meiner Glocke klingeln? Bevor ich das erfahre, rühre ich mich nicht von der Stelle. Also, antworten Sie, Herr Maurus wartet, Herr Maurus und seine anständigen Jungen.«
Natürlich wurden Herr Maurus und seine anständigen Jungen, die hinter dem Rücken des Alten grinsten, über alles aufgeklärt. Bei Madam Waarmann fand also ein Fest statt, und einige der Mädchen hatten Herrn Maurus' Jungen einen Possen spielen wollen und hatten zu diesem Zweck die Glocke gezogen, um sich dann schleunigst aus dem Staube zu machen. Ein paarmal war dieser Scherz gelungen, ohne daß es sich hatte feststellen lassen, wer geklingelt hatte. Aber dann hatte Herr Maurus sich und seine Jungen auf die Lauer gelegt, so daß sich vor den Mädchen, als sie es nochmals versuchen wollten, die Türe momentan öffnete und die Häscher auf die Straße ließ, die den Übeltätern bis zum Waarmannschen Hause nachsetzten, in dessen Hof sie die Mädchen erwischten.
»Hatte ich nun ein Recht zu fragen, was das für ein Haus ist, ja oder nein?«
»Ja, gewiß, Herr Maurus, das hatten Sie«, erklärte Frau Waarmann sich nun mit dem Direktor einverstanden, »aber wir sind alle durchweg anständige, ordentliche Leute.«
»Nun sehen Sie mal«, rief Herr Maurus triumphierend. »Herr Maurus hat immer recht, Herr Maurus und seine Jungen. Die fangen schon Mädchen nicht anders, als wenn sie klingeln. Aber dann haben sie sie auch gleich am Kragen. Zwei mit einem Male!«
Herr Maurus hob plötzlich die Hand an die Stirn, als wolle er sich auf etwas besinnen. Dann wandte er sich an Indrek und fragte:
»Wo ist dieses Mädchen? Ihr Mädchen?«
Madam Waarmann nahm Tiina auf die Arme, trat vor Herrn Maurus hin und sagte:
»Hier ist mein unglückliches Kind, Herr Maurus.«
»Setzen Sie sie nieder«, befahl Herr Maurus.
»Ihre Beine tragen sie nicht«, versetzte die Mutter.
»Sie sind ein halsstarriges Frauenzimmer. Können Sie denn nicht verstehen, was Herr Maurus sagt? Herr Maurus drückt sich noch einmal klar aus, kurz und klar: Setzen Sie sie nieder. Ist das klar?«
»Gewiß, Herr Maurus«, erwiderte Madam Waarmann, »aber unser Fußboden ist ja ... Herr Maurus sehen ja selbst, welch einen Fußboden arme Leute haben.«
»Dann setzen Sie sie auf einen Stuhl«, befahl Herr Maurus.
Und als das geschehen war, betrachtete und befühlte Herr Maurus die Beine des Mädchens, als sei er Sachverständiger. Dann faßte er das Kind bei beiden Händen und sagte:
»Nun, steh auf, ich helfe dir, Herr Maurus mit seinem grauen Bart wird dir helfen.«
»Ich kann nicht«, versetzte das Mädchen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich zu erheben.
»Du mußt glauben, daß du aufstehen kannst, dann kannst du es auch. Lern glauben, dann wirst du gesund werden«, belehrte Herr Maurus die Kleine zum Gaudium seiner anständigen Jungen.
»Sie versteht noch nicht so zu glauben«, erklärte Madam Waarmann.
»Aber wie gehst du denn?« fragte Herr Maurus.
»Auf Krücken«, sagte das Kind.
»Soso, also auf Krücken. Wo sind sie denn?«
Die Krücken wurden herbeigebracht.
»Zeig mir nun, wie du gehst«, sagte Herr Maurus.
Das Mädchen gehorchte, indem sie einige ungeschickte Sprünge auf den Krücken machte.
»Sehr gut«, sagte Herr Maurus, »wenn der liebe Gott einem Menschen die Beine nimmt, dann gibt er ihm Krücken. Aber ganz ohne bleibt keiner.«
»Wenn ich erwachsen sein werde, dann wird der liebe Gott meine Beine gesund machen, wird seinen Engel schicken, und der wird mich gesund machen, denn sonst bekomme ich keinen Mann«, erklärte Tiina.
»Richtig, sehr richtig«, lobte Herr Maurus, »Gott wird seinen Engel senden und der wird dich verheiraten. Wärst du ein Junge, so würde Herr Maurus dir sagen: ich habe hier in der Nähe eine große Schule mit vielen Jungen, komm du auch dahin, bis Gott dir seinen Engel sendet, komm und lern' Rechnen und Latein. Ich könnte dich dort gut brauchen, denn ich habe da alle möglichen Jungen, aber solche mit Krücken habe ich noch nicht. So würde Herr Maurus zu dir sagen, wenn du ein Junge wärst. Aber du bist ein Mädchen, und Mädchen kann Herr Maurus in seine Schule nicht aufnehmen, die Jungen würden dich überdies auf deinen Krücken umrennen. Warten Sie, warten Sie ...« unterbrach Herr Maurus sich plötzlich und blickte um sich.
»Paas!« rief er dann. »Sie tanzten mit diesem Kinde?«
»Ja, das machte ihr Freude«, sagte Indrek.
Herr Maurus blickte ihm prüfend in die Augen und sagte dann:
»Dann machen Sie ihr weiter Freude, bis Gott seinen Engel sendet, denn Griechisch und Latein kann sie sowieso bei uns nicht lernen.«
Dann wandte er sich zur Tür, um zu gehen, machte dann auf der Schwelle halt und sagte:
»Aber nicht mehr Herrn Maurus' Glocke ziehen, das verdirbt seine ehrlichen, anständigen Jungen, wenn junge Mädchen im Dunkeln klingeln. Und Sie, Paas, wenn Sie genug mit diesem Mädchen mit den Krücken getanzt haben, dann kommen Sie nach Hause, denn die anderen Mädchen haben ja gesunde Beine, die können allein tanzen. Oh, die haben schon gesunde Beine, aber Herrn Maurus' Jungen sind doch noch flinker, die sind viel flinker.«
Und damit ging er zur allgemeinen Freude. Aber diese ganze Geschichte geriet bei ihm nicht so bald in Vergessenheit, denn er war überzeugt davon, daß die Mädchen nicht bloß so zum Spaß gekommen waren, um zu klingeln, daß sie vielmehr mit den Jungen schon von früher her bekannt sein, mit ihnen irgendeine Verabredung getroffen haben müßten, namentlich angesichts des Umstandes, daß er Indrek gewissermaßen auf frischer Tat ertappt hatte. Nur dieses gelähmte Mädchen, das wohl, aber ...
Es war gewiß nur zu verständlich, daß Indrek nun in aller Munde war, denn daß er nur wegen des kranken Kindes in der Waarmannschen Wohnung geweilt hätte, wollte ihm natürlich niemand glauben. Und so gab es der Neckereien und Sticheleien kein Ende, wo doch Indrek ohnedies schon lange den Kopf hängen ließ. Denn die ersehnte Aussprache mit Molli hatte nun tatsächlich stattgefunden. Gerade auch Molli war an dieser Aussprache viel gelegen gewesen, denn für sie lagen die Dinge wesentlich klarer und einfacher als für Indrek. Sie nahm ihn bei der Hand, blickte ihn mit ihren runden Augen an und sagte:
»Vertrauen Sie mir? Vertrauen Sie mir ebenso wie ich Ihnen vertraue? Voll und ganz? Mir will es in der letzten Zeit scheinen, daß Sie das Vertrauen zu mir verloren haben. Und ich weiß auch warum: wegen dieser Äußerung der Mutter – ›hundert Rubel und mit der Mittagspause Feierabend‹. Habe ich nicht recht?«
»Ja, auch deswegen ...« murmelte Indrek.
»Sehen Sie, sehen Sie!« rief das Mädchen. »Und auch noch deshalb, weil wir uns in letzter Zeit nicht mehr so häufig getroffen haben, nicht? Natürlich! Sehen Sie, ich weiß alles. Aber das war nicht meine Schuld, glauben Sie mir. Und auch die Mutter ist daran unschuldig. Das kam vielmehr so, daß die Mutter eine neue Aufwartestelle bekommen hat, Sie wissen ja ...«
»Ich weiß gar nichts«, sagte Indrek, den Kopf schüttelnd.
»Hat die Mutter Ihnen denn nichts erzählt? Und Tiina auch nicht? Sie wissen doch, daß Ihr Russe, Slopaschew oder wie er nun heißt, von Ihnen fortgezogen ist; er kennt Sie übrigens sehr gut und lobt Sie immer. Und von ihm hörte ich auch, daß Sie in der letzten Zeit diesen Woitinski, der kürzlich starb – auf dem Fest, wissen Sie –, in die Badestube begleitet haben.«
»Das habe ich Ihnen ja selbst erzählt«, sagte Indrek.
»Dessen kann ich mich nicht mehr entsinnen«, sagte das Mädchen. »Aber was Herr Slopaschew sagte, das weiß ich. Von ihm hörte ich, was für ein Mann dieser Woitinski eigentlich war, und daß Sie ihn immer in die Badestube begleitet und ihn dort gewaschen und gesäubert haben. Das stimmt doch? Nun sehen Sie. Sie werden sich natürlich wundern, wie Herr Slopaschew dazu gekommen ist, mir das alles zu erzählen. Aber das ist sehr einfach; er gibt mir russischen Unterricht, weil ich Russisch noch nicht ganz gut kann. Und das kam so, daß ich die Mutter als Dolmetscherin begleitete, und dann fing das mit den russischen Stunden an. Ich gehe jeden Abend hin. Nämlich wenn die Mutter mal keine Zeit hatte, dann habe ich sie vertreten. Und dann kamen die Stunden. Und wenn ich erst Russisch gut verstehe, dann kann ich einen Russen heiraten. Meinen Sie nicht? Die Mutter meint es wohl, und auch Herr Slopaschew. Und ich meine das auch. Aber das sage ich Ihnen alles nur darum, damit Sie mir wieder vertrauen, denn Sie wissen nicht, wie ich Sie geliebt habe und immer noch liebe! So habe ich noch niemanden geliebt wie Sie, niemanden, das können Sie mir glauben. Und wissen Sie: da unter dem Apfelbaum – das war ich, die es so einrichtete, daß wir so hinstürzten und Sie auf mich fielen – so liebte ich Sie damals. Und liebe Sie noch jetzt. Ich habe nie einen so guten Menschen gesehen wie Sie. Wenn ich nur an Woitinski denke und an Tiina ... Wie glücklich wird die Frau werden, die Sie einmal heiraten. Aber ich kann nicht Ihre Frau werden. Nicht, daß ich nicht wollte, denn wer wollte nicht die Frau eines guten Menschen werden. Aber es geht einfach nicht. Erstens bin ich ein oder zwei Jahre älter als Sie, und die Frau soll nie älter sein als der Mann, sagt die Mutter, und dann eben darum, weil ich Sie so sehr liebe, denn die Mutter sagt immer: ›Heirate nur nicht einen, den du liebst – das wäre dein Unglück, denn Liebe macht unglücklich. Ich habe das selbst an mir erfahren. Die Männer sterben, wenn sie geliebt werden, sterben wie die Fliegen, darum lern' Russisch‹, sagt sie, ›und nimm einen Russen, denn einen solchen wirst du doch nicht so lieben wie einen Volksgenossen. Das war es, was ich dir sagen wollte, damit zwischen uns alles klar wäre, denn deine Frau kann ich nun mal nicht werden.«
Indrek wurde es schwindlig im Kopfe von diesem Wortschwall. Er hatte vom Hauslehrerexamen sprechen wollen, das er im Herbst zu machen gedachte, und von der Hochschule, durch die er sich durchhungern wollte – gerade durchhungern hatte er sagen wollen –, aber nun verzichtete er darauf. Anstatt dessen sagte er bloß:
»Aber ich habe Sie ja jetzt auch noch gar nicht heiraten wollen, denn ...«
»So sind die Männer!« rief das Mädchen heftig, ohne das Ende seines Satzes abzuwarten, indem es sich erhob. »Ich rede ihm von Liebe, und er erklärt, er wolle mich gar nicht. Wie mit der Schneeschaufel auf den Kopf! ...«
»Aber erlauben Sie mir doch bitte, meinen Satz zu beenden«, bat Indrek.
»Nein, ich will nichts mehr hören!« rief das Mädchen gekränkt. »Die Mutter hat also recht, wenn sie sagt: ›Was spielst du mit dem Jüngelchen herum, der wird dich doch nicht heiraten!‹ So ist es nun schon mal, das Schicksal von uns Frauen. Du liebst und liebst, aber Gegenliebe, das gibt es nicht. Halten Sie jetzt den Mund und hören Sie. Nein, das gibt es nicht! Schon da unter dem Apfelbaum merkte ich, daß es nicht das Richtige war. Hände weg, sage ich. Aber wissen Sie was? Mit der Liebe ist das immer so, wenn sie nicht da ist, dann kommt sie auch nicht. Freundschaft, ja, das ist eine andere Sache. Befreundet kann man auch ohne Liebe sein. Und wir wollen Freunde werden, Freunde für ewig, denn der Mensch ist ewig! Sehen Sie, was ich alles weiß. Das ist aus der russischen Stunde, denn dieser Russe, der redet immer vom ewigen Menschen, wenn die Mutter ihm eine Flasche Bier holt. Also wir wollen Freunde werden. Das wird auch Tiina freuen, denn es erfreut sie immer, wenn Sie kommen. Sie lacht sogar im Schlaf, wissen Sie, schallend kann sie lachen, wenn Sie bei uns gewesen sind, so gern hat sie Sie. Die Arme! Wer könnte die wohl lieben! Wer könnte ein Mädchen ohne Beine lieben, sagt die Mutter, die Männer haben es auf die Beine abgesehen, sie gucken einem wohl in die Augen, aber worauf es eigentlich ankommt, das sind die Beine. So sagt die Mutter. Dann hat die Arme doch wenigstens Ihre Freundschaft, wenn Sie auch weiterhin zu uns kommen. Tiina ist ganz anders als ich, denn sie ist gelähmt. Sie ermahnt mich auch immer, warum ich so oder so bin oder dies oder jenes tue. Mit mir ist sie gar nicht zu vergleichen. Sie glauben mir natürlich nicht, weil Sie mich nicht lieben, aber ich liebe und darum glaube ich.«
Das Mädchen schnurrte wie eine Spindel, und ihre Worte drehten sich immer um dasselbe: Liebe und Vertrauen und die Unmöglichkeit, einen geliebten Mann zu heiraten. Indrek lauschte ihr aufmerksam, aber im Grunde genommen verstand er nicht ein Wort von dem, was sie sagte. Endlich meinte er:
»Mit der Liebe ist es wohl eine merkwürdige Sache. Ich für mein Teil werde nicht aus ihr klug.«
»Nicht wahr!« rief das Mädchen gleichsam erfreut, »aus der Liebe wird man nie recht klug, nicht?«
Aber als Molli dann später mit der Mutter über die Sache sprach, zerbrach diese sich auch nicht einen Augenblick ihren alten Kopf wegen dieses großen Geheimnisses, erklärte vielmehr der Tochter einfach:
»Das tut nichts, daß man nicht aus der Sache klug wird, das Leben bleibt darum nicht stehen, das geht ruhig immer weiter seinen Gang. Und was lohnt es sich überhaupt, sich wegen der Liebe so aufzuregen. Davon gibt es auf der Welt ohnehin so verzweifelt wenig.«
Das war die Ansicht der lebensklugen Madam Waarmann. Aber als Indrek sich später sein Gespräch mit Molli wieder ins Gedächtnis rief, da hatte er die Empfindung, als sei da irgend etwas nicht in Ordnung gewesen, denn es wollte ihm direkt töricht erscheinen, zu philosophieren, während im Herzen das Liebesweh brennt. Und töricht wollte es ihm auch erscheinen, den Fuß wieder über die Schwelle der Waarmannschen Wohnung zu setzen, denn wo so viel über die Liebe geredet wird, da flieht sie. Und doch konnte er nicht der Versuchung widerstehen, den Schauplatz seiner alten Liebe dann und wann wieder aufzusuchen. Das fiel ihm wohl schwer und war ihm peinlich genug, aber er kam doch immer wieder, als suche er auf dem erloschenen Liebesaltar unter der Asche der alten Gefühle nach frischen Funken, gleichsam wie ein unerfahrener Verbrecher, der sich den Tatort seines Verbrechens unter einem inneren Zwange immer und immer wieder aufzusuchen genötigt fühlt.
Einmal fand er die kleine Tiina allein daheim. Die »Arche Noah« war wieder einmal bis obenzu mit allerlei Kram und Lumpen angefüllt, zwischen denen das kranke Kind gelangweilt umherkroch. Als Tiina Indrek erblickte, fiel sie ihm in übergroßer Freude jubelnd um den Hals.
»Wie schön, daß du gekommen bist«, rief sie, »heute sind die anderen nicht daheim. Nun kann ich dir doch einmal alles erzählen. Weißt du: Molli lügt, wenn sie behauptet, dich zu lieben. Sie liebt diesen Russen, da im Hause nebenan, den dicken, weißt du, nicht dich. Dir sagt sie das nur so, wie Mama es sie gelehrt hat, damit, wenn es mit dem Russen nichts wird, du wieder als Notnagel da wärest. Aber eigentlich will sie diesen Russen heiraten, und darum lernt sie Russisch. Eigentlich wollte sie anfangs nicht, meinte, er sei widerlich, dick wie eine Tonne und saufe überdies; aber Mama meinte, das schadet nichts, daß er dick ist, desto fester sitzt er zu Hause, läuft nicht unnütz viel herum, und was ist das überhaupt für ein Mann, der nicht trinkt und raucht. Ein Mann, der nicht raucht und trinkt, der ist böse und paßt streng auf seine Frau auf. Und dieser böse Mann, das bist nämlich du, denn du trinkst und rauchst ja nicht. Aber das kann ich nicht glauben, und wenn ich mal erwachsen bin und meine Beine gesund sind, dann werde ich dich heiraten. Und mir kannst du trauen, denn ich bin nicht wie Molli, die dich belügt. Ich lüge nicht, und wenn ich dir sage, daß ich dich liebe und dich einmal heiraten will, dann ist es auch wirklich so. Und glaub du nur gar nicht, ich sei so dumm, daß ich nicht wüßte, was heiraten heißt. Das weiß ich sehr gut. Ich bin gar nicht so dumm, wie die Mutter und Molli glauben. Heiraten heißt, wenn der Mann Geld verdient und die Frau zu Hause Essen kocht, denn wo sollte der Mann sonst zu essen bekommen, wenn die Frau nicht kocht? Nicht wahr?«
»Sehr richtig«, pflichtete Indrek der Kleinen bei.
»Und der Mann muß Geld verdienen, denn sonst kann die Frau ja nicht für ihn kochen.«
»Ganz richtig«, bestätigte Indrek abermals.
»Und weißt du, was Mama und Molli meinen? Daß du niemals hundert Rubel monatlich verdienen und mit der Mittagspause Feierabend haben wirst, aber der Russe wohl. Und darum liebt Molli nun auch diesen Russen. Aber ich nehme dich auch, wenn du weniger als hundert Rubel monatlich verdienst, Mama hat da nichts dreinzureden. Aber schon zum Mittag Feierabend machen, das müßtest du freilich, denn sonst habe ich es schrecklich langweilig. Und wenn ich groß und gesund bin und einen Mann habe der für mich sorgt, dann will ich nicht mehr so lange allein sein wie jetzt, wo ich noch klein und krank bin.«
»Natürlich«, bekräftigte Indrek.
»Nun siehst du doch selbst, daß ich gar nicht so dumm bin, wie die anderen denken.«
»Du bist ein kluges Mädchen«, lobte Indrek die Kleine, während ihm gleichzeitig im Herzen ein Eisberg anzuschießen schien, der doch brannte wie Feuer.
»Aber Mama und Molli darfst du davon nichts sagen, daß du nun alles weißt«, warnte Tiina, »dann krieg ich gleich mein Teil. Und mich ist es leicht zu erwischen, denn wie sollte ich mich auf meinen Krücken retten. Höchstens unters Bett kann ich kriechen oder hinter den Schrank. Also verplapper dich nicht und komm immer wieder her, als glaubtest du, was Molli erzählt. Aber nun komm nicht ihret-, sondern meinetwegen, denn nun weißt du, was ich tue, wenn ich erwachsen bin. Wirst du kommen?«
»Gewiß doch«, versetzte Indrek. »Ich komme bestimmt.« Aber gleichzeitig war er überzeugt, daß er seinen Fuß nie wieder in diese Kellerwohnung setzen würde. Und doch sollte es anders kommen.